Schuff / Seel | Erzählungen und Gegenerzählungen | Buch | 978-3-593-50566-4 | sack.de

Buch, Deutsch, Band 16, 304 Seiten, Format (B × H): 146 mm x 215 mm, Gewicht: 390 g

Reihe: Normative Orders

Schuff / Seel

Erzählungen und Gegenerzählungen

Terror und Krieg im Kino des 21. Jahrhunderts

Buch, Deutsch, Band 16, 304 Seiten, Format (B × H): 146 mm x 215 mm, Gewicht: 390 g

Reihe: Normative Orders

ISBN: 978-3-593-50566-4
Verlag: Campus Verlag GmbH


Die Anschläge vom 11. September 2001 und die sich anschließenden militärischen und paramilitärischen Konflikte sind im Kino von Anfang an mit einem intensiven Widerspiel von Erzählungen und Gegenerzählungen beantwortet worden. Diesen vielstimmigen audiovisuellen Dialog nimmt der Band zum Anlass, die Rolle des Films in den kontroversen moralischen, rechtlichen und politischen Auseinandersetzungen der Gegenwart zu untersuchen.

Mit Beiträgen von Thomas Elsaesser, Astrid Erll, Daniel Martin Feige, Josef Früchtl, Klaus Günther, Vinzenz Hediger, Anja Peltzer, Jochen Schuff, Martin Seel, Christiane Voss und Hans Jürgen Wulff.
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Inhalt

Vorwort 7

Einleitung: Erzählung, Rechtfertigung, Terror und Krieg im Kino 17

Jochen Schuff, Martin Seel

Pornographie der Paranoia und Professionalität der Pathologie

Kathryn Bigelows The Hurt Locker 49

Jochen Schuff

Genre-Hybridisierung als (parapraktische) Interferenz

Zero Dark Thirty 71

Thomas Elsaesser

Parapraktische Rechtfertigungsnarrative

Kommentar zu Elsaesser 101

Klaus Günther

Die Bilder des Krieges und der Krieg der Bilder

Über In the Valley of Elah und Redacted 125

Daniel Martin Feige

Brutale Kontingenz

Der Schrecken von United 93 145

Josef Früchtl

(Post-)kriegerischer Alltag im dokumentarischen Blick

Über Life After the Fall 159

Christiane Voss

Wiederholung und Rechtfertigung

Zur Logik der Mini-Serialität von Generation Kill 183

Astrid Erll

Bipolare Bilder

Zum Verhältnis von Raum, Indexikalität und Überwachung

in der Fernsehserie Homeland 201

Anja Peltzer

Die Musiken des Alltags und der Krieg

Zu den Funktionen der Musik in Filmen des Irakkriegs 215

Hans J. Wulff

Der unfassbare Feind

Gillo Pontecorvos Battaglia di Algeri und die Doktrin der asymmetrischen Kriegsführung 241

Vinzenz Hediger

Begleitende Kontextualisierung

Indirekte Filme über 9/11 und die Folgen 275

Martin Seel

Autorinnen und Autoren 297

Filmregister 300


Vorwort

Erzählungen sind keine Einzelgänger. Auch wenn nur eine Geschichte erzählt wird, sei es mündlich, sei es schriftlich, sei es in unbewegten oder in bewegten Bildern, sei es auf den Bühnen des Theaters, der Oper oder des Tanzes: Sie antwortet immer bereits auf andere Erzählungen und andere Arten des Erzählens. Sie nimmt deren Faden auf, wiederholt deren Muster oder variiert sie, spinnt sie fort oder schmückt sie aus, polt sie um oder parodiert sie. Allein deshalb stehen Erzählungen nie allein. In ihrer jeweiligen Form verhalten sie sich auch dann zu den Verfahren und Formen anderweitigen Erzählens, wenn sie mit den zu einer Zeit etablierten Konventionen einer oder mehrerer seiner Gattungen brechen. Das ist einer der Gründe dafür, warum zumal künstlerische Erzählungen nur selten mit einer Stimme sprechen; in ihnen hallen die Stimmen anderer Narrationen wider, in ihrer Sicht auf die erzählten Begebenheiten bleiben andere Sichtweisen auf das vergegenwärtigte Geschehen spürbar. Dies ist in besonderem Maß der Fall, wenn eine Vielzahl verschiedenartiger Erzählungen einem Stoff, einer dramatischen Situation, einem historischen oder politischen Großereignis und seinen Folgen gewidmet ist. Dann bildet sich ein Geflecht von Erzählungen und Gegenerzählungen, das so dicht ausfallen kann, dass oft nicht mehr klar ist, welches Erzählen auf welche Weise auf welche anderen Geschichten über die Art von Begebenheiten reagiert. Dann tragen Erzählungen und Gegenerzählungen miteinander eine Kontroverse über die Signatur und Reichweite des fraglichen Geschehens sowie über die angemessenen Reaktionen auf es aus: womit sich die Adressaten aufgefordert sehen, ihrerseits Teil dieses narrativ ausgetragenen Deutungsgeschehens zu werden.

