Polt / Koelbl Gerhard Polt und auch sonst
1. Auflage, neue Ausgabe 2012
ISBN: 978-3-0369-9174-0
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Im Gespräch mit Herlinde Koelbl
E-Book, Deutsch, 208 Seiten, eBook
ISBN: 978-3-0369-9174-0
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gerhard Polt, geboren 1942 in München, aufgewachsen im Wallfahrtsort Altötting, studierte in Göteborg und München Skandinavistik. Seit 1975 brilliert Polt als Kabarettist, Schauspieler, Poet und Philosoph auf deutschen und internationalen Bühnen. 2001 wurde er mit dem Bayerischen Staatspreis für Literatur ('Jean-Paul-Preis') ausgezeichnet. Polt lebt und schreibt in Schliersee, München und Terracina. Bei Kein & Aber sind zahlreiche Bücher, CDs und DVDs von und mit ihm erschienen, zuletzt die Werkausgaben 'Bibliothek Gerhard Polt' (10 Bände und ein Begleitbuch) und 'Opus Magnum' (9 CDs im Schuber) und das Interviewbuch mit Herlinde Koelbl 'Gerhard Polt und auch sonst'. Herlinde Koelbl zählt zu den renommiertesten deutschen Fotografen. Sie arbeitete für Magazine wie 'Stern', 'Die Zeit' und 'New York Times'. Ihre Bilder wurden in zahlreichen internationalen Ausstellungen in Galerien und Museen gezeigt. Die Künstlerin hat über ein Dutzend Fotobücher publiziert und wurde für ihr Schaffen bereits mehrfach ausgezeichnet. Sie lebt in München.
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ÄLTERWERDEN
Du wirst ja jetzt siebzig, Gerhard. Da werden verstärkt diese Fragen kommen, Herr Polt, …
… wann gehen Sie in Pension? Ja, ja.
Und was denkst du darüber?
Also, die Fragestellung ist unmenschlich. Die ist einfach blöd. Überleg mal, es hätte auf dem Theatersektor keinen Holtzmann und keinen Boysen gegeben, die bestimmte Rollen nur deshalb so gut spielen können, weil sie ein entsprechendes Alter haben. Will man da sagen, wenn einer fünfzig ist, muss er weg vom Theater, oder wie? Bei einem Lufthansa-Piloten sehe ich ein, dass er das physisch irgendwann nicht mehr machen kann. Aber warum ein Schauspieler mit sechzig in Pension gehen soll – oder ein Maler oder ein Fotograf oder ein Schriftsteller – das ist die nackte Dummheit und Unverschämtheit. Da müsste man sagen: Sie, der Sie diese Frage stellen, schade, dass Sie nicht schon in Pension sind und noch die Möglichkeit haben, so einen Blödsinn zu fragen. Ich habe mal zu einem gesagt: Hätte der Picasso mit fünfundfünfzig in Frühpension gehen sollen?
Das ist interessant! Als ich das einmal gefragt wurde, habe ich ebenfalls gesagt: Hätten Sie das Picasso auch gefragt?
Wirklich? Das ist doch ganz klar, dass Menschen weitermachen, solange sie das gesundheitlich können und geistig noch ticken. Wenn der Picasso noch zehn Jahre gelebt hätte, hätte er zehn Jahre weitergemalt. Und er wäre auch nicht am Ziel gewesen, verstehst du, weil das ultimative Ziel gibt es in dem Sinn nicht.
Aber wenn es kein übergeordnetes Ziel gibt, woran orientierst du dich dann? Wo strebst du hin?
Na weißt du, ein Läufer kann sich vornehmen: Ich möchte jetzt unter neun Sekunden laufen. Wenn er dieses Ziel hätte, dann wäre ihm klar, als Läufer kann er ein anderes Ziel nie mehr haben. Das ist bei Menschen, die etwas Ähnliches machen wie ich, ganz anders, weil es das Ziel nicht gibt. Es kommt immer ein nächstes. Wir haben ja den Spruch »Der Weg ist das Ziel«. Du kannst nur versuchen zu sagen: Das, was ich jetzt mache, mache ich möglichst gut und vielleicht wieder anders im Vergleich zu dem, was ich schon gemacht habe.
