Schröder Paula Modersohn-Becker
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-451-80528-8
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Auf einem ganz eigenen Weg. Romanbiografie
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Reihe: HERDER spektrum
ISBN: 978-3-451-80528-8
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Paula Modersohn-Becker: zunächst verkannt, heute weltberühmt. Die Künstlerkolonie Worpswede: leidenschaftliche Verbindung von Leben und Arbeit. Es ist schwer, Frau eines Künstlers zu sein - und noch schwerer, wenn man selbst eine Malerin ist, die anerkannt werden will. Stefanie Schröder schildert das Leben Paulas zwischen Konvention und Unabhängigkeit. Eine faszinierende Frau, die darum ringt, sich zu verwirklichen und die für ihre Bilder lebt, allen Widerständen zum Trotz.
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Februar 1906, Paula im Zug nach Paris. Eisnebel verdeckte die Landschaft, und die Fahrt schien ins Ungewisse zu gehen. Paula legte sich den Wollschal über die Schultern. Ihr fröstelte. Sie schloss die Augen, wünschte sich Sommersonne, flimmernde Luft, Blumen, Hummelgesumm. Nichts erinnerte Paula so sehr an die Kindheit wie Hummeln. Hinten im Dresdener Garten, hinter der Teppichstange, dem Turnreck der Kinder bei den Blumenbeeten, waren die Start- und Landeplätze. Hummeln über Reseden, duftenden Levkojen, Hitze, Rausch des Sommers. Die neunjährige Paula mittendrin, berstend voll mit Gefühl. Nichts konnte man dagegen tun, es war stärker. Sie wusste noch, sie wollte zum Duft werden, der aus den Blüten stieg, zum Wind, der die Blätter streichelte. Ein Schluchzen schüttelte sie. Kurt verstand das nicht, war erschrocken, der zwölfjährige Bruder, weitaus vernünftiger. Grundloses Weinen, was soll das? Paula schluckte, wusste nichts weiter zu sagen. War Glück zu beschreiben? Wenn sie an diese Zeit dachte, waren die Sommer heiß und lang, unwahrscheinlich lang, und die vielen Spaziergänge führten ins »Gehege«. Wenn Paula wollte, konnte sie losrennen, die Zöpfe lösten sich auf, das Kleid flatterte. Wenn sie es darauf anlegte, konnte nur Günther, der achtjährige, mithalten. Kurt wollte nicht, und Milly, die elfjährige Schwester, blieb bei den Eltern. Warum musste die eine Tochter immer rennen? Wollte sie als Erste bei den Enten sein? Die Enten füttern wie üblich, sich ans Wasser hocken und Brotstücke den heranrudernden entgegenstrecken. Habt ihr Butterbemmen dabei? So hießen Butterbrote in Dresden. Paula erinnerte diese Spaziergänge zum Gehege. Und im Gedächtnis noch immer, was der Vater ihnen einst erklärte, Gehege, das bedeutet Tiergehege, war ein Jagdrevier gewesen, von Fürsten im 17. Jahrhundert planmäßig angelegt. Und wenn sie jetzt die Augen geschlossen hielt, konnte sie hinter den Lidern das Bild sehen, das Auengelände im Bogen der Elbe, den tiefen weit hinuntergezogenen Himmel, die Wolkenformationen über der Laubbaumreihe, Flirren, Mücken über den Wasserflächen und diese Lastkähne mit den eckigen Segeln, die gegen die Luft standen. Nie waren die Wolken weißer und gewaltiger. Und dann Sommer 1885 der Ausflug nach Hosterwitz. Sie waren sieben Kinder. Paula, die neunjährige, hielt sich an der Seite ihrer Kusine Cora. Cora, mit ihren elf Jahren schon eine Persönlichkeit, war Paulas Vorbild. Sie bewunderte Coras ausgeglichenen Bewegungen, ihre selbstsichere Art zu sprechen, sie liebte ihre Schönheit. Kusine Cora Parizot war seit ein paar Jahren mit ihren Eltern und Geschwistern aus Java zurück. Mit ihr