Regener | Neue Vahr Süd | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 2, 592 Seiten

Reihe: Die Lehmann-Trilogie

Regener Neue Vahr Süd

Roman
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-7325-7574-9
Verlag: Eichborn
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Roman

E-Book, Deutsch, Band 2, 592 Seiten

Reihe: Die Lehmann-Trilogie

ISBN: 978-3-7325-7574-9
Verlag: Eichborn
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Wir befinden uns im Jahre 1980 in der Neuen Vahr Süd, einem ganz und gar nicht pittoresken Neubauviertel im Osten von Bremen. Für Frank Lehmann, der gerade seine Lehre beendet hat, noch immer bei seinen Eltern wohnt und irgendwie vergessen hat, den Wehrdienst zu verweigern, wird es ein hartes halbes Jahr. Zwar gelingt ihm nach einem Streit der Auszug aus dem Elternhaus in eine chaotische Wohngemeinschaft, aber ein neues Zuhause hat er damit noch lange nicht gefunden, und die Neue Vahr Süd holt ihn immer wieder ein. Und während Frank - noch immer rätselnd, wie es so weit kommen konnte - in der Kaserne strammstehen, Hemden auf Din A4 falten und durchs Gelände robben muss, streiten seine Freunde für ihre Version der proletarischen Weltrevolution, gegen Militär und Aufrüstung und um die energische Sibille, ohne diese allerdings vorher nach ihrer Meinung gefragt zu haben. Hin- und hergerissen zwischen Auflehnung und Resignation kämpft Frank Lehmann hart am Abgrund und mit allen erlaubten und unerlaubten Mitteln für eine eigene, würdige Existenz zwischen zwei widersprüchlichen Welten. Sven Regener ist ein komischer und zugleich beklemmender Roman gelungen, der uns über den Aufbruch seines Helden in eine verwirrende Zukunft die frühen achtziger Jahre von einer Seite nahebringt, die wir erfolgreich verdrängt zu haben glaubten.

