E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Sandig Buch gegen das Verschwinden
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-7317-6065-8
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Geschichten
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-7317-6065-8
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ulrike Almut Sandig wurde in Großenhain geboren. Bisher erschienen von ihr vier Gedichtbände, drei Hörbücher, zwei Erzählungsbände, ein Musikalbum mit ihrer Poetry-Band Landschaft sowie zahlreiche Hörspiele. Ihre Gedichte wurden verfilmt und übersetzt, für ihr Werk erhielt sie zahlreiche Preise. Zuletzt wurde sie 2018 mit dem Wilhelm-Lehmann-Preis, 2020 mit dem Roswitha-Preis und 2021 mit dem Erich-Loest-Preis ausgezeichnet. 2023 gewann sie den Robert Gernhardt Preis. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.
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Weit unter uns die flüssigen Felsen
Rote Wangen hatte Erika. Rote Wangen im Sommer und rote Wangen im Winter, morgens und abends und auch noch im Schlaf. Fünfzig lange Jahre lang sah Erika aus, als sei sie gerade von draußen hereingekommen und auf dem Rückweg ein Stück gerannt, um schneller heimzukommen und sich mit einem verhaltenen Lachen aufs Sofa fallen zu lassen, neben mich. Selbst als sie nicht mehr rennen wollte, sah Erika noch so aus, selbst als sie es nicht mehr konnte, und auch dann noch, als sie das Haus, das ich uns gebaut hatte, nicht mehr verließ.
Während der letzten fünfzehn Jahre verschwamm sie zusehends vor meinen Augen, sobald ich ihr nahe kam, um ihr übers Gesicht zu streichen. Ich bin zum Augenarzt gegangen und habe mir eine Gleitsichtbrille verschreiben lassen. Sie half ein bisschen, aber mir wurde schwindlig, sobald ich sie trug, also ließ ich sie im Etui. Erika verschwamm vor meinen Augen, als ginge die Unschärfe von ihr selbst aus und nicht von mir, von einer Eigenart ihres Charakters, die sich im Älterwerden nach außen kehrte. Sie wurde von den Rändern her durchsichtig und mehr und mehr eins mit den Zimmern unseres Hauses. Ich nahm das so hin und betrachtete sie nur von Weitem, wenn sie langsam durch die Zimmer ging und Blumen goss, oder wenn sie auf dem Sofa saß, mit leicht gebeugtem Rücken und dem Kopf über einem Buch, oder wenn sie mit geröteten Wangen über einem Kreuzworträtsel am Küchentisch saß und hin und wieder den Kopf hob, um mich nach dem Namen eines Flusses oder einer längst vergangenen Epoche der Erdgeschichte zu fragen.
Als wir jünger waren, habe ich mich manchmal so nah vor sie hingestellt, dass ich ihren Atem hören konnte. Ich sah dann, wie sich ihre Brust unmerklich hob und senkte, als müsste sie nie damit aufhören. Ich vertiefte mich in die zarten Blutgefäße, die sich über ihre Wangen zogen, ich kannte ihr Muster auswendig. Sie hatten die Farbe von Heidekraut, und davon hatten wir viel in Wölfelsgrund, wo wir jeden Sonntag zusammen durch die Wälder gestreift waren, Arm in Arm, und das Laufen war ganz aus freien Stücken und fiel uns leicht. Wirklich, meine Erika ist in ihrem Leben genug gelaufen, und ich immer neben ihr her.
Hinter dem Ortsausgang in Richtung Glatzer Schneeberg stand in dichten Büscheln das Heidekraut. Noch im November, wenn alle Blätter von den Bäumen verschwunden waren, leuchtete es zwischen Moos und Laub. Wenn ich meine Erika daran erinnerte, dass wir das Heidekraut in Wölfelsgrund immer Erika nannten, und ihr dabei neckend über die Wangen strich, drehte sie den Kopf zur Seite und sagte in einem Tonfall, als müsste sie sich verteidigen: Der Winter war zu kalt, ich kann ja nichts dafür!
