Schneider | Eine Welt auf sechzehn Saiten | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

Schneider Eine Welt auf sechzehn Saiten

Gespräche mit dem Vogler Quartett

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

ISBN: 978-3-937834-96-2
Verlag: Berenberg Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Es ist die Königsdisziplin der Kammermusik, und seit dreißig Jahren zählt das 1985 in Ost-Berlin gegründete Vogler Quartett zu den international renommiertesten Streichquartetten – in unveränderter Besetzung. Diese Gespräche mit Frank Schneider, dem langjährigen Intendanten des Berliner Konzerthauses, zeigen, wie ein gemeinsames Musikerleben über eine so lange Zeit die Spannung halten kann. Eine sehr persönliche Künstlerbiografie, mit Reflexionen zum musikalischen Selbstverständnis, kunstpolitischen Engagement und, natürlich, dem Alltag zu viert.
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San Francisco Mai 1989 Im vereinten Deutschland (1990 – 2000)
Konzerte werden in der Regel lange vor ihren Terminen geplant und können daher auch auf die Wechselfälle des Lebens keine Rücksicht nehmen. Sie haben den Mauerfall vor Ort versäumt und die anderen wilden Monate sicher überwiegend aus der Ferne registriert. Die schockierenden Umwälzungen dieser Zeit mögen für Sie auch weniger aufregend gewesen sein als für die große Mehrheit Ihrer Mitbürger: Reisefreiheit hatten Sie, ebenso die begehrte D-Mark. Die neue Demokratie an den Runden Tischen wie die ersten freien Wahlen dürften Sie begrüßt haben, weil auch Ihnen radikale Reformen des polit-bürokratischen Systems am Herzen lagen. Es würde mich eigentlich wundern, wenn Sie den historischen Tag der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, den 3. Oktober 1990, zu Hause verbracht hätten. SFO: An diesem Tag haben wir ein Konzert in Tel Aviv gespielt. Wir waren einer Einladung zu zwei Konzerten in der israelischen Hauptstadt gefolgt, wohnten aber in einem Kibbuz. Dort hörten wir ein Konzert des israelischen Armeeorchesters mit Guy Braunstein als Solisten, dem späteren Konzertmeister der Berliner Philharmoniker, der in Stiefeln und Armeeuniform ein Mozart’sches Violinkonzert spielte – mit eigenen Kadenzen, unglaublich delikat und filigran, im Gegensatz zu dem martialischen Outfit des Orchesters. In dem kulturbewussten Kibbuz fand zu dieser Zeit ein kleines Festival statt, bei dem wir dann ein weiteres Konzert gaben. Die Kritik in Tel Aviv nahm kurioserweise Bezug auf den deutschen Feiertag, indem sie bemerkte, wir hätten sehr ernst gewirkt und unsere Freude nicht gezeigt, denn die sei für Deutsche wohl angemessen bei dem besonderen Ereignis der Wiedervereinigung. SFE: Vielleicht entsprach der Ernst unserer damaligen Stimmung, denn er brachte für das Quartett eine Fülle neuer, offener Fragen. Hat Sie das Leben im Kibbuz eventuell an etwas erinnert, das zu Hause gerade zu Grabe getragen worden war? TV: Ja, wir hatten dort in gewisser Weise das Gefühl, in der DDR zu sein. Es herrschte der gleiche Ton, den wir kannten, stolz und euphorisch wurde uns erzählt, dass keinem etwas gehört, es also kein Eigentum gibt, dass Kinder in speziellen Einrichtungen mit Internat kollektivistisch erzogen werden – alles Grundstrukturen, die stark sozialistisch geprägt waren. Erzählt wurde mit leuchtenden Augen! Und das zu uns, die nur immer dachten: Wir wissen, dass so etwas nicht wirklich funktioniert. FR: Andererseits waren wir insgesamt