Polizzotti | Highway 61 Revisited | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 174 Seiten

Polizzotti Highway 61 Revisited

Bob Dylans Road Album
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-86287-155-1
Verlag: Fuego
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Bob Dylans Road Album

E-Book, Deutsch, 174 Seiten

ISBN: 978-3-86287-155-1
Verlag: Fuego
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Seit 50 Jahren dreht sich nun schon Highway 61 Revisited auf den Plattentellern der Welt, aber Mark Polizzottis Buch zeigt all das auf, was man bisher überhört hat. Mit seinen durchdachten und kompetenten Analysen fasst er das Wissen über das Album zusammen und fügt neue Ideen und Details hinzu. Damit trägt er zu einem tiefen Verständnis darüber bei, wie dieser Meilenstein in der Musikgeschichte entstand. Das Buch bietet eine eigenwillige, fesselnde Einführung und beschert allen Dylan-Fans einige neue Einsichten. Bemerkenswert ist seine Sezierung der musikalischen Schichten eines jeden Songs des Albums und des Beitrags eines jeden Musikers zu den einzelnen Stücken. Aus vielen seiner Beschreibungen von den Entwicklungen der Stücke im Studio gewinnt man ein neues Verständnis von dem, was dort wirklich passierte. Mark Polizottis Stil ist ruhig und einfühlsam, elegant und nie aufgeregt oder marktschreierisch. Man merkt ihm dennoch seine Begeisterung für das Werk an. Ein intelligentes Buch, das einen über die gesamte Lektüre hinweg fesselt.

Mark Polizzotti arbeitet als Leiter des Publikationsprogramms des Metropolitan Museum of Art in New York. Er ist Übersetzer aus dem Französischen ins Englische von u.a. Gustave Flaubert, Patrick Modiano, Marguerite Duras, André Breton, Raymond Roussel, and Jean Echenoz. Buchveröffentlichungen u.a.: 'Revolution of the Mind: The Life of André Breton', New York, 1995, deutsch: 'Revolution des Geistes. Das Leben André Bretons', München 1996; 'Luis Buñuel's Los Olvidados' (British Film Institute, 2006). Er schreibt u.a. für The New Republic, The Wall Street Journal, ARTnews, The Nation, Parnassus, Partisan Review und Bookforum.
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1. Die Sprache, die er sprach


Es ist der wahrscheinlich berühmteste Trommelschlag der gesamten Unterhaltungsmusik. Bobby Greggs Eröffnungs-Knall, der oft mit ballistischen Begriffen wie »Gewehr«- oder »Pistolenschuss« beschrieben wird, war tatsächlich ein Schuss, den die Welt hörte. Bruce Springsteen erinnert sich noch 24 Jahre später daran: »Meine Mutter und ich hörten beim Autofahren WMCA, und dann kam dieser Snare-Schuss, der klang, als hätte jemand die Tür zu deiner Seele aufgetreten.« Greil Marcus stellt in seiner eindringlichen, wenn auch manchmal etwas überinterpretierenden Analyse von »Like a Rolling Stone« fest, dass zwar viele Songs so anfingen – inklusive »Any Time at All« von den Beatles aus dem Vorjahr und »From a Buick 6« von Dylan selbst etwas später auf –, dass aber »auf keiner anderen Platte so viel Aufmerksamkeit auf den Ton oder den Akt selbst gerichtet wird als einer absoluten Ankündigung, dass etwas Neues begonnen habe«.v26 Das mag zwar etwas übertrieben sein, und Al Kooper erinnerte Marcus dann auch daran, dass es für einen Schlagzeuger völlig normal sei, das Anzählen von Eins-Zwei-Drei-Vier mit einem harten Schlag zu beenden. Trotzdem haftet diesem speziellen Schlag etwas besonderes an und verwandelt ihn jenseits seiner Funktion als simpler Taktgeber in etwas Unvergessliches. Irgendwie wurde dieses reguläre Stilmittel zu einer Signatur transformiert: Man erkennt den Song selbst dann, wenn man von »Like a Rolling Stone« nur diese eine Sekunde hört.

