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E-Book

E-Book, Deutsch, Band 3, 230 Seiten

Reihe: Störungen systemisch behandeln

Rotthaus Ängste von Kindern und Jugendlichen

E-Book, Deutsch, Band 3, 230 Seiten

Reihe: Störungen systemisch behandeln

ISBN: 978-3-8497-8281-8
Verlag: Carl Auer Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Angststörungen gehören im Kindes- und Jugendalter zu den häufigsten psychischen Störungen. Fast jedes zehnte Kind leidet daran, und es gilt als erwiesen, dass sich Angststörungen nicht "von alleine auswachsen".

Wilhelm Rotthaus stellt in diesem Buch zunächst aktuelle Erkenntnisse aus Neurobiologie, Evolutionsbiologie und Physiologie zu Angst und Angststörungen zusammenfassend dar. Es folgt eine Übersicht über die wichtigsten Risikofaktoren sowie das Störungsverständnis und die Therapieansätze der verschiedenen Psychotherapieverfahren.

Der Schwerpunkt liegt auf der Darstellung eines systemtherapeutischen Krankheitsverständnisses und der systemischen Psychotherapie der Angststörungen im Kindes- und Jugendalter. Nutzen und Gefahren einer Störungsorientierung werden ebenso diskutiert wie die Vor- und Nachteile diagnostischer Klassifikationen. Vor allem aber wird ein breites Spektrum systemischer Methoden ausgebreitet, die sich für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen und ihren Angehörigen anbieten. Sie versprechen eine hohe und anhaltende Wirksamkeit und ermöglichen zudem einen humorvoll-heiteren Umgang auch mit ernsten Problemen.
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2Klinisches Erscheinungsbild
2.1Vom Phänomen zur Diagnose (und zurück)
2.1.1 Ängste in der Kindheit
Die Kindheit ist eine Zeit der lebhaften Entwicklung. In ihrem Verlauf muss das Kind Vertrautes und Sicherheiten immer wieder aufgeben, um Neues kennenzulernen und zu bewältigen. Deshalb ist Angst in der Kindheit häufig und geradezu ein typisches Merkmal dieser Lebensphase. Im Verlauf seiner kognitiven Entwicklung lernt das Kind, potenzielle Gefahren in seinem Umfeld, das es ständig erweitert, wahrzunehmen und auf ihre tatsächliche Gefährlichkeit zu überprüfen. Dafür bedarf es einer geistigen Reife und eines hinreichenden Erinnerungsvermögens, die es möglich machen, Bekanntes von Unbekanntem zu unterscheiden. Dadurch erklärt sich, dass die Angstobjekte im Verlauf der Kindheit wechseln und somit schwerpunktmäßig einem bestimmten Alter bzw. Entwicklungsstand zugeordnet werden können (Gullone 2000). Zumindest während der Kindheit ist die Angst vor dem Verlust der Geborgenheit das zentrale, sozusagen »durchlaufende« Thema. Im Alter bis zu sechs Monaten reagieren Kinder auf laute Geräusche häufig mit Angst. Im Alter zwischen sieben und zwölf Monaten zeigen sie Angst vor dem Unbekannten, vor fremden Menschen, fremden Objekten und vor der Höhe. Sie fürchten jetzt die Trennung von den Bezugspersonen, haben Angst vor Verletzungen. Im Alter von zwei bis vier Jahren treten unterschiedliche Ängste auf: Angst vor Tieren, Angst vor Dunkelheit, Angst vor Fantasiegestalten und potenziellen Einbrechern. Sechs- bis achtjährige Kinder fürchten sich vor übernatürlichen Dingen, vor Donner und Blitz, vor dem Alleinsein und zeigen Ängste, die durch Fernsehen und Filme ausgelöst wurden. Im Alter von neun bis zwölf Jahren treten die Angst vor Prüfungen in der Schule in den Vordergrund, wesentlich aber auch soziale Ängste. Letztere sind dann vor allem als Angst vor der Zurückweisung durch Gleichaltrige bei den 12- bis 18-Jährigen häufig. Im höheren Jugendalter sind im Übrigen globale Ängste, etwa vor politischen oder ökonomischen Krisen und Gefahren, anzutreffen. 2.1.2 Die Angst, dein sorgender Freund
