E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Paul Mai 1945: Das absurde Ende des »Dritten Reiches«
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-534-61086-0
Verlag: Theiss in Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie und wo die Nazi-Herrschaft wirklich ihr Ende fand
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-534-61086-0
Verlag: Theiss in Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Historiker Gerhard Paul ist in Deutschland der Pate des sogenannten 'Visual Turns' und Vater der Bildgeschichtsschreibung (Visual History). Er hat zahllose grundlegende Werke zur Bildergeschichte des 20. Jahrhunderts geschrieben. Zugleich ist er einer der profiliertesten Kenner der Geschichte des NS-Regimes.
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21. April–02./03. Mai 1945
»Thusnelda« goes »Immenhof«.
Das Phantom »Festung Nord«
Die Akteure: der »Führer«, seine Entourage, ein Großadmiral in einer sauberen dunkelblauen Uniform und ein feldgrau gekleideter Bösewicht * Orte der Handlung: der »Führerbunker« in Berlin, die Idylle der Holsteinischen Schweiz, die Abgeschiedenheit der Flensburger Förde * Besondere Requisiten: Landkarten vom Norden Deutschlands
Großherzogliches Regierungs- und Amtsgerichtsgebäude in Eutin;
Ende April 1945 zeitweiliger Sitz der Regierung des »Dritten Reiches«.
Zeitgenössische Ansichtskarte.
Es ist die Nacht nach Hitlers 56. Geburtstag, der 21. April 1945. Die Lage im Reich ist unübersichtlich. Vor wenigen Tagen haben Engländer das KZ Bergen-Belsen befreit. Die Bilder der menschlichen Skelette, die von Baggern in ein riesiges Massengrab geschoben werden, gehen um die Welt. Vor fünf Tagen hat die Rote Armee die Schlacht um Berlin eröffnet. Amerikanische und sowjetische Soldaten werden sich in wenigen Stunden bei Torgau an der Elbe die Hände reichen und Deutschland damit in zwei Teile, in einen südlichen und einen nördlichen Teil, zerschneiden.
Von »Götterdämmerung« fehlt im Befehlsbunker unter der Reichskanzlei jede Spur. Vielmehr dämmert der Diktator in seinem selbstgewählten Grab dumpf vor sich hin und bedauert nur noch sich selbst. An eine geordnete Regierungstätigkeit ist seit Monaten nicht mehr zu denken. Eine funktionsfähige Zentralgewalt existiert schon lange nicht mehr. Es droht eine schäbige Abschiedsvorstellung zu werden.
Soeben hat der »Führer« die Geburtstagsgratulanten verabschiedet, jene Getreuen, die ihm »Treue bis in den Tod« geschworen haben, sich tatsächlich aber längst innerlich von ihm abgewendet haben. Etliche seiner Mitarbeiter und Kampfgefährten haben sich schon vor Monaten nach Quartieren fernab der Hauptstadt umgeschaut und ihre Familien und ihr Vermögen dorthin in Sicherheit gebracht. Nur der Propagandachef des Diktators verharrt mit seiner Familie nibelungentreu noch im Bunker. Hitler glaubt, von Verrätern umzingelt zu sein. Auch das deutsche Volk habe ihn verraten. Die Bunkercrew versorgt sich derweil mit Munition und Gift, um dem eigenen Leben gegebenenfalls ein schnelles Ende zu bereiten.
Von Ferne sind das dumpfe Grollen von Geschützen und die Einschläge von Granaten zu hören. Der Feind hat sich ein besonderes Geburtstagsgeschenk für den Diktator ausgedacht: den ganzen Tag über attackieren mehr als 1000 Bombenflugzeuge die Hauptstadt.
Nachdem Hitler die Evakuierung seiner Regierung bislang vehement abgelehnt, diese gar als Defätismus betrachtet und damit eine planmäßige und rechtzeitige Vorbereitung auf die Niederlage verhindert hatte, ist er nun bereit, den Weg für deren Abzug freizumachen. Die Führungsstäbe der Ministerien sind aufgefordert, Berlin schnellstmöglich zu verlassen. Seit Monaten haben sie Evakuierungspläne – sowohl in südlicher als auch in nördlicher Richtung – ausgearbeitet, ihre Häuser dementsprechend in Arbeitsstäbe Süd und Nord aufgeteilt und zum Teil bereits – ohne Wissen des Diktators – Ausweichquartiere gesucht, ohne jedoch den entscheidenden Schritt zu wagen, die Hauptstadt zu verlassen. Die erforderlichen Transportkapazitäten, insbesondere Flugzeuge, sind knapp geworden. Die Straßen sind verstopft. Auf Drängen seines Finanzministers, Lutz Graf Schwerin von Krosigk, der Berlin nicht ohne schriftlichen »Führerbefehl« verlassen will, unterschreibt Hitler eine Anweisung, wonach sich die Minister mit ihren Stäben in ein Ausweichquartier in der Holsteinischen Schweiz, nicht unweit von Lübeck, begeben sollen. Wie sich Albert Speer mit Bezugnahme auf den Hamburger Gauleiter später erinnert, habe Hitler dem Befehl den Codenamen »Thusnelda« gegeben.
Thusnelda – das ist die Gemahlin des von Hitler hochverehrten Cheruskerfürsten Arminius: von Hermann dem Cherusker, dem »Befreier Germaniens«, wie ihn Tacitus nennt, jenes Mannes, der den Römern in der Varusschlacht eine empfindliche Niederlage beigebracht hat. Thusneldas Name war im 19. und frühen 20. Jahrhundert populär und mit viel patriotischem Pathos behaftet. Seine Verehrung für die Frau von Arminius hat Hitler dadurch zum Ausdruck gebracht, dass er in seinem gigantischen Arbeitszimmer in der Neuen Reichskanzlei das Gemälde Hermann von Thusnelda gekrönt der schweizerisch-österreichischen Malerin Angelika Kauffmann aus dem Jahr 1786 hat aufhängen lassen. Es zählt zu seinen Lieblingsbildern.
