Platzgumer | Willkommen in meiner Wirklichkeit! | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 120 Seiten

Platzgumer Willkommen in meiner Wirklichkeit!


1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-903184-53-4
Verlag: MILENA
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

E-Book, Deutsch, 120 Seiten

ISBN: 978-3-903184-53-4
Verlag: MILENA
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Um das Leben besser auszuhalten, sucht sich der Mensch Parallelwelten, sie sind Alternativen und oft aufregender oder bequemer. Hans Platzgumer macht uns ein sehr gutes Angebot: Er wagt den Streifzug durch die Gegenwart und erzählt in seinem neuen Buch davon, warum es uns auch gut gehen darf.

"Heute will ich kurz anhalten und nicht nur John Lennon Grüße ins Jenseits schicken, sondern einen Streifzug durch die Wirklichkeit unternehmen, die sich mir offenbart."
So beginnt Hans Platzgumers wunderbar hoffnungsfrohe Betrachtung unserer Zeit. In seinem fünfzigsten Lebensjahr hält der Autor inne und beschreibt das scheinbar Wirkliche, das ihn überall umgibt und stets umgab.
Es herrschen Elend, Hunger, unfassbares Leid, nicht hinnehmbare Ungerechtigkeit. Gegen all dies gilt es sich zu positionieren und nichts unversucht zu lassen, um aus der Welt einen besseren Ort zu machen. Dennoch ist die Welt auch wunderschön. Wer sich für die Verbesserung der Lebensbedingungen einsetzt, muss die Schönheit des Augenblicks erkennen können. Sie liefert die Gewissheit: Das Leben ist lebenswert.

Hans Platzgumers Exkurs wird zu einer ebenso vergnüglichen wie ernsten Mischung aus Essay und Biografie. Eine Zeitreise durch die Realitätswahrnehmung des Menschen.
Es treten auf: John Lennon, Donald Trump, Otto Waalkes, Papst Franziskus, Friedrich Nietzsche, Hatschi Bratschi, eine Indische Kurzschwanzgrille, WALL·E und etliche andere.