kam der erste Schimmer von Bewusstsein in mein Leben, sagte Paula später. Sie war entzückt, wenn Cora Beethoven spielte, wenn Cora tanzte, wenn sie Gedichte vortrug. An jenem Tag waren sie in fröhlichster Stimmung von Dresden nach Hosterwitz hinausgefahren. Als Cora ihnen am Morgen auf dem Klavier Pour Elise vorspielte, hatte sie nur noch einen halben Tag zu leben. Die Kinder spielten an jenem Tag in den Sandbergen von Hosterwitz, während die Erwachsenen einen Spaziergang machten am Sommerhaus von Carl Maria von Weber vorbei zur Kleppmühle. Paula konnte sich heute noch an ihre Anstrengungen erinnern, den rutschenden Abhang des Sandberges hinaufzukommen, bis die Sandmassen über ihr zusammenstürzten. Sechs Kinder wurden gerettet. Die verschüttete Cora lebte nicht mehr. Und später sich einreden wollen, dass es vielleicht nur ein Traum war, der rollende Sandberg, die schreckliche Stille, die Angst, die den Kopf leersaugte, den Atem drosselte, den Schmerz nicht empfinden ließ. Doch waren die Augen nun für immer geöffnet, die Erfahrung blieb, dass es den Tod gab, dass jemand weg sein konnte für immer, dass es das Unwiederbringliche gab. Und dass es ein großes Unglück war. Und nicht glauben wollte sie da, dass die Sonne weiterhin leuchtete, dass die Wolken weiß und unschuldig dahinzogen, und dass man je wieder lachen könnte. Worte dafür finden, Ausdrücke, das Bild aus sich herausdrücken. Niemand war da, der Paula half. Die Mutter war zu beschäftigt. Wie hatte sie bloß die Strapazen überstanden, beinahe Jahr um Jahr ein Kind! Erst nachdem Günther geboren war, gab es eine Pause von drei Jahren, dann kam Hans, der lebte nur zwei Jahre. Die Zwillinge Herma und Henner wurden im Jahr dieses Unglücks geboren, im September 1885. Paula, die tief erschüttert war, musste allein damit fertig werden. Um den Schock zu überwinden – wenn dies überhaupt möglich war – kümmerte sich Paula um Maidli, Coras jüngere Schwester. Cora war das erste Ereignis in meinem Leben, schrieb sie später an Rainer Maria Rilke nach Berlin, als in ihrer Todesstunde Maidli und ich unsere Köpfe tief in den Sand steckten, um das Furchtbare nicht zu sehen, was wir ahnten, da sagte ich zu Maidli: Du bist mein Vermächtnis. Und sie ist es geblieben. Und weil sie mein Vermächtnis ist, bitte ich Sie, ihr ein wenig Schönheit zu bringen. In jenem Unglücksjahr wurde Paula sprunghaft, war mal lebhaft, dann wieder mürrisch. Antworten kamen linkisch, verlegen, aber sie hatte keine Ahnung, warum das so war. Aufschreiben vielleicht, Tagebuch führen. Formulierungen finden, die richtigen. Du bist nun wie es scheint, mehr nach dem Vater geraten und hast auch nicht die literarische Ader deiner Mutter, schade. Vaters Worte. Erst viel später wird ihre Unruhe gebannt, als sie sechzehnjährig in England Zeichenunterricht bekam. Der Zug nach Paris ruckte an, kam wieder in Fahrt. Sie passierten die belgische Grenze. Hatte Paula Fotos von daheim eingesteckt? Sie kramte in ihrer Reisetasche, zog aus einem Kasten ein Familienfoto der Beckers heraus: Eine Kaffeetafel, Sommer 1893 in Bremen, im Garten in der Schwachhauser Chaussee 29. Zehn Personen am Tisch, Tassen und Teller auf weißer Fransendecke. Mutter Mathilde schenkt Kaffee ein, steht in der Mitte. So war das nun eben, Mutter Mathilde im Mittelpunkt und aktiv. Was wusste man von seinen Eltern? Mit welchen Eigenschaften stattete man sie aus? Belesen, vielseitig interessiert, reiselustig, so war Mathilde. Hatte sie nicht eine wunderschöne ausgebildete Stimme? Welch sympathische, gebildete