E-Book, Deutsch, 203 Seiten
Osterwald Trübe Wasser
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-95865-376-4
Verlag: 110th
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 203 Seiten
ISBN: 978-3-95865-376-4
Verlag: 110th
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Egbert Osterwald, geboren 1952, studierte Germanistik und Politikwissenschaft. Er ist erfolgreicher Autor zahlreicher Kriminalromane.
Autoren/Hrsg.
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Die Sonne hing als fahle rote Scheibe über dem Horizont. Sie waren spät dran. Später als angenommen Fast zwei Stunden hatte es gedauert, bis sie endlich im Schutz der Nacht den Namen des Schiffes überklebt hatten. Auf dem schwankenden Schlauchboot, durchgeschüttelt von kleinen, kabbeligen Wellen, durchnässt. Es war keine Meisterleistung geworden, die Folie mit den neuen Schriftzügen hatte Knitterfalten und angerissene Buchstaben, auch war steuerbord der Schriftzug ziemlich schief geraten - aber wenigstens hatten sie in zwei Stunden harter Arbeit die Überreste des alten Namens so weit beseitigen können, dass auch ein intensiverer Blick der Nachbarn keine verräterischen Spuren entdecken würde. Mehr als eine Flasche Yachtpolitur war dabei draufgegangen. Nur gut, dass der alte Schriftzug so klein und dezent gewesen war. Jetzt hingegen war ihr Schiffsname groß, Aufsehen erregend, aber wie gewöhnlich war Auffälligkeit vermutlich die beste Tarnung.
Mauna Kea, so hieß ihr Schiff jetzt. Die Südsee lockt.
Mit dem Einsetzen der Morgenbrise erreichten sie die Flensburger Förde. Sie entschlossen sich, das Segel zu setzen, ihr neues selbstverständlich, das alte mit der verräterischen Nummer lag sorgfältig zusammengelegt auf der Koje unten in der Kajüte. Sie würden es entsorgen müssen. Zerkleinert, in unauffälligen Teilen. Morgen oder in den nächsten Tagen. Dann würden alle Spuren beseitigt sein.
Sie stellten den Motor aus. Zum ersten Mal breitete sich Stille aus, aber unter Segel machten sie kaum weniger Fahrt.
Nun dauerte es vielleicht noch eine knappe Stunde, bis sie anlegen würden. Anlegen mit ihrem Schiff. Jetzt, da sie nichts mehr zu tun hatten, spürten sie die Erschöpfung der Nacht.
Angelika fühlte die Nässe in ihrer Kleidung, ewig waren Wellen in das kleine Schlauchboot hineingeschwappt, immer wieder und wieder, sie fror und kauerte sich in den Windschatten neben Andreas. Bloß ankommen. Der Leuchtturm von Kegnaes glitt an ihnen vorbei, die dänische Küste, in der Ferne konnte man Sonderborg erahnen.
»Der Fiesta«, sagte sie unvermittelt. »Der Fiesta muss weg.« Der Gedanke ging ihr nicht aus dem Kopf. Alles war glatt gegangen, nur das nicht
Ein kleiner Frachter kam ihnen entgegen, und Andreas korrigierte den Kurs. »Pannen passieren immer«, meinte er beruhigend. »Aber wir werden heute noch losfahren und ihn holen. Und in sechs Wochen ...«
Er vollendete den Satz nicht. In sechs Wochen waren sie auf und davon. Karsten und Igor, Boris und Mohammed würden dann ihren Schrecken verloren haben. Er hatte sich für heute krankgemeldet, ein freundlicher Arzt hatte ihn wegen Erschöpfungszuständen am Freitag für einige Tage krankgeschrieben; sein Fehlen in der Schule würde keine Fragen aufwerfen. Und wenn ihn doch jemand am Hafen sehen sollte - bestenfalls wäre es nur peinlich. Er hatte keine feste Stelle und würde wohl auch nie eine bekommen. »In einer halben Stunde sind wir da.. Ist unten alles aufgeräumt?«
»Was meinst du? Geschirr abgewaschen?«
»Ach, Quatsch. Die kaputten Schlösser weggeräumt, das alte Segel verstaut, alles Verdächtige eben. Es braucht ja nicht jeder, der zufällig an Bord kommt, gleich etwas mitzukriegen.«
Als er Angelikas erschöpften Gesichtsausdruck bemerkte, fügte er erklärend hinzu: »Wegen der Nummer. Wir haben doch jetzt eine andere Segelnummer. Und die Schlösser müssen verschwinden, ist doch wohl klar. Wir dürfen kein Risiko eingehen. Nicht dass irgendein neugieriger Stegnachbar zum Schluss noch alles vermasselt. Wir haben es doch schon fast geschafft.« Bis auf den Fiesta, dachte er noch, aber das sprach er nicht laut aus.
