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E-Book, Deutsch, 272 Seiten

Roes Spunk


1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-86300-365-4
Verlag: Albino Verlag, Salzgeber Buchverlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 272 Seiten

ISBN: 978-3-86300-365-4
Verlag: Albino Verlag, Salzgeber Buchverlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



1978/79: Nach seiner Ausbildung zum Dachdecker entflieht Gabriel der gewalttätigen Enge seines rheinischen Elternhauses, indem er – gemäß alter Handwerkertradition – auf Wanderschaft geht. Bewehrt mit Stenz und Charlie, entdeckt er das Land seiner Herkunft in all seiner Schönheit und Zerrissenheit. Sein treuer Begleiter: ein Wanderbuch, dem er nicht nur seine Stationen und Bekanntschaften, sondern auch seine tiefsten Gedanken anvertraut. Sie drehen sich um Freiheit, Sexualität, Gesellschaft, Familie und die Macht der Worte. Als Gabriel in West-Berlin strandet und in einer Kreuzberger Hausbesetzer-WG den Punk Pille kennenlernt, erfährt er zum ersten Mal in seinem Leben das Gefühl inniger Freundschaft. Oder ist es Liebe? Für ein paar Wochen scheint es, als wäre er angekommen. Doch die Walz ist noch nicht vorbei – und die Suche nach einer eigenen Sprache gerade erst am Anfang …

Nur wenigen Schreibenden gelingt es so eindrücklich, Epochen, Orte und Kulturen mit den Mitteln der Sprache zu vermessen wie Michael Roes. Sein neues Buch, das er ironisch als »Heimatroman« bezeichnet, ist eine literarische Walz von Wertherbruch in NRW bis nach Taizé in Frankreich. Mit jedem Kilometer, den sich der Ich-Erzähler weiter von "Vaddern" und "Muddern" entfernt, werden seine Gedanken spielerischer und seine Lust, die Grenzen der eigenen Herkunft zu sprengen, größer. So skizziert der Text nicht nur eine geografische Reise, sondern auch ein Entkommen aus dem tristen Schweigen der westdeutschen Vorwende-Provinz in die gelöste Rhetorik eines freien Geistes. Am Wegesrand: die Alpen, das Meer und eben jener lebensverändernde Abstecher in die vergangene Parallelwelt der Aussteiger-Insel West-Berlin, deren anarchistischem Geist "Spunk" ein Denkmal setzt.

