E-Book, Deutsch, 384 Seiten
Rygiert Schäfchensommer
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-641-23286-3
Verlag: Blanvalet
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-641-23286-3
Verlag: Blanvalet
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nie ist Elke so glücklich wie im Frühjahr, zu Beginn der Weidesaison, wenn sie morgens auf der Schwarzwaldhöhe steht und auf die Lichter der fernen Dörfer in der Rheinebene hinabschaut. Elke ist Schäferin und führt – wie ihre Mutter und Großmutter vor ihr – den „Lämmerhof“. Einziger Wermutstropfen sind die zunehmenden finanziellen Schwierigkeiten des Familienbetriebs. Doch dann kehrt nicht nur Elkes große Liebe überraschend zurück in die Heimat – Chris, der ihr vor vielen Jahren das Herz gebrochen hat –, sondern auch ihre Schwester Julia steht plötzlich vor der Tür, im Schlepptau die widerwillige Zoe. Das Mädchen ist in die falschen Kreise geraten, und Sozialarbeiterin Julia will, dass Elke Zoe bei sich auf dem abgelegenen Hof aufnimmt – gegen Bezahlung. Nein danke, denken sowohl Elke als auch Zoe. Doch bald stellt sich heraus, dass die beiden ungleichen Frauen sich vielleicht gar nicht so unähnlich sind, wie sie glauben …
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1. Kapitel
Erwachen
Als Elke in den Stall kam, war das Lämmchen schon geboren.
Wie so oft war sie mitten in der Nacht mit dem Gefühl wach geworden, dass ihre Tiere sie brauchten. Doch Moira, das dunkelbraune Mutterschaf mit den sanften Augen, hatte es wieder einmal ganz allein geschafft. Hingebungsvoll leckte sie ihrem Kleinen das Bäuchlein sauber, während sich Elke davon überzeugte, dass keine Schleimpfropfen seine Atemwege verstopften und auch mit Moira alles in Ordnung war. Mit geübten Griffen nabelte sie das Lämmchen ab und desinfizierte die Wunde.
Es war still in der Mutter-Kind-Station, wie Elke diesen Teil des Stalls nannte, in dem sie jedes Frühjahr die trächtigen Tiere unterbrachte, damit sie ungestört ihre Kleinen zur Welt bringen konnten. Nur Moiras Atmen war zu hören und hin und wieder das Rascheln der anderen Schafe im Stroh. Das Lämmchen hatte die Farbe von dunkler Schokolade, genau wie seine Mutter, und der feuchte Flaum, der dessen Körper bedeckte, begann, sich unter Moiras eifriger Zunge leicht zu ringeln. Jetzt öffnete es die Augen, blickte sich erstaunt um und ließ einen feinen, hohen Laut hören. Dann raffte es all seine Kraft zusammen und versuchte, sich auf den wackligen Beinchen aufzurichten.
Schon so viele Male hatte Elke das miterlebt, und doch schien es ihr immer wieder aufs Neue wie ein Wunder. Es war das dreizehnte Lamm in dieser Woche, und Elke überlegte sich gerade einen passenden Namen, als sich die Stalltür leise öffnete und wieder schloss.
»Ist die Nachgeburt schon raus?«
»Alles bestens«, antwortete Elke und bedachte Bärbel mit einem liebevollen und doch auch vorwurfsvollen Blick. »Warum bleibst du nicht im Bett, Mama? Die Kälte tut deiner Hüfte überhaupt nicht gut.«
»Ach was«, gab Bärbel zurück und ging leise ächzend in die Hocke, um das Lamm zu begutachten. »Im Bett sterben die Leute, hat dein Vater immer gesagt.«
Er ist aber nicht im Bett gestorben, wollte Elke antworten, doch sie biss sich auf die Zunge. Ihr Vater war im Wald beim Fällen einer Fichte ums Leben gekommen, und das im besten Alter. Acht Jahre war dieser Unfall nun her. Er hatte eine Lücke hinterlassen, die nicht zu schließen war.