The sun is up,
The sky is blue,
It's beautiful,
And so are you.
John Lennon

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Weitere Infos & Material


2VIRTUAL REALITY
Vor etwa 20 Jahren – ich war in der Blüte meiner Manneskraft – musste ich, ich weiß nicht mehr warum, zum Urologen. Ich lebte damals in München und wählte, ohne lang zu überlegen, einen Arzt in der Innenstadt. Es handelte sich um eine gut aussehende Urologin. Im Arztzimmer musste ich die Hosen vor ihr runterlassen. Sie befühlte meinen Hodensack. »Tut das weh?« »Nein.« Ich kämpfte dagegen an, eine Erektion zu bekommen. Mir kam der Ratschlag eines japanischen Freundes in den Sinn, der meinte, in solchen Fällen schnell an seine Mutter zu denken. »An die Mutter denken, und alles geht sofort vorbei«, hatte er gesagt. Ich tat es. Mit Erfolg. Ich stellte mir Mutter vor. Es ist so einfach, sich aus der Wirklichkeit hinauszudenken. Man muss nur achtgeben, jederzeit den Weg zurück finden zu können. Je länger und öfter man sich aus der Wirklichkeit verabschiedet, je mehr es zur Gewohnheit wird, sie loszulassen, desto schwieriger wird es, sie wieder zurückzuerlangen. In jener Situation bei der Urologin war die Realitätsflucht eine gute Sache. Nicht die Ärztin, die meinen Hoden untersuchte, sah ich vor mir, sondern meine Mutter, die mich immer, wenn sie streng mit mir wurde, Johann nannte. »Johann!« Sobald dieser Name erklang, wusste ich, es wurde ernst. Dann sagte ich besser nichts mehr und verkroch mich in mein Zimmer. Dort hatte ich mir aus Plastilin eine täglich wachsende Parallelwelt erbaut, erknetet. Ein knappes Dutzend Plastilinfiguren führten als Popstars mit ihren Frauen, Freunden, Hunden, Fußbällen und Gitarren ein facettenreiches, skandalträchtiges Leben, parallel zu der wirklichen Welt, die mich umgab. In dieser Parallelwelt gab es keinen Johann. Dafür gleich mehrere Johns. Die Band, in der sie spielten, und die frenetisch gefeierte Konzerte in ausverkauften Hallen gab, hieß »The Dicks«. Ich wusste damals nicht, dass das »Die Schwänze« hieß. Ich fand einfach, dass es lässig klang. Der beste echte Freund in meiner Kindheit in Innsbruck war Osi, ein gleichaltriger Junge, der ein Stockwerk über uns wohnte. Sein Zimmer lag genau über meinem, und wir kommunizierten, indem wir zwei Plastikbecher mit einer Schnur verbanden, die von seinem Fenster bis in mein Zimmer reichte. Ein Plastikbecher diente als Sprechrohr, der andere als Ohrmuschel. Man musste die Schnur so fest wie möglich spannen, damit es funktionierte. Meistens aber verstand ich kein Wort von dem, was Osi sagte. Sein Vater war ein türkischer Pianist, Kommunist und Aktivist bei Greenpeace. Meiner war Polizist, Sicherheitsdirektor von Tirol und praktizierender Katholik. Dennoch war Osis Vater unvergleichlich strenger als meiner. Zum Glück war er, wie fast alle Väter damals, die meiste Zeit außer Haus. Dann funkte mich Osi durch das Schnurtelefon an: »Die Luft ist rein!« Und ich rannte sofort die Treppe hoch. In Osis Zimmer hatten wir unter seinem Hochbett ein gigantisches Raumschiff aus Stühlen, Tischen und Decken konstruiert. Unzählige Knöpfe, Hebel, Mikrofone, Bildschirme oder Bullaugen, durch die hindurch wir die Tiefen des Weltalls erforschten, waren auf unserer Kommandobrücke angebracht. Wir drangen in Galaxien vor, die kein Mensch vor uns jemals gesehen hatte. Das Brenzligste waren jeweils die Starts und Landungen, wenn alles wackelte, gedehnt, gepresst wurde, ächzte, knarrte und fast auseinanderbrach. Auch darüber hinaus mussten wir einiges überstehen: Meteoritenhagel, durch die wir zu navigieren hatten, schwarze Löcher, die uns aufzusaugen drohten, Sternexplosionen, die uns praktisch bei lebendigem Leib versengten, und jede Menge unterschiedlicher, gutartiger oder feindseliger, außerirdischer Lebensformen. Sobald ich schreiben konnte, hielt ich eines unserer intergalaktischen Abenteuer in Buchform fest: »Landung auf Wosh-Adan.« Der Text wurde niemals fertiggestellt. Doch ja, ich habe einiges an Erfahrung mit dem Ausstieg aus der Wirklichkeit gesammelt. Ich weiß, wie gut er tut. Als ich ins Gymnasium ging, übersiedelte Osis Familie. Bald verloren wir uns aus den Augen. Nun begann die Zeit, wo die meisten in meinem Umfeld damit anfingen, mit Drogen – vornehmlich Alkohol und Haschisch – Schlupflöcher in die Wirklichkeit zu schlagen. Ich entdeckte die Natur als Zufluchtsort für mich. Lange gab ich mich dem Glauben hin, dass die Natur, die uns umgab, unermesslich groß und der Mensch im Gegensatz unermesslich klein sei. Ich erkannte sie als Freiraum, als Refugium. Als Teenager setzte ich mir die Kopfhörer meines Walkman auf, hörte laute Rockmusik und lief oft nicht durch die Stadt, sondern in die Waldgebiete