drei Mal in Israel und von vielen anderen Dingen stark beeindruckt. Dazu gehört die Spielkultur des Israel Philharmonic Orchestra, dem wir zuhören durften. Beeindruckend, wenn zu Beginn des Konzerts alle aufstehen und der schwungvollen Nationalhymne lauschen. SFE: Sie war das Beste am ganzen Abend! Mit Israel haben Sie nach den USA zum zweiten Mal die Grenzen Europas hinter sich gelassen. Später werden Sie noch mit Japan und Australien weitere Kontinente betreten, so dass Ihre weltweite Präsenz beinahe zu einem Gleichnis jener grenzenlosen Freiheiten und Globalisierungstendenzen auch im Bereich der Kultur taugt, von denen man sich, zumal im gewendeten Osten, zu Beginn der neunziger Jahre das »Ende der Geschichte« und den Ausbruch ewigen Friedens und Wohlstands erhoffte. Unweigerlich gehört der Zusammenbruch der Sowjetunion in dieses Szenario, und so frage ich Sie – an Amerika erinnernd – nach Ihren Eindrücken vom anderen Großreich, das vor allem den Krieg gegen Hitler gewonnen hat. Sie werden sicherlich auch beim ehemals »Großen Bruder« der DDR und später beim so außerordentlich musikliebenden Volk der Russen häufig gastiert haben. SFO: Wir waren vor der Wende als Quartett im Rahmen eines Studentenaustauschs zu Besuch beim Moskauer Tschaikowsky-Konservatorium. Das war 1985. Dann noch einmal 1988 im Dezember aus Anlass des Treffens der künstlerischen Jugend der sozialistischen Länder. Ich nehme an, Sie reisten nicht allein, sondern als Angebotspaket mit Vertretern aller ernsten und leichten Musen. SFO: Wir waren Teil einer großen Delegation unter Leitung des damaligen Stellvertretenden Kulturministers Dietmar Keller. Wir sollten im »Rossija« in der Nähe des Roten Platzes auftreten, im damals größten europäischen Hotel mit einem Festsaal für ca. 3000 Besucher. In staubtrockener Akustik – schlimmer als in einer Besenkammer – sollten wir den zweiten Satz, die Variationen über »Der Tod und das Mädchen«, aus dem d-moll-Streichquartett von Franz Schubert spielen, und zwar unmittelbar nach einer Balalaika-Gruppe und vor einem Tanz-Ensemble aus dem Kaukasus. Wir haben uns zu spielen geweigert, weil ein Auftritt, bei dem man uns kaum hören würde, zumal zwischen weit derberer Kost, für niemand Sinn macht. Und der Minister, statt bürokratisch zu toben, hat unseren Gründen schließlich zugestimmt, wir mussten nicht spielen, durften aber eine Woche touristisch entspannt genießen. TV: Das Ganze war ohnehin eine Farce, weil auch Treffen mit anderen Jugendlichen gar nicht vorgesehen waren. Wir waren isoliert, haben den Kreml, Klöster, das Bolschoi und andere Highlights besichtigt, hatten aber keine einzige Begegnung mit russischen oder anderen ausländischen Künstlern. Stattdessen fanden inoffizielle Essen mit russischen Gastgebern statt, bei denen wir deren ausufernde Trinkkultur studieren konnten und lange Toasts von kaukasischer oder georgischer Seite, sogar auf Stalin und Hitler, aushalten mussten. Es war alles in allem grotesk und wohl unsere einzige Konzertreise ohne Konzert, als staatlich finanziertes Nichtstun wider Willen. In Ihrer offiziellen Quartett-Biographie geben Sie neben Professor Feltz und dem LaSalle Quartet noch zwei ungarische Künstler als Mentoren an: Der eine ist der legendäre Dirigent und Geiger Sándor Végh, ein Schüler Jeno Hubays und Freund Béla Bartóks, der ein nach ihm benanntes, berühmtes Streichquartett gegründet hat und mit ihm als Emigrant ab 1946 von Paris aus international