Die Fähigkeit, Angst zu produzieren, ist eine wichtige Leistung von Menschen. Angst gehört zum Leben; sie ist ein treu sorgender Freund. Angst sorgt für Entwicklung. Sie tritt auf bei neuen Aufgaben, die das Fähigkeitsprofil der oder des Betroffenen herausfordern oder aber die Weiterentwicklung vorhandener Fähigkeiten verlangen. Das dabei auftretende Erleben von Stress und Anspannung macht die Zufriedenheit und den Stolz nach der Bewältigung der Herausforderungen umso größer. Allerdings kann es auch geschehen, dass die Angst und der damit einhergehende Stress ein so großes Ausmaß erreichen, dass die Handlungsfähigkeit weitgehend blockiert wird und Lösungen nicht mehr gefunden werden. Wann ist die Angst also gut und förderlich, und wie viel Stress und Angst sind schlecht und hinderlich? Wann ist Angst normal, und wann ist sie pathologisch, sodass sie ernsthaftes Leiden hervorbringt und Entwicklung verhindert? Entscheidbar ist das für den Beobachter, der beispielsweise darauf schaut, wie ein Kind seine Entwicklungsaufgaben bewältigt. Natürlich sind Entscheidungen des Beobachters kulturell geprägt und zudem subjektiv. Da objektive Maßstäbe fehlen und die Grenze zwischen »normal« und »pathologisch« fließend ist, findet unter den Beobachtern in der Regel ein Konsensprozess statt, d. h., die Beurteilung wird durch die Suche nach einer Mehrheitsentscheidung zu untermauern versucht. Dies geschieht im jeweils individuell relevanten Bezugssystem des Kindes durch den Austausch mit Familienangehörigen, Freunden und Bekannten und überindividuell durch die Erarbeitung von Diagnosekriterien, die »gesund« und »krank« zu trennen versuchen. Dabei gilt Heinz von Foersters kluger Satz, dass wir immer nur solche Fragen entscheiden können, die prinzipiell unentscheidbar sind. (Die Frage, ob zwei plus zwei gleich vier ist, können wir nicht entscheiden, weil sie entschieden ist.) Aber natürlich ist auch der Betroffene selbst an diesem Beurteilungsprozess beteiligt. Als Beobachter seiner selbst trifft er ebenfalls eine Entscheidung, beispielsweise indem er sagt: »Ich habe so viel Angst, wie sie keiner meiner Freunde und Mitschüler zeigt; sie ist unerträglich.« Er redet dann über die Angst, als würde sie nicht von ihm selbst gemacht, als sei sie etwas Fremdes, das über ihn kommt. Die Verbindung mit seinen eigenen Kognitionen stellt er nicht her, zumeist sind ihm die eigenen internen Prozesse nicht bewusst. Schließlich kann es geschehen, dass der Betroffene selbst seinen eigenen Ängsten überraschend gleichmütig gegenübersteht, selbst wenn er in Reaktion darauf seinen Handlungsspielraum sehr einschränkt. In solchen Fällen hat möglicherweise nur seine Umwelt ein Problem damit. 2.1.3 Diagnose »Angststörung«
In den Fällen, in denen mehrere Beobachter zu der Überzeugung kommen, dass die von einem Betroffenen produzierte Angst ein quantitativ zu hohes, qualitativ zu bedrängendes und zeitlich zu lang andauerndes Ausmaß hat, stellt die professionelle Helferwelt sprachliche Übereinkünfte wie die ICD1 oder das DSM2 zur Verfügung, nach denen Auffälligkeiten im Erleben und Verhalten gemäß genau definierten Kriterien unterschieden und unter dem Oberbegriff »Angststörungen« klassifiziert werden. Unterschiedliche Ausprägungen von Angst im Kindes- und Jugendalter werden dann mit den Diagnosen »Trennungsangst«, »spezifische Phobie«, »soziale Phobie«, »generalisierte Angststörung«, »Panikstörung« und »Agoraphobie« beschrieben. Natürlich sind auch diese Diagnosen – wie alle Diagnosen – nicht trennscharf voneinander abzugrenzen. Es sind typisierende Beschreibungen, die ein häufiges Zusammentreffen bestimmter Symptome schildern. Das ist nützlich für die Therapeutin, da sich ihr damit ein Fragenhorizont eröffnet. In der Realität aber überschneiden sich die einzelnen Angststörungen in weit über 50 % der Fälle. Das spezielle Störungsbild des einzelnen Kindes oder Jugendlichen trägt meist Kennzeichen mehrerer Angststörungen; hinzu treten zudem häufig sogenannte komorbide Störungen, beispielsweise besonders oft depressive Störungen. 2.1.4 Was sagen Diagnosen?
Psychiatrische Diagnosen sind reine Beschreibungen von Auffälligkeiten im Erleben und Verhalten eines Menschen. Sie erklären nichts. Sie geben auch keinerlei Auskunft über die Ätiologie des Beschriebenen. Darin bestand der große Schritt von der ICD-9 zur ICD-10. Die Autorinnen und Autoren der ICD-10 erklärten, man wisse derzeit so wenig über die Ursachen psychischer Störungen, dass man sich entschlossen habe, Überlegungen zu den Ursachen aus den diagnostischen Beschreibungen ganz herauszulassen. Wesentlich aus diesem Grund wählte man auch – wie im Vorwort der ICD-10 ausgeführt – den Begriff »Störung«, »um den problematischen Gebrauch von Ausdrücken wie ›Krankheit‹ oder ›Erkrankung‹ zu vermeiden.« Denn ein populärwissenschaftliches Konzept von Krankheit ist traditionell mit der Idee verbunden, dass Symptome Anzeichen für zugrunde liegende Prozesse seien, die behandelt respektive beseitigt werden müssten – eine Vorstellung, die für psychische Störungen kaum als zutreffend angesehen werden kann. Diese Beschreibungen von auffälligen, symptomatischen Verhaltensweisen, die zu Syndromen zusammengefasst und mit einem diagnostischen Begriff etikettiert werden, basieren auf Unterscheidungen, die ein Beobachter oder eine Gruppe von Beobachtern »entweder aufgrund beobachteter Veränderungen in einer Zeitspanne oder aufgrund von Vergleichen mit anderen Menschen, stellvertretend auch mit Normen, gemacht hat. Die Beschreibung von Verhalten beruht auf Unterscheidungen im Phänomenbereich des Verhaltens. Verhalten beschreibt Veränderungen eines Wesens in Bezug auf ein Milieu« (Maturana u. Varela 1987, S. 150). Demgegenüber dienen diese Verhaltensweisen aus der Sicht des Individuums der Verwirklichung seiner Struktur in Koppelung mit seiner Umgebung und sind deshalb für dieses Individuum sinnvoll und angemessen. Es besteht also eine Diskrepanz zwischen der Logik des Beobachters und der Logik des diagnostizierten Individuums (Ludewig 1989, S. 32). Diese Diskrepanz zu berücksichtigen ist für die psychotherapeutische Arbeit von hoher Bedeutung (siehe Abschn. 8.5). Weil Diagnosen lediglich Beschreibungen des Verhaltens und Erlebens eines Menschen sind, können sie selbstverständlich auch niemals Ursache des beschriebenen Verhaltens sein –...


Wilhelm Rotthaus, Dr. med.; Studium der Medizin und der Musik; Ausbildungen in klientenzentrierter Gesprächstherapie, klientenzentrierter Spieltherapie und Systemtherapie. 1983–2004 Ärztlicher Leiter des Fachbereichs Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Rheinischen Kliniken Viersen. Buchveröffentlichungen u. a.: "Wozu erziehen" (8. Aufl. 2017), "Systemische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie" (4. Aufl. 2013), "Ängste von Kindern und Jugendlichen" (2015), "Suizidhandlungen von Kindern und Jugendlichen" (2017) "Schulprobleme und Schulabsentismus" (2019), "Ängste von KIndern und Jugendlichen. Erkennen, verstehen, lösen" (2020).


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