Und danach zeichnet sich das nächste Ziel ab. So wie sich mit jedem Schritt der Horizont stetig verschiebt. Wie weit blickst du jetzt gerade?
Beruflich? Ich möchte einen Film machen, mit einem Thema, an dem ich schon seit langer Zeit dran bin, zusammen mit einem Freund von mir. Ja, der Horizont … der Horizont ist auch insofern interessant: Wenn ich schaue, dann sehe ich natürlich erst mal, was ich sehen will. Doch auf einmal bemerke ich, dass mich irgendwas irritiert. Und um das, was mich irritiert, sehen zu können, muss ich wieder anders fokussieren. Ich muss wieder zurückgehen und einen anderen Platz einnehmen, um mir die Geschichte, die ich im Kopf habe, noch mal klar zu machen: Was will ich sagen, wem sage ich’s und wie sage ich’s? Das heißt, ich bin in Bewegung, verstehst? Ich bin wie ein Fotograf, der immer schaut: da ist Schatten, jetzt gehe ich noch zwei Meter zurück, jetzt gehe ich wieder vor, um den richtigen Standpunkt zu finden. Und das schafft mir den Horizont. Der Horizont ist also nicht ganz stabil und keine lange Einstellung, sondern das sind kürzere Ausschnitte.
Wo ist dieser Horizont zurzeit?
Weiß ich nicht. Das müsste ich jetzt wieder zu definieren versuchen, und ich definiere ungern. Definieren heißt zu Ende denken, und das ist mir bis heute nicht gelungen. Wenn ich es definiere, habe ich es verendgültigt, und das will ich nicht. Weil ich mir und anderen Leuten immer die Chance geben will, etwas noch mal aufzugreifen.
Und wenn du auf deinen bisherigen Horizont zurückblickst – du hast jetzt siebzig Jahre Horizonte …
Schon, aber ich habe sie nicht parat. Da stellt sich die klassische philosophische Frage: Das, was ich habe, besitze ich das auch? Und manchmal hast du es nur im Moment. So wie beim Wortschatz. Wenn du sprichst, hast du einen aktiven Wortschatz und einen passiven. Und manchmal merkst du überhaupt erst, wozu du fähig bist, wenn du dazu stimuliert wirst, auch beim Sprechen. Ich merke das, wenn ich länger in einer Fremdsprache rede, und auf einmal kommen mir wieder Wörter, die ich schon längst vergraben hatte, dann sind sie da, nur durch die Situation. Manche Schauspieler lernen einen Text, indem sie ihn auswendig lernen. Mir fällt er situativ wieder ein. Sobald ich weiß, wo ich stehe, weiß ich, was ich sagen soll.
Aber zurückschauen kannst du doch jederzeit, auch ohne konkrete erinnernde Situation.
Zurückschauen tust du automatisch, durch den Freundeskreis oder durch bestimmte Begebenheiten, die du jeden Tag hast.
Dann kannst du doch auch sagen, das und das sind jetzt meine Erfahrungen, die mich die Vergangenheit gelehrt hat.
Na ja, so denke ich nicht. Wenn ich daran denken würde oder müsste, wäre ich schon unsicher, verstehst du? Was hat mich das und das gelehrt? Das weiß ich nicht, und es ist mir, ehrlich gesagt, auch ziemlich wurscht. Das Vage, im Grunde dieses »Nichts Genaues weiß man nicht« – das ist ein Lebensgefühl, das mir entspricht, und auf dem baue ich auch.
Trotzdem gewinnt man ja im Laufe der Zeit Erkenntnisse. Kannst du sagen, welche deiner Erkenntnisse dir wichtiger geworden sind?