»Aye, aye, Käpten.« Folgsam ging sie nach unten.
»Schaff den Bolzenschneider und das Werkzeug auch noch weg!«, rief Andreas hinter ihr her. Doch bereits nach kurzer Zeit tauchte sie wieder im Eingang der Kajüte auf. Besonders gründlich schien sie nicht gewesen zu sein. »Schon fertig?«, fragte er, während er aufs Neue einem Küstenmotorschiff auswich. Das war ja hier wie auf der Autobahn. »Komm lieber an Deck. Das gibt gleich ein paar ordentliche Wellen.«
Mit verlangsamten Bewegungen trat Angelika aus dem Dunkel der Kajüte, das Gesicht kreideweiß, die Augen weit geöffnet. »Andreas«, flüsterte sie. »Andreas ...«
So hatte er Angelika nur ein einziges Mal gesehen. Vor vielen Jahren nach einem Verkehrsunfall. Ein Auto hatte ihren Wagen gerammt und sie selbst nur knapp verfehlt. Sie stand unter Schock. Und ohne dass sie ein weiteres Wort gesagt hätte, traf Andreas die Ahnung von etwas Entsetzlichem wie ein Schlag. Schlimmer als ein falsch geparkter Fiesta. »Was ist? Was hast du?«, fragte er unwillkürlich leise zurück.
Angelika schwieg und starrte ihn nur an.
Für einen Moment wurde er durch die Bugwelle des Frachters aus dem Gleichgewicht gebracht. Er torkelte.
Angelika hatte sich im Eingang festgekrallt. Noch immer bekam sie kein Wort heraus.
»Was ist los?«, wiederholte er. »Was - ist - los?«
»Wir haben eine Leiche an Bord«, flüsterte sie.
»Eine Leiche?«
Angelika nickte mechanisch. Unverwandt starrte sie ihn mit leeren Augen an.
Ihm war, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen. Er wusste selbst nicht, warum er so ruhig war. In Krisensituationen wurde man entweder ganz ruhig, oder man drehte durch. Bei Andreas lief ein Automatismus ab. Er schaute nach vorn. Der nächste Frachter würde so bald nicht kommen. Und Segler hatte er noch nicht ausmachen können. Für die nächsten Minuten war nichts zu befürchten. Er schaltete die Steuerungsautomatik ein.
Dann stieg er in die Kajüte. »Wo?«, fragte er nur. Angelika deutete stumm in die vordere Kajüte.
Er drängte sich an ihr vorbei, passierte den Kajüttisch und schaute durch die Tür in die Kajüte. Auf dem Boden lag der halb eingepackte Segelsack und der irreal anmutende Bolzenschneider, sonst war nichts zu sehen. Andreas schaute Angelika fragend an.
»Da ... drin«, sagte sie leise und deutete auf die großen Staufächer unterhalb der Matratzen. Er wuchtete die Matratzen hoch und griff in die Schlaufen der Falltüren.