Nachts vor dem Einschlafen lag sie auf dem Rücken, das Federbett bis unters Kinn gezogen, die Hände flach auf ihrem Bauch, und ich lag auf der Seite, den Kopf in eine Hand gestützt, mit der anderen habe ich ihre geröteten Wangen gestreichelt. Erzähl mir etwas von dir, hat sie manchmal gesagt und gewusst, dass ich nicht nein sagen würde zu meiner Erika. Aber weil sie mich doch auswendig kannte, wirklich alles über meine kurzen Tage in diesen langen Jahren wusste, habe ich ihr lieber von den Bodenschichten unter unserem Haus erzählt, das ich nach der Flucht für sie gebaut hatte und das wir beide nicht mehr verlassen wollten, so war es jedenfalls abgemacht.
Ich begann immer direkt unter dem Keller, während sie es sich bequem machte, ihr Kopfkissen zurechtschob und die Hände wieder zurück auf den Bauch legte. Darunter kommt die Auffüllung, erklärte ich ihr. Kellergeschosse zerbombter Gebäude tragen unseren Keller, breite Schichten aus Ziegelbruch, Beton und Hausmüll, Holz- und Kohlevorräte früherer Bewohner, hier und da ihre Knochen, und an dieser Stelle beeilte ich mich, zum Auelehm überzugehen, der wie Thunfisch in der Dose in feine, feuchte Schichten geblättert liegt und Einschlüsse uralter Kiefern birgt. An der Stelle mit dem Thunfisch kniff Erika die Augen zusammen und lachte vor sich hin, und ich lachte auch; aber schon erzählte ich weiter, dass so ein hellgelbes Stück Kiefernholz, wenn es durch einen Zufall der Weltgeschichte ans Tageslicht gerät, binnen einer halben Stunde vollkommen schwarz wird, und alles Leuchten von unter der Erde ist dahin. Manchmal sprach ich statt vom Auelehm auch vom Geschiebelehm oder vom Geschiebemergel, es gibt so viele Wörter für so wenige Dinge auf der Erde oder darin; je nachdem, aus welchem Blickwinkel man sie betrachtet. Aber Erika hörte sich jeden Begriff an und fragte nach seiner genauen Bedeutung, und erst dann, wenn ihr alles klar vor Augen stand, stiegen wir tiefer hinunter und erreichten den Schotter der mächtigen Flüsse der Eiszeit. Quartäre Sande und Kiese fanden wir, manchmal fossile Stämme uralter Bäume dazwischen, und ungefähr hier fing Erikas Atem an, gleichmäßig zu gehen, aber sie hörte immer noch aufmerksam zu. Ich nahm sie mit in die tiefe, reiche Schicht der Braunkohle, und unter unseren Federbetten wurde es wärmer, Erikas Hände rutschten langsam von ihrem Bauch. Sie atmete in tiefen Zügen, und gemeinsam stiegen wir hinab ins Tertiär zu den Quarziten, gelegentlich trafen wir auf Monolithe aus dunklem, harten Stein ohne gültige Klassifizierung, und Erika lag still auf dem Rücken und fragte nicht mehr nach, öffnete nur ganz leicht den Mund. Wenn ich bei den Höhenzügen der flüssigen Felsen weit unter den tiefsten Braunkohleschichten angelangt war, dem unmerklich sich voranschiebenden Gebirge unter uns, schlief sie so traumlos und tief, wie eigentlich nur Kinder schlafen.
Vielleicht lag es an den fehlenden Kindern. Aber es kommt mir so vor, als sei meine Erika in den fünfzig Jahren, die nach dieser Flucht im Februar kamen, keinen einzigen Tag gealtert. Ihre roten Wangen wurden mit den Jahren nur weicher, und Flaum bildete sich auf ihnen, über den ich gern strich. Wie von innen her wurde meine Erika weicher und zarter und sogar etwas kleiner. Ihr Lachen wurde heller und ihr Schlaf tiefer, so kommt es mir vor. Mit den Jahrzehnten wurde sie wieder das junge Mädchen, das sie ganz zu Anfang gewesen ist, als ich sie kennengelernt habe, lange bevor wir hierhergekommen sind.