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1. HARRY
Am letzten Tag bevor er zur Bundeswehr musste, war Frank Lehmann in keiner guten Stimmung. Es war der 30. Juni, ein Montag, und er hatte nichts zu tun, es gab nicht einmal irgendwelche Scheinaktivitäten, in die er sich hätte stürzen können, um seine Gedanken von der unausweichlichen Tatsache abzulenken, dass er sich am nächsten Tag in der Niedersachsen-Kaserne in Dörverden/Barme einzufinden hatte, um dort seinen Dienst als Soldat zu beginnen. Das schöne Wetter machte die Sache nicht besser, im Gegenteil, hätte es wenigstens geregnet, dann hätte er vielleicht zu Hause in seinem Zimmer bleiben können, wäre mit einem Buch und einer Tasse Tee auf seinem Bett liegen geblieben und hätte den Tag vergammelt, aber das ging bei schönem Wetter nicht. Genau das impfen sie einem als kleinem Kind schon ein, dachte er, als er am Vormittag in seinem alten Opel Kadett sinnlos durch Bremen fuhr, dass man bei schönem Wetter auf keinen Fall zu Hause bleiben darf, das kriegt man nie wieder raus, dachte er, als er sich ein bisschen am Osterdeich ans Weserufer setzte und darauf wartete, dass ein Bockschiff vorbeikäme, dem er hinterherschauen konnte, dabei ergibt das für jemanden, der zwanzig Jahre alt ist und gerade ausgelernt hat, überhaupt keinen Sinn, bei schönem Wetter draußen herumzuhängen, dachte er, als er wieder im Auto saß und zurück in die Neue Vahr Süd fuhr, einem großen Neubauviertel im Osten von Bremen, wo er noch immer bei seinen Eltern wohnte, und das ist ja auch Quatsch, mit zwanzig noch bei seinen Eltern zu wohnen, dachte er, eigentlich ist das eine Schande, Manni wäre das nie passiert, dachte Frank und merkte wieder einmal, wie sehr ihm sein großer Bruder fehlte, seit der aus Bremen weg nach Berlin gegangen war. Mit Manni hätte er sich jetzt gerne unterhalten, Manni hätte irgendwas gesagt, das einen aufgemuntert hätte, dachte er, als er durch das Einkaufszentrum Berliner Freiheit schlenderte, Manni weiß immer irgendeinen Ausweg, oder jedenfalls sagt er immer etwas, das die Sache in einem anderen Licht darstellt, dachte er, oder er hat irgendeine Idee, obwohl er, was diese Bundeswehrsache betrifft, auch nur Quatschideen im Kopf hatte, dachte Frank, aber ich habe noch nicht einmal das, dachte er, bei mir reicht’s noch nicht einmal für Quatschideen, ich weiß noch nicht einmal, wie alles überhaupt so weit kommen konnte. Irgendwas ist schiefgelaufen, dachte er und setzte sich, des Schlenderns durch das Einkaufszentrum Berliner Freiheit müde geworden, auf eine Mauer mit Blick auf den Vorplatz des Bürgerzentrums, so viel ist mal klar. Da unten war zum Beispiel mal der Minigolfplatz, dachte er fahrig, der ist nun auch weg, und Manni auch, und ich ab morgen irgendwie auch, und so müssen sich Arbeitslose vorkommen, dachte er, ich hätte die Lehre nicht machen sollen, das war schon mal ein Fehler, die hat mich irgendwie rausgehauen, aus der Kurve getragen, dachte er, man verliert seine alten Freunde, wenn man eine Lehre macht, jedenfalls die aus der Schule, dachte Frank, und man gewinnt nicht viele neue dazu, genauer gesagt gar keine, dachte er, letztendlich ist nur Martin Klapp übrig geblieben, und der ist untauglich, außerdem bin ich zu alt für die Bundeswehr, dachte er, und alle anderen haben verweigert und fahren Behinderte, wie Ralf Müller, und der ist auch schon fast fertig damit, und danach studieren sie oder was, dachte er, und ich bin gelernter Speditionskaufmann und wohne noch bei meinen Eltern und muss zum Bund, wer konnte damit rechnen, und wenn man schon wie ein Arbeitsloser hier rumhängt, dann kann man auch gleich in den Vahraonenkeller gehen, dachte er und stieg kurz entschlossen aus der sonnendurchfluteten Berliner Freiheit hinab in den Vahraonenkeller, in dem er früher, als er noch gegenüber auf das Gymnasium an der Kurt-Schumacher-Allee gegangen war, immer seine Freistunden und auch die unentschuldigten und entschuldigten Fehlstunden verbracht hatte, die seiner Schulkarriere schließlich das Genick gebrochen hatten. Wahrscheinlich ein Fehler, hier reinzugehen, dachte er, als er den grottenhaften Raum betrat, in dem nur ein paar Trinker fortgeschrittenen Alters herumsaßen, von ein paar Schülern einmal abgesehen, die – wie um ihm einen Spiegel vorzuhalten – in einer der Sitzbuchten saßen und miteinander schwatzten und lachten, es war damals schon ein Fehler, hier reinzugehen, aber da hat es wenigstens Spaß gemacht, dachte er, heute ist es nur noch falsch. Er setzte sich so weit wie möglich von den Schülern weg an einen leeren Tisch und bestellte eine Tasse Tee. Das ist Quatsch, das hätte man gleich lassen können, das ist jetzt alles Vergangenheit, dachte er, im Vahraonenkeller sitzen und Tee trinken, das bringt nichts, man muss nach vorne schauen, dachte er, aber als er da so saß, in seinem Tee rührte und nach vorne