E-Book, Deutsch, 128 Seiten
ISBN: 978-3-455-38026-2
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
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Warum Bayern nicht
mehr am Mittelmeer liegt
Im zehnten Jahrhundert reichte Bayern bis zur Adria. Die südliche Landesgrenze verlief – mit Ausnahme der Lagunenstadt Venedig, die ihre Selbständigkeit hatte behaupten können – entlang der Mittelmeerküste von Triest bis auf die Höhe der Etschmündung. Der Gardasee lag quasi auf weiß-blauem Territorium, und Aquileia, Vicenza, Verona und Trient waren bayerische Bischofsstädte – bis Heinrich der Zänker, gottlob kein Wittelsbacher, sondern einer ihrer Amtsvorgänger aus dem Geschlecht der Ottonen, infolge seiner enormen Streitlust vom Kaiser abgestraft wurde und alles verlor. Gut achthundert Jahre später, in den Tagen König Max I. Joseph, kamen die Bayern wieder über die Alpen. Im Vertrag von Pressburg war ihnen Tirol zugeschlagen worden, das damals bis weit nach Süden ins heutige Italien ausgriff. Die betroffene Bevölkerung freilich rebellierte. In einigen Gebirgsgegenden mangelte es nicht an Versuchen, sich die Bayern vom Hals zu halten. Als legendär gilt die Heldentat der renitenten Frauen vom »Giggler Tobl«: Mit ihren Kindern lösten sie Steinlawinen aus und hinderten die bayerischen Soldaten auf diese Weise, ihr Tal zu besetzen. Wirklich aufhalten ließ sich der weiß-blaue Vormarsch allerdings nicht. Gemäß der internationalen Abmachungen verlief die südliche Grenze Bayerns nun kurz hinter Riva und Rovereto. Das heißt: Zu Zeiten der Wittelsbacher reichte das Land zwar bedauerlicherweise nicht mehr bis zur Adria, umfasste aber immerhin noch die heute autonomen italienischen Provinzen Trient und Bozen-Südtirol. Allerdings gelang es den Münchner Beamten rasch, südlich des Brenners jegliche Sympathie zu verspielen. Ohne Rücksicht auf Verluste hoben sie in den neuen Landesteilen jahrhundertealte Rechte auf und ordneten Zwangsrekrutierungen an. Außerdem legten sie einen antikirchlichen Furor an den Tag, der den Ideen der Französischen Revolution geschuldet war und zuvor schon in den bayerischen Stammlanden für böses Blut gesorgt hatte. Nun aber wurden auch in den hinzugewonnenen Gebieten Klöster aufgehoben, Kunstschätze eingezogen, Prozessionen und Wallfahrten, das Rosenkranzbeten und sogar die Feier der Christmette untersagt. Als die bayerischen Beamten dann auch noch eine flächendeckende Pockenimpfung durchführen wollten, lief die ansässige Bevölkerung Sturm. Denn sie sah in dieser »Neuerung« endgültig einen unzulässigen Eingriff in die Schöpfungsordnung Gottes. Andreas Hofer wurde zur überragenden Gestalt des Aufstandes gegen die Fremdherrschaft – und kurzerhand zu Mantua standrechtlich erschossen. Freilich, seine Person ist umstritten. Als Antimodernist allerersten Ranges bekämpfte er neben den neuen Landesherren auch jede Form der Freizügigkeit, verbot beispielsweise abendliche Bälle wegen ihrer Liederlichkeit und sorgte dafür, dass die Frauenzimmer keinesfalls zu viel Brust und Armfleisch zeigten, sondern ihre Blößen mit festem Stoff bedeckten statt mit durchsichtigen Hadern, wie es Mode geworden sei. Die Wittelsbacher dachten da weitaus fortschrittlicher. In Norditalien hat man es ihnen freilich nicht gedankt. Alles Bayerische blieb verhasst. Erst mit dem Tourismus ist es gelungen, die alten Fronten aufzubrechen. Heute zählen Südtirol und der Gardasee zu den bevorzugten Urlaubszielen des Homo bavaricus. Dank dieser Entwicklung verstehen die italienischen Kellner an der Uferpromenade von Lazise inzwischen selbst derbere Ausprägungen des weiß-blauen Idioms – wobei sie, zugegebenermaßen, einen gewissen Standortvorteil haben: Lazise unterhält nicht nur eine Städtepartnerschaft mit dem bayerischen Rosenheim. Es trägt auch weiß-blaue Rauten im Wappen. Am liebsten fahren die Bayern freilich nach Österreich. Das liegt zum einen an ihrer Schwäche für Mozartkugeln und Sachertorten, Tafelspitz und Lungenbraten, zum anderen an der engen historischen Verbundenheit der beiden Länder. Selbige beginnt damit, dass Linguisten gern behaupten, einen spezifisch österreichischen Dialekt gäbe es gar nicht. Selbst der gedehnte Wiener Slang – »Küss die Hand, gnä Frau!