Eher situativ, vom Gegner getrieben und der Not der Situation gehorchend, bildet sich im noch unbesetzten Norden des Reiches – zunächst in der Idylle der Holsteinischen Schweiz, ganz in der Nähe des später zu Filmehren gelangten Gutes Immenhof, anschließend am Ufer der Flensburger Förde – ein neues Machtzentrum des untergehenden Reiches heraus. Großspurig ist die Rede von der »Festung Nord«, die indes weder befestigt ist noch überhaupt gegen den alliierten Ansturm verteidigt werden kann. Die »Festung Nord« ist ein Phantom, ein Fantasieprodukt. Befördert wird das Gerede über sie durch eine Reportage in der Londoner Times vom 30. April 1945 über die Kriegslage in Norddeutschland mit dem Titel »Northern Bastion«.
Von der »Koralle« zur »Forelle«
Während die Evakuierung der Regierung ein hochsymbolischer politischer Akt war, den Hitler so lange hinauszögerte, wie es ging, erschien die Verlagerung von militärischen Kommandostellen als normaler Vorgang in einem Krieg. Ab Mitte April 1945 war Hitler bereit, sowohl die militärischen als auch die zivilen Schaltstellen des Regimes ziehen zu lassen und die Reichshauptstadt als Regierungszentrale aufzugeben. In der Folge zersplitterte sein eh schon weitgehend dezentralisierter Machtapparat in weitere Teile.
Frontverlauf Stand 1. Mai 1945: dunkel markierte Flächen letzte alliierte Geländegewinne.
Als sich, bedingt durch den raschen Vormarsch der Alliierten, die Gefahr einer Spaltung des Reichsgebietes in einen nördlichen und einen südlichen Teil abzuzeichnen begann, ein Entweichen in westlicher Richtung nicht mehr möglich erschien und im Osten die Russen standen, wurde die Errichtung von getrennten militärischen Führungsstäben vorbereitet. Am 11. und 12. April 1945 befahl Hitler in seiner Eigenschaft als Oberbefehlshaber der Wehrmacht die Bildung von jeweils getrennten Außenkommandostellen des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) und des Oberkommandos des Heeres (OKH). Durch »Führerbefehl« vom 15. April wurden für den Fall, dass die Landverbindung in Mitteldeutschland unterbrochen und Hitler in dem jeweiligen betreffenden Raum selbst nicht anwesend sein konnte, für den nördlichen Raum der Oberbefehlshaber der Kriegsmarine (OKM) Großadmiral Karl Dönitz (Gruppe A) und für den südlichen Raum Generalfeldmarschall Albert Kesselring (Gruppe B) zu neuen Oberbefehlshabern bestimmt, wobei die Befugnisse von Dönitz zunächst auf den zivilen Sektor beschränkt blieben.
Die Bildung von jeweils getrennten Außenkommandostellen des OKW und des OKH indes durchkreuzte die Rote Armee, deren Panzerspitzen an Hitlers Geburtstag 18 Kilometer südlich von Zossen auftauchten, jenem Ort im märkischen Sand, wo sich nach ihrem Abstecher nach Ostpreußen seit Jahresbeginn 1945 wieder die obersten Führungsstäbe des OKW und das OKH befanden. Zossen war eine mächtige militärische Bunkerzentrale, in der Tausende von Offizieren, Unteroffizieren, Dolmetschern, Kartenzeichnern, Kraftfahrern, Nachrichtenstäben, Telefonistinnen usw. ihren Dienst versahen.
Noch am 20. April verließ das OKW unter Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel – von seinen Gegnern ob seines arroganten und zugleich devoten Benehmens »LaKeitel« genannt – fluchtartig sein bisheriges Domizil und verlegte seinen Sitz in die Luftschutzschule Wannsee und einige umliegende Villen. Dort teilte sich auch der Wehrmachtsführungsstab. Das Gros ging allerdings nach Süden und eröffnete am 23./24. April bei Berchtesgaden – allerdings ohne Truppen – einen neuen Befehlsstand, genannt »Führungsstab Süd«.
Das Ende des OKW an der Elbe, 20. April bis 3. Mai 1945
Zum »Führungsstab Nord« schlugen sich auf Befehl Hitlers der Chef des OKW und der Chef des Wehrmachtführungsstabes und engster militärischer Berater des Diktators, Generaloberst Alfred Jodl, durch. In Etappen ging es über Rheinsberg, wo man vom 24. bis zum 29. April Quartier machte, über Wismar, Lübeck nach Neustadt in Holstein, wo die Wehrmachtsspitze am 1. Mai eintraf und schon am kommenden Tag weiter in Richtung Flensburg zog. Der Tross hatte sich in eine Armada von Hunderten von Lastwagen, Bussen, Personenkraftwagen und Krafträdern aufgeteilt, um dem Feind kein einfaches Ziel zu bieten. Im allgemeinen Chaos auf den Straßen fielen die Konvois aus Zossen allerdings ohnehin nicht sonderlich auf.
Als Reaktion auf den Vormarsch der Roten Armee und die Einkesselung Berlins erging am 19. April 1945 auch der Befehl zur Verlegung der Führungszentrale des OKM sowie der Hauptfunkstelle des Befehlshabers der U-Boot-Flotte vom Lager »Koralle« nördlich von Berlin in das Ausweichquartier Objekt »Forelle« bei Plön in Ostholstein. Anlässlich seines Besuchs zu Hitlers Geburtstag am...