Tatsächlich scheint der Trommelschlag so sehr ein Teil des Songs geworden zu sein, dass es den Charakter eines Auftritts verändert, ob er gespielt wird oder nicht. Dylan beendete jedes Konzert seiner Welttournee 1966 mit »Like a Rolling Stone«, und beinahe möchte man meinen, dass man den Grad von Dylans Verbitterung über das Pfeifkonzert, das beim Einsatz seines elektrischen Parts aufbrandete, jeweils daran messen kann, mit wie viel Nachdruck Mickey Jones seine Eröffnungs-Salve spielte: In Edinburgh hallt sie gebieterisch. Im berühmten Abschiedskonzert in der Albert-Hall donnert sie, nachdem Dylan den Song in einer längeren Einführung »dem Taj Mahal« gewidmet hat, mit überwältigender Endgültigkeit. Und in der Free Trade Hall in Manchester zehn Tage vorher ist es definitiv ein wuterfüllter Schlag, der den legendären Wortwechsel (»Judas!« – »Du bist ein LÜGNER!«) zwischen Dylan und dem aufgebrachten Fan Keith Butler beendet, der Dylan dazu brachte, die Band aufzufordern »verflucht laut [zu spielen]«. Bei der Version, die Dylan 1969 auf der Isle of Wight spielte, wurde der Schlag zugunsten eines leiernden Instrumentalvorspiels weggelassen; einer der Gründe, warum dieser Auftritt oft als leblos bezeichnet wurde. (Komischerweise fehlte der Eröffnungsknall auch in der Version, die beim berühmt-berüchtigten Konzert in Newport nur wenige Wochen nach der Aufnahme der Studiofassung und mit vielen Musikern der Originalbesetzung gespielt wurde: aber das Konzert war auch ohne ihn eine klare Ansage.) Unter den zahllosen Coverversionen fällt die der Band dadurch auf, dass sie zwar mit einem ähnlichen Trommelschuss beginnt, dann aber für ein paar Schläge aussetzt, was die gesamte Darbietung mit einer Art »Wir-wissen-dass-Du-weißt«-Schläue erfüllt.

In Wirklichkeit besteht dieser berühmte Trommelschlag allerdings aus zwei Schlägen, nämlich aus dem widerhallenden Schlag einer Snare, dem das beinahe unhörbar zarte Echo einer Basstrommel folgt, wodurch das ganze Ding einen halben Schritt rückwärts geht und dabei noch zusätzlichen Schwung nach vorne gewinnt: gezählt wird nicht EINS-(Pause)-ZWEI, sondern EINS-zwei-. Marcus überinterpretiert es mal wieder ein bisschen, wenn er »den leeren Bruchteil einer Sekunde, der [dem ersten Schlag] folgt« – und der eben nicht leer ist – sowohl mit »einem Haus, das über ein Kliff taumelt« als auch mit dem *10 vergleicht. Dabei entgeht ihm in seinem eigenen Übertreibungsrausch, wie dieser nur gerade eben hörbare zweite Schlag den Einsatz von Gitarre, Klavier, Orgel, Bass und Schlagzeug gleichzeitig anzieht und erleichtert, womit er diesen Song – und die ganze Platte, die ganz wörtlich mit einem Schlag beginnt – anschiebt.

Außerdem ist »Like a Rolling Stone« zweifellos das berühmteste Lied, das aus purer Langeweile heraus geschrieben wurde. Dylan hatte die beiden Monate April und Mai 1965 für seine – wie sich später zeigte: letzte rein akustische – Tour in England verbracht. Die Auftritte selbst wie die Zeit drumherum sind in D.A. Pennebakers Dokumentarfilm festgehalten (der fehlende Apostroph im Titel zeugt von Dylans eigenwilliger Herangehensweise an Zeichensetzung): sie zeigt einen Mann, der einfach nur seine Routinen abspult. Dylan hat seine Sachen und sein Publikum im Griff, aber es fehlt jegliche Spontaneität und größtenteils der Verve. Selbst die scheinbar spontanen Bemerkungen (»Das folgende Stück heißt It’s Alright, Ma, I’m Only Bleeding’ – hahaha« [Gelächter im Publikum]) waren reine Routine. Als er Anfang Juni in die Staaten zurückkehrte, dachte er ernsthaft darüber nach, gar nicht mehr aufzutreten. »Ich war völlig ausgelaugt«, erklärte er mehrere Monate später. »Ich spielte eine Menge Lieder, die ich überhaupt nicht spielen wollte. Ich sang Worte, die ich nicht wirklich singen wollte (…) Es ist sehr ermüdend, wenn einem andere Leute sagen, wie sehr sie dich schätzen, aber du dich selber nicht schätzst.«v27