Eine Situation dieser Art ist in jüngerer Zeit durch die ebenso rasche wie heftige Reaktion des filmischen Erzählens auf die Anschläge am 11. September 2001 und ihre bis heute andauernden Folgen entstanden. Seither sind Hunderte von Filmen unterschiedlicher Herkunft, Gattung, Machart und Ausrichtung produziert worden, die sich je auf ihre Weise mit den fraglichen Ereignissen befassen. Diesen in ästhetischer und politischer Hinsicht heterogenen Antworten des Kinos und anderer filmischer Formate auf die durch 9/11 ausgelösten militärischen und paramilitärischen Konflikte sind die Beiträge dieses Buches gewidmet. Aus verschiedenen thematischen und disziplinären Perspektiven wird untersucht, wie sich das Spektrum filmischer Erzählungen und Gegenerzählungen zu den moralischen, rechtlichen und politischen Kontroversen der Gegenwart verhält.

Die Verhältnisse sind nicht nur deswegen komplex, weil sich Erzählungen immer auch zu ihren faktischen und möglichen Gegenerzählungen in Stellung bringen und auf vielfältige Weise mit ihnen interagieren. Sie treffen auch, wie das im Fall von 9/11 und den Reaktionen darauf überdeutlich wird, auf die Verarbeitung historischer Ereignisse in politischen, militärischen, juristischen, moralischen oder ideologischen Diskursen, die sich ihrerseits zu "Rechtfertigungsnarrativen" mit handlungsleitendem Einfluss formieren. Eine Untersuchung der Art und Weise, in der einzelne Erzählungen, in unserem Fall die filmischen Auseinandersetzungen mit den Ereignissen in der Folge der Anschläge in New York und Washington, sich auf begründende Erzählmuster beziehen, wirft zunächst die generelle Frage nach dem Modus des Erzählens und seiner Beziehungen zu Praktiken der Rechtfertigung auf. Diesen Beziehungen gehen die Herausgeber in ihrer ausführlichen Einleitung nach, in der Absicht, einen theoretischen Rahmen für die Deutung der Präsentationen von Terror und Krieg im Kino bereitzustellen.

Mit Blick auf die beiden einflussreichen und kontroversen Spielfilme der Regisseurin Kathryn Bigelow, The Hurt Locker und Zero Dark Thirty, eröffnen die Beiträge von Jochen Schuff und Thomas Elsaesser die Detailanalysen des Bandes. Schuff operiert an The Hurt Locker drei Themenfelder heraus, die dort sehr pointiert zur Geltung gebracht werden, darüber hinaus aber in vielen anderen der Filme zum Thema ebenfalls auftauchen: die Darstellung des (männlichen) Körpers und die Wirkung der Darstellung auf den Körper des Zuschauers, die Verhandlung von Pathologien sowie die formalen Charakteristika einer Bebilderung des "Ausnahmezustands". The Hurt Locker präsentiert sich in dieser Sicht als Überlagerung von Erzählungen und Gegenerzählungen des "War on Terror". Insofern Schuff The Hurt Locker in der Exposition seiner Themen als exemplarischen Film versteht, öffnen seine Überlegungen zugleich eine Reihe von Bezügen zu den folgenden Texten.