Frau, man konnte sich wunderbar mit ihr unterhalten. Christiane Rassow, Frau des Senators Rassow, eine wichtige Persönlichkeit im Bremer Kulturleben, war von Mathilde begeistert. Frau Rassow, die sich für ein Mädchengymnasium in Bremen einsetzte, hatte eine neue Freundin gefunden. Mathilde war aufgeschlossen für alles, was mit Kultur zusammenhing, war gesellig. Als zweitjüngste von sechs Geschwistern war Mathilde Gemeinschaft gewohnt. Ihr Elternhaus stand in der Hansestadt Lübeck. Adolf Ludwig Heinrich Friedrich von Bültzingslöwen hieß der Vater. Seine Vorfahren kamen aus dem Raum Sachsen, Thüringen, und er war Kommandant des Lübischen Truppenregiments von zweihundertunddreißig Mann, eine Oldenburgisch-Hanseatische Brigade, die 1867 aufgelöst wurde. Zeitweise war er in Lübeck, zeitweise in Bremen stationiert, pflegte Kontakte zu Bremer Kaufleuten, die Geschäftsverbindungen nach Übersee hatten. Dass Vater Ludwigs Einkommen nicht hoch war, erwähnte man nur, um die Kinder zur Sparsamkeit zu erziehen. Wenn Mathilde anfing, ihre Geschwister aufzuzählen, begann sie meistens bei Wulf, ihrem zweitältesten Bruder. Wulf von Bültzingslöwen hatte Plantagen auf Java und Sumatra besessen und sich später in Berlin in einer Villa am Schlachtensee niedergelassen. Cora Hill hatte er geheiratet, Tochter aus erster Ehe von Charles Hill aus England. Der war in zweiter Ehe mit Marie verheiratet, und die war eine Halbschwester von Woldemar Becker. Verwickelte Verwandtschaftsverhältnisse? Es gab verzwicktere. Mathilde erzählte dann von Günther, ihrem ältesten Bruder, auch ein Kaufmann, auch ein Plantagenbesitzer auf Java. Sie erzählte von Herma, der jüngsten Schwester, die mit ihrem Mann Gustav Parizot den dritten Kaufmann und Plantagenbesitzer in die Familie brachte und 1884 von Java nach Berlin zurückkehrte. Elf Jahre älter als Mathilde war ihre Schwester Paula. Sie hatte in Berlin in zweiter Ehe den Major Wilhelm Rabe geheiratet. Die zweitälteste Schwester Emma heiratete Dr. Theodor Schäfer, Oberlehrer am Alten Gymnasium zu Bremen. Zwei Schwestern in Bremen, zwei Schwestern in Berlin. Mathilde bereiste gern Italien, verlebte oft Frühlingstage in Florenz und Rom. Das Mitbringsel für Paula war der gewünschte Zitronenzweig. Unternehmungslustig und welterfahren waren die Geschwister Bültzingslöwen, und man konnte sich auf sie verlassen. Wichtige Stützpunkte waren die Geschwister der Mutter für Paula. Abwechselnd wohnte sie während ihrer Ausbildungszeit mal bei der einen, mal bei der andern Familie. Dass man etwas tun musste, brauchte man auch Mathilde nicht zweimal zu sagen. Wenn es ums Helfen ging, war sie spontan. Sofort war sie bereit, sich um einen Studenten zu kümmern, der an einer Augenkrankheit litt. Es wurde ihm vorgelesen, der tägliche Spaziergang mit ihm gemacht. Paula blickte wieder auf das Foto von der Kaffeegesellschaft. Es zeigte ein typisches Bild. Mutter Mathilde versammelte gern Gäste um sich herum, auch an diesem Nachmittag im Garten vorm Magnolienstrauch. Man war nie allein im Becker’schen Haus. »Wie oft unterbrach jemand unsere Leseabende«, dachte Paula. »Mutter klappte das Buch zu, und wir mussten die Handarbeit weglegen. Disziplin, Beachten von Regeln war Mathilde ein Bedürfnis. Ich habe mich oft recht klein vor ihr gefühlt«, dachte Paula. »Ich wusste manchmal nicht, wie ich mit ihr reden sollte, um sie nicht wieder zu verärgern.« Mutter Mathilde wurde ungeduldig, wenn es nicht so lief, wie sie das wollte. Wie ungeduldig war Mathilde zum Beispiel...