« – sei nichts anderes als eine Unterart des Mittelbayerischen. Aller Wahrscheinlichkeit nach stammt sogar der Name des Nachbarlandes aus dem Bayerischen. »Ostarrîchi«, wie die ursprüngliche Bezeichnung lautet, ist vermutlich die volkssprachliche Übersetzung des lateinischen Begriffs »Marchia orientalis«. Damit wurden einst die östlichen Landstriche des Herzogtums Bayern bezeichnet. Sie reichten bis an die heutigen Grenzen der Slowakei, Ungarns, Kroatiens und Sloweniens und im Südosten sogar über das heutige Kärnten hinaus. Österreich war ursprünglich also nicht viel mehr als ein Wurmfortsatz Bayerns. Insofern ist es kaum verwunderlich, dass jene Urkunde aus dem Jahr 996, in der »Ostarrîchi« erstmals erwähnt ist, ausgerechnet im Hauptstaatsarchiv zu München aufbewahrt und schon aus Gründen weiß-blauer Eitelkeit nicht mehr herausgerückt wird. Was also wäre Österreich ohne Bayern? Schließlich hätte Wien ohne den legendären Sieg über die Ungarn, der 955 auf einem bayerischen Schlachtfeld errungen wurde, wohl auch nie zu einer Kapitale von welthistorischer Bedeutung aufsteigen können. Und außerdem wäre die Donaumetropole 1683 ohne das Eingreifen des tapferen bayerischen Kurfürsten ganz bestimmt den Türken in die Hände gefallen. Das aber wussten die Bayern schon deshalb zu verhindern, weil sie Jahrhunderte zuvor keine Mühe gescheut hatten, das Christentum in Österreich heimisch zu machen. So ist der Wiener Stephansdom nur deshalb dem heiligen Stephanus geweiht, weil die bayerische Mutterkirche des Bistums Wien, die Kathedrale des Bischofs von Passau, dasselbe Patrozinium trägt. Eines aber muss man den Österreichern lassen: Ohne die vielen heiratsfähigen Töchter aus dem Hause Habsburg wären die Wittelsbacher vermutlich schon vor Jahrhunderten ausgestorben. In diesem Zusammenhang sei nur an die in Wien geborene Kaisertochter Amalie erinnert, die 1722 den weiß-blauen Thronerben ehelichte, epochenbedingt gegen zahlreiche Mätressen anzukämpfen hatte, ihr Leben in München aber dank einer robusten Natur dennoch in vollen Zügen genoss. Der Schlosspark von Nymphenburg verdankt ihr die Amalienburg – und Max III. Joseph, der vermutlich populärste bayerische Kurfürst aller Zeiten, seine Existenz. Außerdem läuft Österreich seinem Nachbarland Bayern dann doch in einem wesentlichen Punkt den Rang ab. So gibt es in der bayerischen Hauptstadt München zwar einen Nord-, einen Ost-, einen Süd- und sogar einen Westfriedhof, leider aber keinen Gottesacker, der je mit der überragenden Bedeutung und Prominenz des Wiener Zentralfriedhofs mithalten könnte. Da ist es tröstlich, dass man in Passau wenigstens einen Heurigen nach Wiener Vorbild findet. Denn dem Heilig-Geist-Spital der Dreiflüssestadt gehören bis heute Weinberge in der Wachau, die ursprünglich im Besitz der Passauer Bischöfe waren – darunter der »Steiner Pfaffenberg«, eine der besten Lagen Europas. Fast möchte man glauben, im Wachauer Weingarten der Passauer Stiftschenke hätten sich schon Ferdinand Raimund, Franz Grillparzer oder Johann Nestroy ihre Schoppen schmecken lassen. Und wer erfährt, dass der heutige Passauer Bischof den Nachnamen »Schraml« trägt, ist in Gedanken ohnehin schon in der österreichischen Donaumetropole. War es doch schließlich das berühmte »Specialitäten Quartett« der Gebrüder Schrammel, das dem Wienerlied zum Durchbruch verholfen hat. Tatsächlich sind sich Bayern und Österreicher in der Ausübung der Gemütlichkeit ziemlich ähnlich. Unterschiede zwischen dem bayerischen und dem österreichischen Wesen sind denn auch kaum feststellbar – vielleicht, weil da wie dort ein Wort des Komponisten Robert Schumann gilt: Ernstere Menschen und Sachen werden hier wenig gesucht und wenig verstanden. Einen Ersatz gibt die schöne Umgebung. Eines will man in Bayern aber trotz aller Verbundenheit mit dem Nachbarvolk richtiggestellt wissen: dass Kaiserin Elisabeth, die legendäre »Sisi«, keine Österreicherin war, sondern eine in München geborene wittelsbachische Prinzessin. Aber wo kämen wir hin, wenn wir jetzt auch noch aufzählen wollten, in welcher Herren Länder der weibliche Nachwuchs des Hauses Wittelsbach verschachert worden ist. Es ist schon verwirrend genug, dem weiteren Verbleib der zweit- und drittgeborenen Söhne nachzuspüren: Könige von Dänemark, Griechenland, Norwegen und Schweden sind sie geworden, Kurfürsten von Köln, Mainz und Trier, Fürstbischöfe von Hildesheim, Lüttich, Münster, Osnabrück und Paderborn – und damit Herrscher über Territorien, deren Sprachen und Dialekte sie zunächst nicht einmal ansatzweise verstanden haben mögen. Übriggeblieben ist von der ganzen Herrlichkeit wenig – unter anderem deshalb, weil sich die Wittelsbacher mit ihrer Hemdsärmeligkeit gegenseitig das Leben schwer machten: Vom Landshuter Erbfolgekrieg, einem Schlagabtausch zwischen der oberbayerischen und der niederbayerisch-pfälzischen Linie, erholten sich die betroffenen Regionen erst drei Generationen später. Und der Dreißigjährige Krieg, der ursprünglich aus einem Konflikt zwischen Maximilian I. von Bayern und seinem Vetter Friedrich V. von der Pfalz, dem »Winterkönig«, erwachsen ist, gilt als eine der größten Katastrophen in der Geschichte Europas. Den Rest besorgte Frau Fortuna, die beherzt in die Familienpolitik der Wittelsbacher eingriff und die Zahl der Nachkommen empfindlich reduzierte. Am Ende waren fast drei Dutzend Linien »im Mannesstamme erloschen«, wie es so schön heißt. Das über Jahrhunderte zusammengetragene Erbe kam auf...