Elke erhob sich und überließ ihrer Mutter den Platz an der Seite des Mutterschafs. Sie wusste, wie sehr Bärbel an der Herde hing und dass sie sich nur schwer damit abfinden konnte, aufgrund ihres Hüftleidens zu Hause bleiben zu müssen, wenn Elke die Herde gemeinsam mit ihrem Lehrling Pascal und ihren Hunden über die Hochweiden des Schwarzwalds führte. Lange würde es nicht mehr dauern, der Frühling war schon zu erahnen. Sobald die Lämmer kräftig genug waren, würden sie aufbrechen. Elkes Herz schlug höher bei dem Gedanken.
»Ein Maidle, schau an. Hast du schon einen Namen für die Kleine?«, fragte Bärbel, während sie das Lamm vorsichtig an Moiras Zitzen heranführte, damit es die wertvolle erste Milch zu trinken bekam, die sogenannte Biestmilch, die so wichtig für das Immunsystem des Neugeborenen war.
»Was hältst du von Miri?«, schlug Elke vor.
»Das klingt schön.« Bärbel strahlte sie glücklich an. »Nun trink mal ordentlich, Miri. Damit du groß und stark wirst, genau wie deine Mama.«
Elke ging hinüber zu den anderen trächtigen Schafen. Tula ruhte auf ihrem Lager aus frischem Stroh, ihr aufgeblähter Leib hob und senkte sich in gleichmäßigen Zügen. Nette und Briggi jedoch wirkten unruhig, ein deutliches Zeichen dafür, dass ihre Niederkunft nicht mehr lange auf sich warten ließ.
»Lass uns wieder schlafen gehen«, schlug Elke ihrer Mutter vor und half ihr, sich aufzurichten. »Moira kommt allein zurecht.«
Die kleine Miri hatte die Zitzen gefunden und trank gierig. Elke versorgte Moira noch mit frischem Wasser und Kraftfutter, aber das Mutterschaf hatte nur Augen für ihr Junges.
Draußen fegte ein kühler und doch schon frühlingshafter Wind über den Lämmerhof, ließ die Plane über dem sauber gestapelten Holz knattern und zerrte an einer Dachrinne, die sich ein wenig aus der Verankerung gelöst hatte. Er riss Elke den Schäferhut vom Kopf, sodass sich ihre lange goldbraune Lockenmähne über ihren Rücken ergoss. Vielerlei Düfte nach Erde und dem Sprießen der ersten Frühjahrskräuter trug der Wind mit sich, und Elke hob schnuppernd den Kopf.
Sie hörte, wie ihre Mutter die knarzende Holztreppe zu ihrem Schlafzimmer hinaufging, und stellte sich einen Augenblick lang unschlüssig vor die offene Haustür. Sollte auch sie noch mal unter die Bettdecke schlüpfen?
Es war kurz nach fünf Uhr, die Morgendämmerung färbte den Himmel über der Schwarzwaldhöhe, auf welcher der Lämmerhof mit dem Giebel dem Westhang zugeneigt saß wie ein Löwe kurz vor dem Sprung, tiefblau. Unter ihm fächerten sich die westlichen Ausläufer des Mittelgebirges auf, fielen über Kämme und Hügel ab bis zur Rheinebene, in der unter dem frühmorgendlichen Dunst die Lichter der Dörfer und Städte diesseits und jenseits des großen Flusses glommen. Hinter sich fühlte Elke den enormen Korpus des Lämmerhofs, hörte das vertraute Knarren und Knacken des uralten Ständerbaus aus nun bald vierhundert Jahre alten, miteinander verzapften Eichenbalken. Ihr war, als dehnte und reckte sich das riesige Haus mit seinen vielen Zimmern und Kammern und erwachte in der unmerklich voranschreitenden Morgendämmerung zu neuem Leben. Seit Generationen hatte dieses Gehäuse ihre Ahnen beherbergt, deren Familien einst zahlreich gewesen waren und außerdem Platz benötigt hatten für Knechte und Mägde.
Heute bewohnten es Elke und Bärbel allein. Nur Pascal, der das Schäferhandwerk bei ihnen gelernt hatte und schon bald ein geschickter, umsichtiger Tierwirt sein würde, wie ihr Beruf offiziell hieß, hatte sich im Leibgedingehaus auf der anderen Seite des ehemaligen Dreschplatzes ein gemütliches Nest eingerichtet. In den vergangenen Wochen hatte er die Gesellenprüfung abgelegt, und Elke zweifelte nicht daran, dass er als einer der Besten seines Jahrgangs abschneiden würde. Sie verstanden sich blind, Pascal war für Elke der Bruder, den sie nie gehabt hatte, und eines Tages, so hoffte sie, würde er eine Frau finden, der das Leben hier oben nicht zu abgelegen war, würde eine Familie gründen und den Hof und die Herde irgendwann einmal ganz übernehmen. Denn wer sollte das sonst tun?