der Nordkette hinein, wo mich niemand störte. Später reiste ich in die hohe Arktis, an abgelegene neuseeländische Küsten, durchkreuzte den Dschungel Mittelamerikas, bestieg asiatische Vulkane oder wanderte in Steinwüsten herum. Überall spürte ich die Nichtigkeit des menschlichen Daseins und die Macht der Natur. Wie klein ich im Vergleich zu den Gletschern war! Ich drang in menschenleere Gebiete vor, wo mir höchstens eine Felsspalte, eine Vogelspinne oder ein Eisbär den Weg versperrten, und hätte für immer dort verschwunden bleiben können. Ich war der Meinung, der Mensch sei klein und könne im Grunde nichts ausrichten – ein ungemein tröstlicher Gedanke. Doch in den letzten Jahrzehnten verlor ich diese Überzeugung. Der Mensch hat mehr Gewalt über die Erde, als ich dachte. In erschreckend kurzer Zeit dehnt er seine Herrschaftsgebiete aus. Er geht über Leichen. Rückzugsgebiete, wie ich sie kannte, verschwinden unwiderruflich. Noch als »Eine unbequeme Wahrheit« 2006 erschien und den vom Menschen verursachten Klimawandel aufzeigte, waren mir die Ausmaße der Zerstörung unvorstellbar. Innerhalb weniger Jahrzehnte brachten wir den Planeten Erde und seine Atmosphäre zum Kippen. Noch immer gibt es Schönheit in der Welt, aber wir drängen sie von Jahr zu Jahr weiter zurück. Es scheint, als müssten wir vernichten, letztendlich uns selbst, als könnten wir nicht anders. Ein Gespür für die Wirklichkeit und Notwendigkeit der Natur kann nur entwickeln, wer mit ihr in Berührung kommt, wer sich wissentlich ihr ausliefert. Der Mensch kann mit rein theoretischem Wissen kaum etwas anfangen. Sie nennen mir statistische Zahlen, etwa dass jeder einzelne Flugpassagier bei einem Langstreckenflug eine Tonne CO2 in die Atmosphäre pumpt – und ich nehme trotzdem den nächsten Flug nach Boston und nicht das Schiff. Seit den späteren 00er Jahren lebt der Großteil der Weltbevölkerung in Städten. Es gibt Dutzende Mega-Citys dort draußen, deren Namen wir noch nie gehört haben. Wissen Sie, wo Ibadan liegt? Oder Foshan, Hyderabad, Lahore, Wuhan, Ho Chi Minh Stadt? Sie alle sind bei Weitem größer als Berlin oder Paris. Doch auch in Europa, wo es keine Bevölkerungsexplosionen und Riesenstädte wie in Asien oder Afrika gibt, ist die verklärte Idee, »aufs Land zu ziehen«, eine Illusion geworden. Sie bedeutet heute praktisch, »ins Gewerbegebiet zu ziehen«. In meiner Wohnung im Zentrum Wiens ist es ruhiger als an meinem Vorarlberger Wohnsitz, wo nach letzten Verkehrszählungen täglich fast 20 000 Autos über die Straße vor meinem Fenster fahren. In ihrer Kindheit spielte meine Frau auf dieser Straße noch Federball. Seither hat sich der Straßenverkehr vertausendfacht. Über das Berghaus in Tirol, das mein Großvater in den frühen 1970er Jahren auf einem abgelegenen Hochplateau errichtete, flog früher zwei-, dreimal am Tag ein Flugzeug hinweg. Wir lehnten uns aus den Fenstern, um zu sehen, was dort oben in den Lüften diesen Lärm machte. »Wow!«, sagten wir, wenn es so tief flog, dass wir sogar die Turbinen erkennen konnten. Heute überfliegen genau hundertmal so viele Flugzeuge das Haus. Nur nachts ist noch für ein paar Stunden Ruhe. Das ist das Zwischenergebnis eines Systems, das seit Jahrzehnten auf ewiges Wirtschaftswachstum ausgerichtet ist. Zögerlich aber setzt in der Bevölkerung ein Umdenken ein. In Schweden hat sich bereits ein neues Wort inmitten der Gesellschaft etabliert: Flygskam – zu Deutsch »Flugscham«. Zu Tausenden steigen Flugreisende in Schweden und anderswo auf die Bahn um, denn sie wissen, dass keine Form des Transports so schädlich für unsere Umwelt ist wie der Flugverkehr. Sie versuchen den Prognosen entgegenzuwirken, wonach sich die weltweite Luftfahrt in den kommenden 20 Jahren erneut verdoppeln wird. Donald Trump bringt weder Flugscham noch anderen Arten, sich für Umweltvergehen zu schämen, ein Verständnis entgegen. Er hat nie ein Verständnis für die Natur entwickeln können. Er hat ein Gespür für Geld, das ist alles. Der deutsche Astronaut Alexander Gerst hingegen war knapp 200 Tage im Weltall und blickte auf unsere Erde herab. Am 19. Dezember 2018 schickte er von der ISS aus eine Videobotschaft, in der er sich...


Geb. 1969 in Innsbruck, wohnhaft in Bregenz und Wien, wo er als Autor und Komponist tätig ist. Schreibt Romane, Essays, Theatermusiken und Hörspiele. In den 90er-Jahren wurde Hans Platzgumer für einen Grammy nominiert. Seit Beginn der 00er-Jahre verlagerte er den Schwerpunkt seines künstlerischen Schaffens hin zur literarischen Arbeit. 2016 stand sein Roman Am Rand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Zuletzt erschienen: Drei Sekunden Jetzt (Roman, 2018), "Holst Gate" (CD/LP, 2018).



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