Rein Finale Berlin
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-7317-6066-5
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 760 Seiten
ISBN: 978-3-7317-6066-5
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Heinz Rein, 1906 in Berlin geboren, arbeitete in den 1920er Jahren als Bankangestellter und Sportjournalist. 1933 wurde der politisch links engagierte Autor arbeitslos, die nationalsozialistischen Machthaber legten ihm ein Schreibverbot auf, Rein befand sich zeitweise in Gestapohaft. Nach 1945 war er Literaturreferent in der deutschen Verwaltung der sowjetischen Besatzungszone. Später lebte er als freier Schriftsteller in der DDR. Nach dem Bruch mit der SED in den frühen fünfziger Jahren zog er nach Baden-Baden, wo er 1991 starb.
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Berlin, April 1945
Lissabon, San Franzisko und Tokio wurden in wenigen Minuten durch Erdbeben zerstört, es dauerte mehrere Tage, bis die Feuer von Rom, Chikago und London erloschen waren. Die Brände und Erdbeben, die über jene Stelle der Erdoberfläche herfielen, die den geographischen Schnittpunkt von 52 Grad 30 Minuten nördlicher Breite und 13 Grad 24 Minuten östlicher Länge bildet, haben fast zwei Jahre gedauert. Sie begannen in der klaren, dunklen Nacht des 23. August 1943 und endeten im Regengrau des 2. Mai 1945.
An dieser Stelle, 32 m über dem Meeresspiegel, eingebettet in eine Düne der Eiszeit, lag bis zu jener Nacht, da die Zerstörung ihren unheilvollen Lauf begann, die Stadt Berlin. Sie war vom Fischerdorf zur Burgstadt, zum Sitze der Markgrafen und Kurfürsten von Brandenburg, zur Residenz der Könige von Preußen und zur Hauptstadt des kaiserlichen und republikanischen Deutschen Reiches erhoben worden, sie war entstanden als Folge des Vorstoßes kolonisierender deutscher Stämme in das Siedlungsgebiet der Wenden und Slawen und hatte jahrhundertelang abseits von den Stammgebieten der deutschen Kultur gelegen, war Bollwerk im deutschen Kolonialland, Außenwerk des alten deutschen Westens und Vorposten des neuen deutschen Ostens geworden und erst spät in den Bereich und noch später in den Mittelpunkt der deutschen Geschichte gerückt, sie ist gefügt aus einer Vielzahl von Klein-, Mittel- und Großstädten, von Dörfern, Siedlungen, Gütern und Vorwerken, die zwischen der Havel und der östlichen märkischen Seenplatte verstreut lagen und in Richtung auf die alten Burgstädte Berlin und Kölln zusammengewachsen waren. Der Stichel der Geschichte hat sehr sparsam gearbeitet, der Spuren ihres Aufstiegs und ihrer Wandlungen waren nicht viel, aber sie hatten ihr vieldeutiges Gesicht durch einige edle Züge geläutert, die dem Stadtkern fest eingeprägt waren. Die Spuren ihres Niederganges, der unmittelbar nach ihrer Erhebung zur Reichshauptstadt des Großdeutschen Reiches einsetzte, sind nicht zu zählen. Feuersbrünste, Flächenbrände genannt, und Stahlgewitter, gewebt aus Bombenteppichen, haben das blutvolle Antlitz der Stadt in die Grimasse eines Totenschädels verwandelt.
Am 23. August 1943 empfing die Stadt die erste Wunde, als zwölfhundert Flugzeuge der britischen Luftwaffe zum ersten großen Schlage ausholten. Die südlichen Vororte Lankwitz, Südende und Lichterfelde wurden zu einer rauchgeschwärzten Todesinsel im Meere des Lebens, aber diesmal verschlang das Meer nicht die Insel, sondern die Insel verdrängte das Meer, denn bald war sie nicht mehr allein, überall, in Moabit und in der Friedrichstadt, um Ostkreuz und in Charlottenburg, am Moritzplatz und um den Lustgarten erstanden Todesinseln, sie trieben ihre Ufer immer weiter vor und wuchsen zusammen, bis die ganze Stadt schließlich ein Todesland wurde, mit einigen Wassern, in denen noch Leben war. Jeder Angriff brach ein Stück aus dem Gefüge der Stadt heraus, vernichtete Eigentum und verschlechterte die Lebensbedingungen.