Elsaesser deutet Zero Dark Thirty nicht allein als Film, an dem sich politische und moralische Kontroversen entzündet haben, insbesondere, was die Darstellung von Folter und die Implikationen ihrer Wirksamkeit betrifft, sondern so, dass er zugleich als Erzählung und Gegenerzählung seiner Ereignisse verstanden werden muss. In seiner minutiösen Analyse zeigt Elsaesser, dass in Bigelows Film gerade die Wechselwirkung erzählerischer Zugänge zum Tragen kommt. Die Interferenzen, die Zero Dark Thirty mit anderen Filmen und Filmgenres erzeugt, machen ihn als "Parapraxis" lesbar - also als teils angelegte, teils unbeabsichtigte Verschränkung disparater Perspektiven auf die Ereignisse nach 9/11.

Die Frage, die Elsaesser am Ende seines Beitrags bewusst offenlässt, ob und wie nämlich parapraktische Widersprüche als Rechtfertigung fungieren könnten, nimmt Klaus Günther in seinem Kommentar zu Elsaessers Betrachtung in einer ergänzenden Überlegung auf. Zwar torpedieren performative Widersprüche im diskursiven Austausch von Gründen deren normative Kraft. Gründe aber sind häufig narrativ eingebettet, wobei die Logik ihrer argumentativen Konsistenz auf vielfältige Weise unterlaufen werden kann. Die komplexe Anlage von Erzählungen vermag durchaus widersprüchliche Positionen zu verschmelzen - als beabsichtigte oder unbeabsichtigte Hybridisierung von Erzählgenres sowie als interne Verkopplung von Erzählungen mit ihren Gegenerzählungen. Es sind diese Modi des Erzählens, so argumentiert Günther, in denen widersprüchliche normative Standards und Perspektiven als solche normativ wirksam werden können.

Daniel Martin Feige kontrastiert in seinem Beitrag Paul Haggis' In the Valley of Elah mit Brian De Palmas Redacted. Die Filme sind, so Feiges These, komplementär zu verstehen: während In the Valley of Elah Bilder des Kriegs einsetzt, mit denen er die Kriminalgeschichte, die er erzählt, quasi von innen heraus zum Einsturz bringt, inszeniert Redacted vielmehr einen Krieg der Bilder, indem er jeglichen narrativen Standpunkt in einer Schichtung verschiedener Medien und Perspektiven auflöst. Die augenfällige Differenz der beiden Werke wurzelt aber in einer ähnlichen Haltung: Vergleichbar sind die beiden Filme in ihrer zugrundeliegenden Behauptung, dass sich die Logik des Krieges nicht in die Logik filmischer Erzählung einpassen lässt.

Josef Früchtl widmet sich anhand von Paul Greengrass' United 93 einem anderen Widerstand des Erzählens. Wie nämlich bereitet man audiovisuell eine Geschichte auf, deren Verlauf jede Zuschauerin schon kennt? Greengrass löst diese Schwierigkeit, so Früchtl, indem er einerseits die Funktionsweisen des Dokudramas einsetzt, sie andererseits aber in einer extremen Nahsicht, in einem Kino der somatischen Erfahrung und des Affekts, auflöst. Gerade so macht United 93 im historischen Moment die "brutale Kontingenz" der Ereignisse sichtbar und vor allem spürbar.

Dass auch dokumentarische Filme stets Maßgaben ihrer Narrativierung unterliegen, und also ihren Anspruch auf Darstellung oder Intervention stilistisch und affektiv rahmen müssen, demonstriert Christiane Voss anhand der irakisch-britischen Produktion Life After the Fall von Kasim Abid. Seine sehr persönliche Erzählung aus dem Irak der Besatzungszeit tönt dieser Film, so Voss, im affektiven Modus der Depression. Gerade mit dieser narrativen Organisation öffnet er sich aber auch für den "Einbruch des Realen", an dem sich eine spezifische Erkenntnisleistung dieses Dokumentarfilms festmacht: die Erfahrung der prinzipiell undarstellbaren Gewalt des Kriegs.