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SCHNOTTERBELLE
Einen besseren Ort gibt es nicht. Als den auf der Straße. Unterwegs. Und kein besseres Alter als achtzehn Jahre. Nur, was das bedeutet, mich drei Jahre lang nicht mehr zu Hause blicken lassen zu dürfen, das kann ich mir noch nicht richtig vorstellen. Egal. Erst mal weg. Sollen sie mich übers Ortsschild werfen. Vor dem 4. Juli 1981 wird mich hier in Wertherbruch kein Schwein mehr zu Gesicht bekommen. Hallo, Welt, ich komme! Altgeselle Manfred und der neue Lehrling, Edgar, bringen mich noch bis zur Rheder Chaussee. Zu Edgar weiß ich nicht viel zu sagen, er ist erst seit einem halben Jahr bei Vadder in der Lehre, ein Schmachtfetzen, ein Spangerlangerhansel, und nicht ganz schwindelfrei, was ihn natürlich gerade für den Beruf eines Dachdeckers qualifiziert. Wenn er es bei Vadder aushält, wird er bei meiner Rückkehr wohl selbst Geselle sein. Manfred hingegen war immer da. Er ist ein wenig älter als Vadder und hat nie in einem anderen Betrieb gearbeitet. Er ist wohl entfernt mit uns verwandt, wie genau, hat mir aber keiner gesagt. Doch ich hab auch nicht wirklich nachgebohrt. Was ihm an Grütze fehlt, macht er durch Freundlichkeit wett. Er ist wahrscheinlich der einzige Mensch, der trotz aller Schikanen und Sticheleien, die er tagtäglich im Betrieb über sich ergehen lassen muß, Vadder wirklich mag. Zumindest habe ich ihn nie ein schlechtes Wort über Vadder verlieren hören. Anstatt mir, wie es sich eigentlich gehört, mit seinem Zimmermannshammer einen Nagel durchs linke Ohrläppchen zu jagen (links cool, rechts schwul), ist er vor meiner Fremdschreibung mit mir zum Juwelier Junghans in der Osterstraße gelatscht und hat es dort schießen lassen und den goldenen Ring aus eigener Tasche geblecht. Nur die Taschenuhr ist von Vadder, ein altes Erbstück. Sie geht jeden Tag genau zweieinhalb Minuten nach. Sonst hätte er sie mir vielleicht gar nicht mitgegeben. Bin mir nicht mal sicher, ob er selbst überhaupt je auf der Walz war, nach dem Krieg und so. Nie erzählt Vadder etwas über sich. Und ihn nach irgendwas zu fragen, wagt nicht mal Klaus, der einzige, der überhaupt mal das Maul gegenüber dem Alten aufkriegt. Aber Klaus hat sich ja schon vor einigen Jahren verdrückt, zur Polizei, wo man sich schon Sechzehnjährige vorknöpft, um sie zu richtigen Bullen zu kneten. Nur an jedem zweiten Wochenende ist er noch in Wertherbruch, ansonsten haust er in seiner Kaserne in Selm-Bork. Ist Klaus da, reißt Vadder sich ein bißchen zusammen, weil er inzwischen wohl Schiß vor seinem Ältesten hat. Doch ohne Klaus ist er so unberechenbar wie eh und je. Mechthild ist die nächste, die ein Au-pair-Jahr in der Schweiz nutzt, um abzuhauen und sich hinterm Matterhorn zu verkriechen. Ich bin natürlich wieder mal der letzte, der geht. Ob Vadder wirklich glaubt, daß ich in dieses Kuhkaff zurückkomme? Eigentlich hätte Klaus ja den Betrieb übernehmen sollen, ich hatte doch angeblich immer zwei linke Hände und allenfalls zum Friseur getaugt. Aber nachdem Klaus diesen eleganten Ausweg zu den Schupos gefunden hat, läßt Vadder mir keine Wahl, ich muß nach der Mittleren Reife von der Schule ab und bei ihm meine Lehre anfangen. Mittlere Reife, ein Begriff aus einer Zeit, wo man vielleicht wirklich noch fürs Leben gepaukt hat. Ich war gut genug, um aufs Gymnasium zu wechseln und auch noch die höhere Reife zu erreichen. Aber das kam gar nicht in Frage, die Jugend hält sich auch ohne Abitur schon für klüger als die eigenen Eltern, diese Überheblichkeit muß man ihr beizeiten austreiben. Gibt es denn etwas Ehrbareres als das solide Handwerk? Man schaue sich doch nur mal dieses langmähnige und filzbärtige Studentenpack an, das man jeden Abend in den Nachrichten zu sehen kriegt! Statt in den Hörsälen treiben sie sich auf der Straße rum, brüllen Revoluzzerparolen und prügeln sich mit der Polente, und diese Typen sollen später mal unsere Kinder unterrichten oder auf der Richterbank sitzen? Eigentlich sollte ich doch froh sein, mich endlich fremd zu machen. Aber es ist doch eher eine traurige Chose, dieser Aufbruch mit Manfred und Edgar im Troß, wo doch eigentlich eine ganze Gesellenschar mich bis zum Ortsschild und darüber hinaus begleiten sollte. Wie sollen diese beiden trübsinnigen Schlackse mich auffangen? Also verzichte ich darauf, über das Schild zu klettern und in ihre schmächtigen Arme zu hopsen und belasse es bei einer linkischen Umarmung und einem knappen Tschüß, wir sehen uns in drei Jahren wieder! Manfreds Schnotterbelle hängt mir noch eine Weile am Kinn, und ich laß sie da erst mal hängen. Eigentlich ein ziemlich schönes Wort für ein so unappetitliches Erzeugnis, aber es gehört zu Manfred wie seine unerschütterliche Freundlichkeit. Schnotterbelle, klingt doch irgendwie nach zarter Elfe oder arglosem Schmetterling, ist aber nur ein ekliger Rotzfaden: He hätt de Schnotterbelle bes up’t daarde Spunkloch hangen. Manchmal schimpft man auch uns freche Bengel so (Rotznasen). Hat also wohl auch mit schnoddrig zu tun: rotzig, lässig, herausfordernd, mit oder ohne geputzten Zinken. Das mögen