Sicherlich das Wissen, dass ich das machen kann, was ich machen möchte. Zusammen mit Menschen, mit denen ich ein gutes Verhältnis habe, Ideen zu teilen und sich gegenseitig bereichern. Das ist wunderbar und trägt mich. Wenn es mir vergönnt ist, weiter auf eine Bühne zu gehen, mit diesen Leuten aufzutreten und weiter darstellungswürdige Geschichten zu finden – was ich mit Sicherheit werde – dann ist das für mich wunderbar. Das ist sowohl Trost als auch Beruhigung als auch Aufforderung, sogar fast Verpflichtung. Weil ich mir sage: Warum soll ich das nicht machen? Ich kriege ja auch Briefe von Leuten, die sich freuen. Das ist wie bei einem guten Kaufmann, zu dem die Kunden schon jahrelang kommen und sagen: »Wir freuen uns, dass wir mal wieder bei Ihnen sind, was haben Sie Schönes im Angebot?« Der Kunde möchte etwas haben, was er schon kennt, aber er möchte auch was Neues haben. Also muss ich mir auch was Neues einfallen lassen, um dem Kunden zu entsprechen. Der Kunde verlangt es.
Wenn du zurückschaust und dann in die Gegenwart – welche Vorteile hat das Älterwerden?
Ich weiß nicht, ob es überhaupt einen Vorteil oder Nachteil hat. Ich kann da nichts Prinzipielles sehen, Älterwerden ist einfach ein Prozess, der findet halt statt. Siehst ja, alles wird älter: ein Grashalm, eine Katze, sogar der Kaffee, auch das Bier kann ranzig werden. Das läuft ja für jeden Menschen individuell sehr anders. Manche Leute zwickts und zwackts, und andere zwackts nicht, die haben das Glück, dass sie physisch gesund sind.
Der Joachim Fuchsberger hat sein Buch ja Altwerden ist nichts für Feiglinge genannt …
Pass auf! Altwerden oder Älterwerden, das ist ein Unterschied. Für einen Schauspieler ist das natürlich klar, ein jugendlicher Liebhaber ist er nur eine Zeit lang. Er kann froh sein, wenn er älter wird und ein anderes Gesicht kriegt, dann kann er als irgendein Held wieder auftauchen oder als späterer Liebhaber. Für bestimmte Rollen braucht er eine andere Körperlichkeit oder ein bestimmtes Gesicht – umso besser, wenn er sich das nicht beim Visagisten holen muss, sondern wenn ihm das Leben dieses Gesicht gibt.
Oder natürlich: Er kann bedauern, dass er nicht mehr den jugendlichen Liebhaber geben kann. Wie ist es denn für dich mit dem Älterwerden und dem Altwerden? Du wirst ja nur älter, du bist ja nicht alt.
Na ja, wenn du verschrumpelst, wenn du verknöcherst, zum Fossil wirst – das ist sicherlich kein unbedingt nur erfreulicher Tatbestand. Aber es ist die Frage, mit welcher Gelassenheit du es angehst. Wir hätten wahrscheinlich einen Großteil der griechischen Philosophen nicht, wenn das kein Thema gewesen wäre: Wie gehe ich damit um, älter zu werden, und was bieten mir das Altwerden und das Altsein?
Ja, genau diese Frage stelle ich dir.
Ich lese zurzeit Briefe an Lucilius von Seneca, das sind zwei solche Schwarten. Das gehts unter anderem ums Altwerden. Interessant – vor zweitausend Jahren war das auch ein Thema. Aber ich glaube nicht, dass es endgültig gelöst wurde. Und ich löse es auch nicht, es ist nicht zu lösen. Mit dem Thema Altwerden oder Älterwerden kann man sowohl alt werden als auch alt ausschauen. Es endet, indem du stirbst, dann ist auch das Altwerden vorbei. Was anderes wüsste ich nicht.
Manche Menschen fühlen eine Wehmut im Älterwerden. Man kann das auf zwei Ebenen empfinden: Einerseits ist es ein Abschied, andererseits kannst du Wehmut haben, weil du zu wenig gelebt hast.
Ja, und drum trinken sie auch einen guten Wein. Vorher haben sie einen billigen gesoffen. Das hat natürlich mit den Finanzen zu tun. Also, ich glaube,...