Zwei Fernsehserien, die von Front und Heimatfront nach 9/11 erzählen, untersuchen Astrid Erll und Anja Peltzer in ihren Beiträgen. Erll deutet die Miniserie Generation Kill als performative Rechtfertigungserzählung, die zugleich konventionalisierte Formen des Erzählens vom Krieg reflektiert. Insbesondere erweitert und modifiziert diese Serie die Erzähl- und Rechtfertigungslogik des klassischen combat films, indem sie dessen inhärente Unübersichtlichkeit noch einmal erheblich steigert. Daraus ergibt sich ein "multi-exemplarisches" und "multi-kontrapunktisches" Erzählen, das verstärkt die Unordnung des Krieges und die Unordnung von Rechtfertigungsprozessen inszeniert. Gerade das Ende der Serie, argumentiert Erll, führt dabei noch einmal die Dialektik von Authentizität und Imagination in der Darstellung des Kriegs im Irak vor Augen, die die Erzählung insgesamt strukturiert.

Die charakteristische Ambivalenz, die die Bilder der Fernsehserie Homeland auszeichnet, steht im Zentrum von Peltzers Beitrag. Wie sich die Figuren in Homeland eindeutigen moralischen oder ideologischen Zuordnungen entziehen, so changieren auch die Bilder der Serie zwischen Authentizität und ihrer medialen Vermittlung. Dies lässt sich insbesondere an den verschiedenen Formen von Überwachungsbildern zeigen, die von Anfang an ein stehendes Motiv der Serie bilden. Damit kartographieren die Serienbilder, so Peltzer, das titelgebende "Homeland" im Verweis auf ihr Außen - das heißt auf den Raum der Zuschauerin. Mit den Rechtfertigungen des "Kriegs gegen den Terror" verhandeln sie so zugleich seine Topographie.

Weniger das close reading eines einzelnen Films oder einer Serie bildet den Gegenstand des Beitrags von Hans J. Wulff, sondern der vergleichende Blick auf das gesamte Sample unter dem Aspekt der Musik. An einer umfangreichen Auswahl von Beispielen betrachtet Wulff den Einsatz der Filmmusik in den Kriegsfilmen, die im Irak und an der Heimatfront spielen. Die Spaltung und Schichtung von Erzählungen und Gegenerzählungen, die einen zentralen Schwerpunkt der vorangehenden Einzelanalysen ausmacht, zeigt sich für Wulff gerade in den Filmmusiken. Auch hier stehen konfligierende Perspektiven gegeneinander, die sich in einem Zusammenprallen verschiedener musikalischer Stile zeigen. Die Musik untermalt damit die Diskurse um Trauma und Aggression, Fremdheit, Agitation und Depression, die die Rechtfertigungsnarrative nach 9/11 insgesamt strukturieren.

Den Abschluss des Bandes bilden schließlich zwei Beiträge, die statt Filmen oder Serien, die von 9/11 und den Folgen handeln, solche betrachten, die damit eher vermittelt in Beziehung stehen. Vinzenz Hediger befragt in seinem Beitrag die militärischen Reaktionen auf 9/11 nicht anhand nachträglicher filmischer Reaktionen auf sie, sondern von einer Filmvorführung aus, nämlich der Sichtung des 1966 produzierten Battaglia di Algeri im Pentagon im Jahr 2003. Hediger zeichnet nach, wie sich in diesem Film und der Szene seiner Vorführung die Verwerfungen der US-amerikanischen Militärdoktrin in der Reaktion auf den "unfassbaren Feind" des Terrorismus kristallisieren. Hier stellt sich eine filmische Erzählung in doppelter Hinsicht als Quelle von Rechtfertigungen heraus. Battaglia di Algeri diente zum einen der Bestimmung der Regeln der "asymmetrischen Kriegsführung", zum anderen scheint in ihm bereits eines ihrer zentralen Probleme auf: dass sich "der Terror" als Feind nicht zeigt, sondern konstruiert werden muss - vor allen Dingen im Akt der Folter.

Dass die Filme, die sich spezifisch den Geschehnissen des 11. September 2001 und dem Krieg im Irak widmen, im Kontext stehen von anderen Filmen, die die Geschehnisse nicht explizit, sondern durch Anklänge, Bezüge oder Verweigerungen ins Bild setzen, ist Gegenstand des Beitrags von Martin Seel. An einer Reihe unterschiedlicher Beispiele zeigt Seel, dass und wie sich aus diesen "indirekten" Filmen nochmals erweiterte Perspektiven auf den "Krieg gegen den Terror" ergeben. Die Reichweite, zugleich aber die Einflüsse der Narrative, die die Ereignisse von Terror und Krieg politisch und ideologisch einbinden und wirksam machen, werden in diesen vergleichsweise peripheren Bearbeitungen noch einmal auf eine besondere Weise sichtbar.