Die neue musikalische Perspektive, die sich durch »Rolling Stone« eröffnete, änderte seine Meinung. »Ich hätte ernsthaft aufgehört zu singen und zu spielen«, erzählte er Martin Bronstein von der Canadian Broadcasting Corporation, »und dann schrieb ich diesen Song, diese Geschichte, kotzte mich über 20 lange Seiten hinweg aus, und dann nahm ich ›Like a Stone‹ und machte eine Single draus. Ich hatte niemals zuvor etwas Ähnliches geschrieben.« Jules Siegel beschrieb er, wie das »Gekotze« als einfaches Prosagenöle begann: »Es hatte keinen Namen, es war nur rhythmisches Geschreibsel (…)Ich hatte nicht gedacht, dass es ein Liedtext sein könnte, bis ich eines Tages am Klavier saß und es vor mir auf dem Papier in Zeitlupe, in der äußersten noch möglichen Zeitlupe sang: ›How does it feel?‹«v28

Nun sind Dylans Interviews als Informationsquellen chronisch unzuverlässig, stellen sie doch eher Theateraufführungen als Kommunikationsanlässe dar, und möglicherweise ganz besonders jene, die er anlässlich der Veröffentlichung von gab.*11 Aber in Bezug auf »Rolling Stone« gibt es zwei Gefühle, die in seinen Bemerkungen immer wieder auftauchen: zum einen seine Freude über ihn – »der beste Song, den ich je geschrieben habe«, sagte er zu Gleason –, und zum anderen die wiedergewonnene Spontaneität, eine flüchtige, aber aufregende Begegnung mit der Muse. Mit einem Hauch von Bedauern, als spräche er über längst vergangene Zeiten, meinte er 2004: »Es kommt mir vor, als habe ein Geist dieses Lied geschrieben (…) Er gibt einem den Song und geht weg, geht weg. Man weiß nicht, was das bedeutet. Abgesehen davon, dass der Geist mich ausgesucht hat, um dieses Lied zu schreiben.« Im selben Jahr beschrieb er dem Fernsehkommentator Ed Bradley die Songs jener Zeit als Lieder, die von einem »magischen Platz« gekommen wären.v29

Bei »Rolling Stone« scheint die Magie von genau der kreativen Stagnation ausgelöst worden zu sein, die Dylan während der vorangangenen zwei Jahre ergriffen hatte und die auf den Aufnahmen dieser Zeit klar zu hören ist. ’ ist zwar gut gemacht, aber so eisern gedämpft, dass es eher ein Medikament als Unterhaltung zu sein scheint, während bis auf wenige Stellen vor allem gelangweilt klingt. Kein Wunder, dass sich Dylan, als er von seiner rein akustischen England-Tour zurück kam, dazu entschlossen hatte, alles aufzugeben – oder dass die Inspiration zu »Rolling Stone« ein Geschenk des Himmels zu sein schien. Sie mündete in eine Woge der Kreativität, die in der Karriere Dylans – von der anderer Musiker ganz zu schweigen – seinesgleichen sucht: im folgenden halben Jahr entstanden viele jener Lieder, auf denen sein Ruhm noch heute beruht.

Der Text ist eher ungewöhnlich für einen Pop-Hit, der die Charts anführt: er handelt nicht von der Liebe, sondern von ihrem Gegenteil – Dylan erzählte Siegel, dass es »um seinen ständigen Hass ging, der auf einen wahren Kern gerichtet war«, nur um sofort zu ergänzen: »Letzten Endes ging es nicht um Hass, sondern darum, den Leuten was zu sagen, was sie nicht wussten, ihnen zu sagen, dass sie Glück hätten. Rache ist ein besseres Wort dafür (…) Es war wie in Lava zu schwimmen. Man sieht sein Opfer in Lava schwimmen. Wie es an seinen Armen von einer Birke hängt.«v30 Glück in der Lava ist nicht dasselbe wie Glück in der Liebe, aber dieser Gegensatz verträgt sich hervorragend mit dem Geist von »Like a Rolling Stone«, einem Song, dem es gelingt, Sadismus, Mitgefühl und pure wilde Freude in einer 6-minütigen Aufführung reinen Draufgängertums auszubalancieren.

»Es war einmal vor langer Zeit, da hast du dich schick angezogen / in deinen besten Jahren hast du den Pennern nen Groschen hingeschmissen, stimmt’s?« – beinahe jedes Schulkind in den USA kennt heute die berühmten Anfangszeilen. Dadurch beginnt das Album mit dieser magischen, märchenhaften Stimmung, die dann sofort vom Andrang der Binnenreime vorwärts gedrängelt und gehetzt wird und deren schikanierender...



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