Ganze Stadtteile wurden zertrümmert und verödeten. Ausgedehnte Fabrikgelände, flankiert von erkalteten Essen, wurden eine Wildnis von niedergebrochenen Hallenkonstruktionen und verrosteten Maschinen, Röhren, Stangen, Drähten, Trägereisen, zahlreiche Straßen, in denen aufrechte Fassaden noch wie lebensvolle Häuser die Bürgersteige säumten, wurden zu zynischen Attrappen. Andere Bezirke sind bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt und mit hart keuchendem Leben angefüllt, die Torsos ihrer verunstalteten Häuser erheben sich nackt und häßlich zwischen Ruinenhaufen, sie ragen wie Inseln aus dem Meere der Zerstörung, sie sind gerupft und zerzaust, die Sparren der verwehten Dächer sind wie Rippen, denen das Fell abgezogen wurde, die Fenster sind blind wie Augen, deren Lider ständig heruntergeklappt sind und die nur hin und wieder gläsern blinzeln, die Mauern sind kahl und haben den Putz verloren, wie alternde Frauen, von deren Gesicht ein unbarmherziger Schwamm Rouge und Schminke gewischt hat.
In anderen Stadtteilen ist die Zerstörung nicht so vollständig, in ihre Häuserzeilen hat die Pranke des Krieges zwar gewaltige Lücken geschlagen, sie geben oft einen überraschenden Blick auf Hinterhäuser frei, die dem Schlage entgangen sind und so zum ersten Male in das Blickfeld der Straßen rücken, sie können ihre häßlichen Fassaden nicht mehr hinter dem billigen Prunk der Vorderhäuser verbergen, da der Orkan der Explosionen gewissermaßen den Vorhang gelüftet hat. In diesen Straßen gibt es alle Grade und Spielarten der Zerstörung, von der vollkommenen Vernichtung bis zu den Papp- und Cellonglashäusern, Häuser, deren Dachstühle abgebrannt, und andere, die bis zum ersten Stockwerk von den Bränden verzehrt worden sind, und solche, die der Luftdruck leergefegt und ihnen die Fensterkreuze, Jalousien und Türen aus den Leibern gerissen hat und über denen sich die dürren Skelette der Dachstühle wie Knochen aus Kadavern aufsteilen. Es gibt Wohnungen, die wie Schwalbennester über den weggesprengten Fassaden hängen, weil die Bomben schräg einfielen, und Keller, die dem Drucke der einstürzenden Häuser standhielten, und nur rauchende Ofenrohre zwischen meterhohen Schuttbergen lassen erkennen, daß dort Menschen wie in einem Fuchsbau vegetieren. Die Anatomie der Häuser bietet sich unverhüllt dar, die Aufgänge und Zwischenwände, die Fahrstuhlschächte und Schornsteine sind wie Knochen, die Gas- und Wasserleitungen wie Arterien, die Radiatoren und Badewannen wie Eingeweide. Die Überreste des Lebens siechen inmitten des Ruinendschungels dahin, und nur die Natur beginnt die nackte Zerstörung zu bekleiden, indem sie die Schuttberge mit Unkraut überwuchert.
Das weitverzweigte Netz des Verkehrs, gewebt aus den zahlreichen Linien der Straßenbahnen und Autobusse, der Hoch- und Untergrundbahnen, der Stadt- und Ringbahn, der S- und Vorortbahnen ist zerrissen, notdürftig geflickt, behelfsmäßig hergerichtet, die Fahrpläne wechseln von Tag zu Tag, weil Zerstörungen an Geleisen, Oberleitungen, Stromschienen, Signalkabeln, Tunnels, Viadukten, Brücken und Bahnhöfen zu Einschränkungen, Stillegungen, Umleitungen zwingen.