die Erwachsenen eben nicht, daß man den Rotzfaden da einfach hängen läßt. Neben der sanften Schnotterbelle gibt es in den unergründlichen Nasenhöhlen auch noch den groben, ungehobelten Popel. Aber in unserer Sippschaft sprechen wir nicht von Popeln, sondern vom Bumang, den es nur in der Einzahl gibt. Es muß ein reines Familienwort sein, da ich es außerhalb unserer vier Wände noch nie gehört hab. Der salzige und ein wenig dreckige Geschmack kann einen glatt süchtig machen. Eklig sind immer nur die Popel der anderen. Falls man doch mal bei dieser Leidenschaft erwischt wird, entsorgt man das klebrige Ding unter der nächsten Tischplatte oder Sessellehne oder schnippt es irgendwo in die Botanik. Ach, was haben wir gegrölt und uns auf die Schenkel geklopft, als Monsieur Hulot in Trafic an einer roten Ampel steht und nichts anderes zu tun hat, als seinen Mitwartenden beim Popeln zuzuschauen. Vom Arbeiter in seiner Ente bis zum Abgeordneten auf der Rückbank seiner Limousine glauben sich alle offenbar unbeobachtet und geben sich ganz schamlos dieser Unart hin. Selbst Vadder, dem Oberpopler unserer Mischpoke, der nun selbst im Politbüro der SBZ jeden Preis in Humorlosigkeit gewinnen würde, laufen die Lachtränen über die stoppeligen Wangen. Als er merkt, wie lächerlich er sich gerade macht, springt er aus dem Sessel, murmelt: Was für eine Volksverdummung! und schaltet die Glotze aus. Niemand wagt, sich zu beschweren, und Mudder ist die erste, die sich in die Küche verzieht. Mudder ist übrigens die einzige, die ein Taschentuch benutzt, um sich die Nase zu putzen. Vielleicht hat das mit ihrer protestantischen Erziehung zu tun, vielleicht hat sie auch nur die Familienpopel an allen unmöglichen Stellen satt. Diese Anständigkeit paßt nicht so recht ins katholische Milieu von Wertherbruch. Und ich brauche ziemlich lange, bis mir klar wird, was das für sie bedeutet, als Protestantin auf diesen katholischen Misthaufen verfrachtet worden zu sein. Aber Klaus war bereits unterwegs, wie wir neugierige Gören schon früh aus dem Vergleich von Geburts- und Heiratsdaten herausgefunden hatten, also blieb den Alten keine Wahl. Und wann immer es Mord und Totschlag im Hause Hermann Dunkers gab, haben Mechthild und ich insgeheim Klaus die Schuld dafür gegeben. Wie sehr habe ich immer jene Klassenkameraden beneidet, deren Mütter Witwen waren! Ansonsten spielten körperliche Angelegenheiten eigentlich nie eine große Rolle. Womöglich konnten die beiden sich nicht einigen und ließen uns deshalb in Ruhe. Ob wir nun genußvoll popelten, die Nägel abkauten und nur alle zwei Wochen mal badeten oder erst die Socken wechselten, wenn wir uns schon selbst nicht mehr riechen konnten, das war unsere Sache. Am Ende sind es die Freunde oder Kumpel, die uns zu einem Mindestmaß an Sauberkeit erziehen, will man nicht immer der letzte sein, der in die Völker- oder Fußballmannschaft gewählt wird. Einmal hatte Mechthild auf dem Schulhof einige Andeutungen aufgeschnappt, daß Babys wohl doch nicht in Krankenhäusern, sondern in einer undurchsichtigen Operation von Müttern und Vätern produziert würden. Ich erkläre ihr den undurchsichtigen Rest, soweit ich ihn selbst schon kapiert hab. Ich bin zwar nur ein Jahr älter als mein lästiges Schwesterlein, aber natürlich zählt ein Kinderjahr mehr als das eines Erwachsenen, und mich hat wiederum Klaus, der ein Jahr älter ist als ich, aufgeklärt, ja, nicht nur aufgeklärt, sondern auch gleich in die Praxis eingeführt. Eines Nachts kriecht er einfach ungefragt zu mir ins Bett, drückt sich schweigend an mich und versucht, mir seinen steifen Pimmel in die Poritze zu schieben. Trotz aller Verrenkungen ist sein Pillemann aber noch zu klein um mir wirklich weh zu tun. Schon klar, daß man so unter keinen Umständen schwanger wird. Mechthild hingegen hat nichts Besseres zu tun, als mit ihrem neuen Wissen gleich bei Vadder hausieren zu gehen. Damals war sie noch Papas Liebling. Doch diesmal hört er ihr Geplapper erst gar nicht bis zu Ende an, sondern versohlt mir nach Strich und Faden den nackten Hintern und brüllt, wir hätten die Aufklärung seiner Blagen gefälligst ihm zu überlassen! Als hätten Vadder oder Mudder in unserer Gegenwart je ein Wort über Sex verloren! Auch die Anatomielehrbücher, die Mudder aus ihrer Schwesternausbildung aufbewahrt hat, dicke, teure Schwarten, helfen uns nicht gerade weiter. Glied und Hoden ohne Haut zu sehen, ist zwar irgendwie aufregend, es gibt in der Mitte des Lehrbuchs diese Folien, die übereinander gelegt einen nackten Mann ergeben, dem man dann mit jedem Umblättern...


Michael Roes, geboren 1960 in Rhede / Westfalen, ist Autor und Filmemacher. Er verfasste zahlreiche Romane, Theaterstücke und Gedichte, schuf mehrere filmische Essays und dokumentarische Spielfilme. Sein Roman "Die Laute" war 2012 für den Deutschen Buchpreis nominiert, 2020 erhielt er den Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis für sein literarisches Gesamtwerk. Zuletzt erschien im Albino Verlag sein Roman "Der Traum vom Fremden". Michael Roes lebt in Berlin.



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