konzertierte. Es galt rasch als eines der weltbesten Ensembles, das, romantische Attitüden hinter sich lassend, empathische Musikalität mit höchster, sachlicher Werktreue verband. SFO: Wir hatten eine Einladung zur Teilnahme am Internationalen Meisterkurs »Prussia Cove« in Cornwall (England). Sándor Végh war dessen Begründer und veranstaltete dort bis ins hohe Alter Meisterklassen für Kammermusikspiel. Eine Einladung dorthin zu erhalten bedeutete eine wirkliche Auszeichnung, und ihr zu folgen war Ehrensache. Die Teilnahme am Kurs war für uns eine äußerst spannende Erfahrung – nicht nur durch das Erlebnis der Aura einer legendären Berühmtheit für unser Fach, sondern mehr noch durch die Befriedigung, authentische Überlieferungen aus einem riesigen Erfahrungsschatz vermittelt zu bekommen. Wie er uns namentlich in Bartóks 6. Streichquartett unterrichtet hat, ist mir unvergesslich. Übrigens saß hinter Végh wie ein Eleve stets der junge András Schiff und folgte jeder Regung des Meisters. Ich glaube, dass er eine Art Protokoll geführt hat – wie man sagt, eine sehr ungarische Tradition der Wissensvermittlung, die viel für sich hat. TV: Auf Sándor Végh müssen wir offensichtlich – wir schrieben 1988 – wie verschüchterte Mäuschen aus dem Osten gewirkt haben (was wir damals sicherlich auch waren), denn als Resumee des Kurses hat er uns, natürlich neben anderem, eindrücklich ans Herz gelegt: »Ihr seid ein gutes Quartett, aber ihr müsst viel und gut reisen und die Welt kennenlernen.« SFO: Ich glaube, eine ganz andersartige, jedoch ebenfalls unvergessliche Erinnerung ist noch mit dem Seminar verknüpft. Ein ziemlicher Schock. Wir waren gebeten worden, in einem der Konzerte in der Umgebung ein Haydn-Quartett zu spielen. Wir fuhren etwa eine Stunde mit dem Bus, zuvor aber hatte ich meine Noten in Franks Geigenkasten gelegt, ohne ihm das zu sagen. Bevor wir losfuhren, sah er flüchtig in den Kasten, Haydn war da, nur eben nicht seine, sondern meine Stimme. Als wir auf das Podium wollten, stellte er mit Erschrecken fest, dass seine Noten fehlten. Es gab keine Chance, sie zu beschaffen – der Weg war zu weit, es gab noch kein Internet. Was hat er gemacht? Er hat zum Schein für das Publikum andere Noten aufgelegt und das gesamte Haydn-Quartett von vorn bis hinten ohne einen Fehler auswendig gespielt. TV: Ich war furchtbar aufgeregt. Er sah käsebleich aus, war jedoch relativ ruhig. Ich merkte, dass er etwas zurückhaltender, ein wenig fragiler als sonst spielte, obwohl er musikalisch alles mitmachte, was interpretatorisch anstand. Ich dachte immer, wenn er jetzt aufhört …, also es war unvorstellbar, was so alles hätte passieren können! Aber es ging gut. Eine kolossale...


Frank Schneider, geboren 1942 in Großerkmannsdorf. Studium Dirigieren (1961–1964, Musikhochschule Dresden) und Musikwissenschaft (1964–1968, Humboldt-Universität Berlin). 1975 Promotion Dr. phil., 1975–1980 Dramaturg Komische Oper Berlin. 1980–1989 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Akademie der Wissenschaften der DDR, dort 1989 Professor für Musikwissenschaft und 1990 Direktor des Instituts für Ästhetik und Kunstwissenschaften. 1992–2009 Künstlerischer Intendant des Konzerthauses Berlin. Umfangreiche wissenschaftliche und publizistische Tätigkeit, vor allem über Musik des 20. Jahrhunderts und Methodik der Musikgeschichtsschreibung. Lebt in Berlin, verheiratet, 3 Kinder.


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