Er hatte nicht erwartet, dass Angelika ihm etwas vorgemacht oder alles nur geträumt hatte, aber als er hinunterblickte und die zusammengekrümmte Gestalt eines Mannes sah, war ein Albtraum auf einmal Wirklichkeit geworden. In Filmen reagierten die Menschen auf Leichen manchmal sehr seltsam. Frauen schrien hysterisch, vor allem bei Hitchcock, Cary Grant verzog seinen Mund ungläubig oder spöttisch-belustigt, manche machten auch nur einfach ein ernstes Gesicht.
Der erste Gedanke, der ihm kam, betraf die Zeit. Einfach die Zeit anhalten. Zurückspulen. Einen anderen Film einlegen. Oder gar nicht erst anfangen. Die Bettdecke über den Kopf ziehen. Aber dies war kein Film, er konnte nicht einfach aus dem Kino gehen oder den Fernseher ausschalten. Dieser Tote da hatte etwas Endgültiges. Nichts würde wieder so sein wie vorher.
Eine Stunde bis Flensburg. Wenn überhaupt.
Er hielt die schwere Klappe noch in der Hand. Der Gedanke, sie einfach zuzuwerfen, hinauszulaufen, war ihm gar nicht gekommen Als wäre das Grauen nicht mehr wegzusperren.
Nun kam auch Angelika näher. Sie schaute durch die enge Tür über seine Schulter, aber obwohl sie nahe bei ihm stand, berührte sie ihn nicht.
Der Mann mochte vielleicht vierzig Jahre alt sein, er trug Seglerkleidung, Jeans, einen blauen Wollpullover mit Rollkragen. Sein Gesicht war nicht zu erkennen, der Kopf lag, seltsam verdreht, halb unter einem Segelsack. Auffällig war eine große Platzwunde am Hinterkopf. Das Blut war geronnen, rostrot, fast schwarz, dazwischen schimmerte etwas Weißliches. Knochensplitter?
»Was machen wir?«, fragte Angelika. Ihre Stimme klang ruhig, aber in der Tonlage schwang ein Abgrund von Panik mit. Noch konnte sie denken.
»Ich weiß es nicht«, bekannte Andreas. »Aber ich weiß, dass wir in einer Stunde in Flensburg sind. Und bis dahin muss er von Bord sein.«
»Sollen wir zur Polizei gehen?«, flüsterte Angelika. »Wir haben ihn doch nicht umgebracht.« Und bevor er antworten konnte, schrie sie: »Wir sind doch keine Mörder, Andreas, wir sind doch keine Mörder!« Und dann, urplötzlich, fing sie an zu weinen.
Hitchcock, dachte Andreas. Warum dachte er immer nur an Hitchcock? Der Schocker? Die weinende Frau? Musste er nun den coolen Mann spielen, der alles wusste? War das seine Rolle? Jetzt? Ohne Skript. Klappe, die zweite, aber es würde keine Klappe, die zweite geben. Die Zeit lief, sie lief ihnen davon.
»Wir haben eine Yacht geklaut«, erklärte er hart. »Wir haben verdammt noch mal eine Yacht geklaut. Und auch, wenn sie uns alles glauben - warum sollten sie überhaupt? Die können uns Einbruch, Diebstahl, schweren Diebstahl vorwerfen! Wir können uns begraben. Weißt du? Wir können uns begraben. Glaubst du, ich habe mir darüber vorher keine Gedanken gemacht? Laut Strafgesetzbuch kriegen wir fünf Jahre, bei einem guten Anwalt vielleicht vier. Vier Jahre Gefängnis. Willst du das? Und wenn sie uns noch einen Mord anhängen? Wie viel dann? Wo sind mögliche Entlastungszeugen? Und dann sind wir gebrandmarkt. Wir leben nicht toll, denk an unsere Scheißwohnung, unsere Scheißjobs. Aber das Ganze kann im Fahrstuhl noch ganz schön weit runtergehen. Im Keller sind wir noch längst nicht. Glaub...