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Das vorliegende Buch geht auf ein Forschungsprojekt unter dem Titel "Rechtfertigungsnarrative: Das Beispiel des gegenwärtigen Kinos" zurück, an dem die beiden Herausgeber im Rahmen des Exzellenzclusters "Die Herausbildung normativer Ordnungen" an der Goethe-Universität Frankfurt/M. seit 2010 gemeinsam gearbeitet haben. Der Fokus des Projekts lag - wie derjenige dieses Bandes - auf einer Interpretation zweier eng miteinander verbundenen Gruppen von Filmen.

Die erste Gruppe bilden - formal und ideologisch heterogene - Filme, die in mehr oder weniger direkter Reaktion auf die Anschläge vom September 2001 und die Kontroversen um ihre Deutung entstanden sind. Zu den bekannteren zählen hier: 11'9'01, Land of Plenty, 25th Hour, United 93, World Trade Center, Rendition, Extremely Loud and Incredibly Close und Zero Dark Thirty, die Dokumentar- bzw. Essayfilme 9/11, Fahrenheit 9/11 und The Road to Guantánamo sowie die Fernsehserie Homeland.

Die zweite Gruppe bilden - wiederum: formal und ideologisch heterogene - Filme, die seit 2003 die Folgen der alliierten Invasion in den Irak behandeln. Zu den bekannteren unter diesen zählen: Brødre und seine spätere Hollywood-Version Brothers, In the Valley of Elah, Redacted, Battle for Haditha, The Hurt Locker, The Messenger, Green Zone und American Sniper, die Dokumentar- bzw. Essayfilme Heavy Metal in Baghdad und Standard Operating Procedure sowie die Fernsehserie Generation Kill.

Angesichts dieser illustrativen Aufzählung einiger der "bekannteren" Produktionen sollte allerdings nicht vergessen werden, dass keineswegs allein US-amerikanische oder europäische Produktionen die Thematik des "War on Terror" aufnehmen (auch wenn sie die große Mehrheit darstellen). Filme wie Life After the Fall sowie Homeland (Iraq Year Zero) und L'aube du monde beleuchten das Geschehen vor und nach 2003 aus der Perspektive irakischer Regisseure. Kurtlar Vadisi: Irak (Tal der Wölfe: Irak), das in der Türkei überaus erfolgreiche, im Irak spielende Kino-spin-off der gleichnamigen Fernsehserie, setzt sich unter anderem mit den Folterungen in Abu Ghraib und einer Reihe weiterer Kriegsverbrechen in einer gegenüber dem US-Militär höchst polemischen Weise auseinander. Die aus den US-amerikanischen Produktionen geläufigen Stereotypen des Kontrasts zwischen "us" und "them" werden hier ins genaue Gegenteil verkehrt, aber damit zugleich in gespiegelter Form übernommen. Auch eine ganze Reihe von Bollywood-Filmen nimmt direkt oder indirekt auf die Lage seit 9/11 Bezug, darunter der Kassenschlager My Name is Khan, in dem es, wie in etlichen verwandten Produktionen, um die veränderte Situation von indischen Muslimen sowohl in ihrer ursprünglichen Heimat als auch in der Fremde geht. Man kann an diesen Filmen beobachten, wie die Anschläge des 11. September 2001 und ihre Folgen in eigene Traditionen und Konventionen des Erzählens eingebettet werden, woraus sich eine wiederum andere Sicht auf die seither entstandenen Weltzustände ergibt.