Sie ist mir zweimal verloren gegangen. Einmal auf dem Weg von Wölfelsgrund bis hierher. Es war Februar, der Nachthimmel wolkenlos und sehr dunkel, der Nachmittagshimmel vereist. Es war kalt. Wir gingen zu Fuß. Ein anderer als ich, in einer Sprache, die ich nicht kann, soll das beschreiben. Aber ein Teil von ihr muss auf dem Weg verloren gegangen sein. Das war das erste Mal.
Das zweite Mal war vor einem Jahr im Dezember. Da ist sie mir völlig verloren gegangen, mit Haut und Haar. Als mir das endlich aufging, habe ich mir die Arme am Türpfosten aufgeschlagen, obwohl die Tür zu ihrem Krankenzimmer sperrangelweit offen stand. Sie lag darin, obwohl sie doch eigentlich im Haus liegen sollte, das ich uns gebaut hatte und über das wir immer gescherzt hatten: Steht der Frost vor der Tür, dann bleiben wir drin und machen nicht auf.
Die Feiertage verbrachte ich auf dem Sofa neben Erikas angestammtem Platz, oder am Küchentisch neben Erikas unbesetztem Stuhl, oder auf dem Bett neben Erikas gefalteter Zudecke. Ich ließ die Heizkörper voll aufgedreht, auch in der Nacht. Ich rührte mich so selten wie möglich. Ich bewegte nicht einmal die Hände. Von Zeit zu Zeit kam jemand und brachte mir das Essen, wischte alle Böden oder wusch die Wäsche, aber ich schaute nicht hin und beantwortete keine Fragen, ich wollte kein Beileid.
Ich hörte dem Bollern der Heizkörper zu. Mit den Augen verfolgte ich das verschwommene Sonnenlicht über alle Wände bis zu seinem vollständigen Verschwinden. Einige Tage habe ich so verbracht. Es gäbe mehr zu sagen, aber ich weiß nicht, welche Wörter ich dafür nehmen soll. Als Epiphanias vorbei war, stand ich auf.
Ich ging durch alle Zimmer, so wie Erika das gemacht hatte, und goss die Pflanzen. Oder ich sah nach, ob es sonst etwas gäbe, das ich machen könnte. Ein Türscharnier war zu ölen, die Heizstände im Keller mussten kontrolliert werden, irgendwann holte ich den Staubsauger und machte mich über alle Teppiche her. Jeden Morgen wusch ich das Geschirr ab, auch wenn es jetzt nicht mehr viel war. Ich hätte das stundenlang machen mögen, denn es war so eine klare, schöne Arbeit mit Ergebnissen, aber kaum hatte ich mit meinen drei Tellern und Tassen begonnen, war ich auch schon wieder fertig. Also ließ ich den Abwasch nicht stehen, sondern trocknete ihn ab und stellte alles in den Hängeschrank zurück.
Und es gab immer etwas aufzuräumen. Im ganzen Haus gerieten Kleinigkeiten in Unordnung, als trieben die Zimmer ihr Spiel mit mir. Einmal fand ich ein Badehandtuch mitten auf dem Küchentisch, es war tropfnass. Ein anderes Mal wäre ich fast über die Tageszeitung gestolpert, die zerfleddert auf dem Wohnzimmerteppich lag, ich konnte mich nicht entsinnen, sie an diesem Tag schon aus dem Briefkasten geholt zu haben. Ein drittes Mal verschwand meine Tasse, in der ich eben erst frischen Nescafé aufgebrüht hatte. Alle Zimmer suchte ich ab, sie war wie vom Erdboden verschluckt. Irgendwann entdeckte ich sie auf dem Nachttisch neben unserem Bett, in dem ich niemals Nescafé trinke, aber die Tasse war schon halbleer. Mich wunderte, wie das kam, ich hatte doch immer alles an seinen Platz zurückgestellt.
Jeden Mittag kam ein junger Mann mit unglaublich langen Haaren und brachte mir das Mittagessen. Aber auch er hat nichts verstellt. Er stand nur mitten in der Küche herum und mir im Weg, während ich den Tisch deckte, und ließ Allgemeinplätze auf mich los. Er schrie mir ins Ohr, weil er mich für...