Die besonderen Züge der Stadt, die Bauten des bürgerlichen Klassizismus, gruppiert um die Spreeinsel und die Schwingachse der Straße Unter den Linden, die Charakteristika ihres Antlitzes, geschaffen von den Meisterhänden Schinkels, Schlüters und Eosanders, Rauchs, Knobelsdorffs und Langhans’, sind ausgelöscht, bevor die Reißbrettarchitektur Speers von ihr Besitz ergreifen konnte, ihre Wahrzeichen sind jetzt die Hochbunker, Akkumulatoren der Angst, Inhalatoren der Flucht, graugrüne Betonklötze mit Flakgeschützen, die, wuchtig wie Übermammuts, den Friedrichshain, den Humboldthain und den Zoologischen Garten zerstampfen, ihre brutal-zweckmäßige Architektur ist durch keinen versöhnlichen Zug gemildert. Ihnen gesellen sich die zahlreichen Tief- und Flachbunker auf den Plätzen und an den Bahnhöfen der Innenstadt, in Siedlungen und Laubenkolonien, und deren primitivste Abart, die Splittergräben, bei, die in Parks, Waldstücken und an den Böschungen der Vorortbahnen in die Erde hineingewühlt sind.
Die Stadt hatte bei Ausbruch des Krieges 4330000 Einwohner, im April 1945 sind es nur noch 2850000. Die Männer sind zum Heeresdienst eingezogen, zur Organisation Todt dienstverpflichtet, zum Volkssturm aufgerufen, mit ihren Betrieben verlagert, die Frauen in die angeblich nicht luftgefährdeten Gebiete geflüchtet, die Alten und Kranken evakuiert, die Jugendlichen zum Arbeitsdienst einberufen, die Schulkinder in den Kinderlandverschickungslagern untergebracht, die Juden abtransportiert. Der Bevölkerungsverlust ist tatsächlich noch weit größer, denn unter den 2850000 Bewohnern der Stadt sind 700000 ausländische Zwangsarbeiter aus den unterworfenen und abhängigen Ländern, Ukrainer, Polen, Rumänen, Griechen, Jugoslawen, Tschechen, Italiener, Franzosen, Belgier, Niederländer, Norweger, Dänen, Ungarn und die arbeitsfähigen Juden und Konzentrationäre aus den Todeslagern des Ostens. Sie sind in Baracken gepfercht, die auf den Ödstrecken zwischen der Stadt und den Vororten, auf Schuttplätzen und in Baulücken, meist längs der Eisenbahnlinien, eilig errichtet und mit Stacheldrahtzäunen umgeben sind. Sie haben eine frappante Ähnlichkeit mit den für die Ausgebombten erstellten Behelfsheimsiedlungen, die grau und trostlos zwischen Waldstücken und Schrebergärten stehen, nur daß hier (wie überall) der Stacheldraht durch das unsichtbare Netz eines bis ins letzte ausgeklügelten Systems der Überwachung und des Zwanges ersetzt ist.
Die Ministerien haben Berlin verlassen, sind ›verlagert‹ oder in ›Ausweichstellen‹ abgerückt, in der Wilhelmstraße werden die Büros abgewrackt, werden Lastzüge Tag und Nacht mit Akten, Schränken und Kisten, aber auch mit Möbeln, Hausrat und Koffern beladen. Die hohe Ministerial- und Parteibürokratie flieht aus der Stadt, nur sogenannte ›Meldeköpfe‹ bleiben zurück, aber auch für sie ist gesorgt und die großzügige ›Transportbewegung Thusnelda‹ mit den Sonderzügen ›Adler‹ und ›Dohle‹ in Lichterfelde-West und Michendorf und zahlreichen Privatautos vorgesehen.
Unter dem Gebrüll der Alarmsirenen schweigen die Musen, nur die Stimmen ihrer jüngeren, illegitimen Schwester ertönen in den wenigen Stunden zwischen Stromsperren und Fliegeralarmen aus Mikrophonen und Tonfilmapparaturen, aber der heldische Baß des Mars wird überkreischt vom hysterischen Diskant einer befohlenen Unbeschwertheit, die kleine Schar der ›Kameraden‹, ›Kolberg‹, ›Spähtrupp Hallgarten‹, ›Schwarzer...