Sie wollte sich gerade umwenden und in die Küche gehen, um Kaffee zu machen, als in der Stille des Morgens ein Vogelruf erklang, unterbrochen von kleinen melodischen Trillern. Elke lauschte. Kein Zweifel, es war die erste Heckenbraunelle dieses Jahres, die von ihrer Winterreise aus Afrika zurückgekehrt war. Elkes Herz machte einen Sprung, sie verschob den Kaffee auf später, schlang ihr Haar um die Hand, drehte es zu einem Dutt und verstaute es wieder unter ihrem Hut. Dann zog sie ihre Jacke fester um sich. Sie wollte dem Vogel nachgehen, wollte dabei sein, wenn sich der Wandel vom ausgehenden Winter in den Frühling vollzog.
Auf der Wiese über der Tenne hielt sie kurz inne. Ein Zaunkönig hatte sich der Heckenbraunelle angeschlossen, und während Elke den Pfad einschlug, der hinter dem Haus den Hang hinauf zum Waldrand führte, stimmte ein Rotkehlchen in den morgendlichen Gesang mit ein.
Der Weg führte an Bärbels Bienenstöcken vorbei und hinauf zu einer bewaldeten Kuppe, die ihre Familie seit Menschengedenken Hasenkopf nannte, auch wenn dieser Name auf keiner Flurkarte verzeichnet war. Mit leichten Schritten nahm die Schäferin den steilen Aufstieg. Noch ehe sie die höchste Stelle erreicht hatte, sah sie, wie der Himmel die Farbe von wilden Heckenrosen annahm, dann immer leuchtender wurde, bis schließlich die ersten Strahlen der Sonne durch die Tannen fielen und dabei Myriaden von Wassertropfen zum Glitzern brachten. Dort, wo die Bäume am dichtesten standen, lagen noch Reste von verharschtem Schnee, doch an den Stellen, wo das Licht im Laufe der länger werdenden Tage den Grund bereits erreichen konnte, schoben sich erste Triebe von Pfeifengras, Huflattich und Rasenbinse aus der nassen Erde.
Der Chor der Singvögel schwoll an. Rings um Elke rieselte und tropfte das Wasser von den Zweigen, quoll aus dem Moos und bildete Pfützen und Tümpel, lief an den Stämmen der Fichten und Buchen, der Eichen und Kiefern herab, sammelte sich gurgelnd in Rinnsalen und vereinigte sich in plätschernden Bächlein. Vom Waldboden stieg der unverkennbar frische Duft nach Frühling auf, würzig und voller Süße.
Kein Zweifel, der Winter war endgültig vorüber, die Zeit des Erwachens hatte begonnen.
Elke erreichte den Hochsitz und kletterte hinauf. Von hier oben bot sich ein weiter Blick in alle vier Himmelsrichtungen. Der Hof selbst lag an der nach Südwesten geneigten Seite, und wer sich aus dem Tal zu ihm hinauf verirrte, dem verschlug es die Sprache angesichts der Aussicht über die Rheinebene bis hinüber nach Straßburg und auf die dahinter aufragenden Vogesen. Vom Hochsitz aus jedoch sah man auch in die entgegengesetzte Richtung weit über die Höhenzüge des Schwarzwalds hinweg nach Osten, wo Elke hinter rötlichem Dunst die Schwäbische Alb nur erahnen konnte, geblendet vom gleißenden Licht der aufgehenden Sonne.
Es geht wieder los, dachte sie und ließ den Blick über die weich gerundeten Höhenzüge im Süden gleiten, die sogenannten Grinden, baumlose Flächen voller Heidekraut und horstig wachsender Süßgräser, zahlloser Kräuter und Beerensträucher.
Über diese Hochweiden würde sie in den folgenden Monaten ihre Tiere führen, immer im Wettlauf mit dem Wetter und dem unerbittlichen Wechsel der Jahreszeiten. Das tat sie Jahr für Jahr im Auftrag der...