schaute, sah er da nur die Bundeswehr, die in Dörverden/Barme auf ihn wartete, dahinter war gar nichts, er hatte nicht den Hauch einer Ahnung, was er danach machen sollte, außer vielleicht in seinem erlernten Beruf weiterarbeiten, aber das geht ja auch nicht, das ist ja total sinnlos, wenn man so einen Quatsch wie die Bundeswehr durchzieht und dann einfach da wieder weitermacht, wo man vorher aufgehört hat, dachte er. Natürlich hätte ich verweigern sollen, aber wer konnte auch ahnen, dass sie einen jetzt noch einziehen, dachte er, während er hastig seinen Tee trank und sich dabei die Zunge verbrannte, das bringt nichts, hier Tee zu trinken, schnell weg damit, ich muss hier wieder raus, es war ein schlimmer Fehler, hier reinzugehen, dachte er, ich bin Tauglichkeitsstufe drei und werde im Herbst einundzwanzig, das ist doch alles Mist, ich bin ein Idiot, dachte er, und wenn Martin Klapp verweigert hätte, dann hätte er mir vielleicht dabei helfen können, dass ich das auch durchziehe, von Martin Klapp hätte man sich beraten lassen können, nicht aber von Ralf Müller, der hätte es tun können, dachte er, aber wer will sich schon von Ralf Müller helfen lassen, Ralf Müller war schon auf der Schule komisch, er ist Martins Freund, nicht meiner, dachte Frank, das war schon damals so, und das ist schon schlimm genug, von so einem kann man sich nicht helfen lassen, Ralf Müller ist ein Vollidiot, dem will man nichts schuldig sein, dachte er, aber man hätte zu einer Beratungsstelle gehen können, da ist was schiefgelaufen, es ist überhaupt alles schiefgelaufen, dachte er, und dann war der Tee endlich alle, und er konnte wieder nach oben an die frische Luft gehen. Frische Luft, dachte er, das haben sie einem immer erzählt, geh doch mal an die frische Luft, aber was man da eigentlich machen soll, das haben sie einem nie gesagt, dachte er, während er die Treppen hinaufstieg, na ja, dachte er, frische Luft werde ich jedenfalls genug haben bei der Bundeswehr. Dann traf er Harry. Harry kam gerade aus dem Café Heinemann und hielt eine Tüte Pommes mit Mayo in der Hand, als sie zusammenstießen. Frank erkannte ihn sofort, wenn auch zunächst nur an der Stimme, denn als sie zusammenstießen, brüllte Harry: »Pass auf, du Arsch, oder ich reiß dir den Kopf ab!« »Harry«, sagte Frank und versuchte, um die Situation zu entspannen, ein bisschen Freude in seine Stimme zu legen, obwohl es das Letzte war, was er in diesem Moment empfand. Harry, dachte er, ausgerechnet Harry, nach all den Jahren. »Frankie, bist du das?« Harry war einmal sein Freund gewesen, zu Grundschulzeiten, und auch noch am Gymnasium bis etwa zur siebten Klasse, ab da hatten sie sich aus den Augen verloren, weil Harry einen etwas anderen Weg als Frank eingeschlagen hatte. »Harry, lange nicht gesehen«, sagte Frank. Und das ist kein Wunder, dachte er. Das Letzte, was er von Harry gehört hatte, war, dass er wegen schwerer Körperverletzung drangekommen war, das war zwei oder drei Jahre her, irgendjemand hatte es erzählt, eine unangenehme Geschichte im Zusammenhang mit einem Spiel von Werder Bremen gegen den HSV, und Harry sollte, so hieß es, ein Messer benutzt haben. »Mann, jetzt hätte ich fast das Essen fallen lassen«, sagte Harry. »Gut, dass du das bist, sonst hätte ich dir was aufs Maul gehauen.« Er schaute auf seine Tüte Pommes und hielt sie Frank hin. »Auch was?« »Nee, danke«, sagte Frank. »Wie geht’s denn so?«, fragte Harry. »Geht so«, sagte Frank. »Lange nicht mehr gesehen, Harry.« »Ja«, sagte Harry. Es gibt nicht viel zu sagen, dachte Frank, und das ist auch besser so. »Ich wohne nicht mehr hier in der Gegend, ich hab ’ne eigene Wohnung, in der Nähe vom Bahnhof«, sagte Harry. »Das ist gut«, sagte Frank, der nicht wusste, was er sonst sagen sollte. Bei Harry kann jedes Wort das falsche sein, dachte er nervös. »Was machst du denn so«, fragte Harry, »bist du noch auf der Schule?« »Nee, wieso, ich hab ’ne Lehre gemacht«, sagte Frank. »Lehre, das ist gut«, sagte Harry. Er trug spitze Stiefel, Jeans und eine Jeansjacke mit abgeschnittenen Ärmeln. Auf die Jeansjacke waren allerlei Dinge, den SV Werder, die Hölle und die Ehre betreffend, aufgenäht. »Das ist gut«, wiederholte er. »Was mit Autos?« »Wie, mit Autos?« »Na die Lehre, was mit Autos?« »Ach so, nee, wieso?«, sagte Frank, der jetzt nur noch wegwollte. Unter der Jacke trug Harry ein eng anliegendes T-Shirt, und Frank konnte die gewaltigen, mit allerlei Kram tätowierten Muskeln sehen, die sich darunter wölbten. Damit fing alles an, dachte Frank, diese ewige Muskeltrainiererei, diese dauernden Klimmzüge und der ganze Scheiß, dachte Frank, der damals, als Harry damit anfing, gerade das Interesse an Prügeleien endgültig verloren hatte, die Sache war ihm mit fortschreitendem Alter zu brutal geworden, da hatte er sich entschieden, lieber auf den...



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