Zu bedenken ist auch, dass der Begriff "Kino" weder im Titel dieses Bandes noch im Kontext des Projekts, aus dem es hervorgegangen ist, allzu wörtlich zu nehmen ist. Tatsächlich im Kino erscheinen vor allem die größeren und erfolgreicheren Produktionen wie Zero Dark Thirty oder American Sniper. Eine Menge der kleineren Produktionen fallen unter die jüngst breiter diskutierte Unterscheidung zwischen Kino- und Festivalfilmen; letztere zeichnen sich dadurch aus, dass sie nur einem sehr kleinen (Fach-)Publikum tatsächlich im Kino (als Institution und Ort) zugänglich sind, dem größeren Rest ihres Publikums dann im Fernsehen, auf DVD, als Download oder Stream. Eine weitere Gruppe sind die Formate, die direkt für die Ausstrahlung im Fernsehen und für den DVD-Verkauf produziert sind. Hierunter fallen - neben eher klassischen Spiel- und Dokumentarfilmen - auch die Fernsehserien, denen besonders in den aufwändig produzierten Qualitätsformaten in jüngerer Zeit großes Interesse von Seiten des Publikums, der Kritik und auch der Forschung entgegengebracht wird, wie es in unserem Kontext vor allem für die Serie Homeland gilt. Schließlich sind diejenigen Film- und Videoproduktionen zu nennen, die gar nicht in Kino oder Fernsehen, sondern im Kunst- und Museumskontext zu sehen sind. Zwei Beispiele seien genannt: Eine Reihe von Arbeiten Harun Farockis - darunter etwa die mehrteilige Videoinstallation Serious Games - setzt sich mit den Kriegen der letzten Jahre auseinander. Auch Omer Fast hat Videoarbeiten produziert, die in diesem Kontext gehören - etwa 5,000 Feet is the Best und Continuity, denen bei der Biennale in Venedig 2011 sowie bei der documenta 13 in Kassel große Aufmerksamkeit zuteil wurde. Das ausführliche Filmregister am Ende dieses Bandes, das alle Filme aufführt, die in seinen Beiträgen behandelt werden oder Erwähnung finden, gibt insofern einen Einblick in das weite Spektrum der filmischen Formen, die in Auseinandersetzung mit Terror und Krieg seit 9/11 entstanden sind oder Bezüge dazu bilden, auch wenn es keinen annähernd vollständigen Überblick über die einschlägigen Produktionen darstellt.

In den in diesem Band behandelten Filmen werden, mit eher rekonstruierender oder fingierender Ausrichtung, ganz verschiedene Geschichten und Variationen von Geschichten der Differenz von Gewalt und Gegengewalt, Recht und Unrecht und ihren Wirkungen auf einzelne Personen oder Personengruppen erzählt. In ihnen werden gesellschaftliche Prozesse in lauter oder leiser, kämpferischer, verstörender oder versöhnlicher Manier vergegenwärtigt - jedoch stets mit starken normativen Implikationen. Bei der komparativen Untersuchung dieser Filme kommt es nicht zuletzt auf den Gehalt der jeweiligen Form des Erzählens an, und somit darauf, wie sie in der Darbietung der jeweiligen Vorkommnisse normativ zu ihnen Stellung nehmen. Dies betrifft wiederum das Verhältnis von Rechtfertigung und Erzählung. Eine Reihe von Forschungsfragen kann dessen Erkundung leiten. Wie verhalten sich Rechtfertigung und Erzählung in aktuellen Filmen zueinander? Können filmische Narrative selbst Rechtfertigungen sein oder ist es vielmehr so, dass sie in unterschiedlichen Kontexten als Rechtfertigung dienen - als Gründe und Gegengründe, die letztlich diskursiv vorgebracht werden müssen (oder müssten)? Damit stellt sich zugleich die Frage nach Art, Verhältnis und Status der Wertvorstellungen, die hierbei im filmischen Medium verhandelt werden. Wie verhält sich die Etablierung zu der Erschütterung von Wertvorstellungen in aktuellen Filmen? Werden durch einschlägige Filme Typen normativer Rechtfertigung propagiert oder wird vielmehr ein Raum möglicher Rechtfertigungen vermessen? Und wie sehr ignorieren oder dramatisieren einschlägige Filme den Prozesscharakter normativer Ordnungen (zum Beispiel durch den Rückgriff auf archetypische Muster, ihre Demontage oder den Verzicht auf sie)?

Nach unserer Einschätzung zeichnet sich hier zum einen die Hypothese ab, dass die Filmproduktion in den genannten Sparten keinen eindimensionalen Rechtfertigungsdiskurs unterstützt, sondern vielmehr - zum Teil erheblich - dazu beiträgt, den Bereich des normativ Denkbaren, Erwartbaren, Prekären und Bedrohlichen auszuleuchten, und somit Voraussetzungen von Legitimität befragt, ohne selbst die Leistung normativer Rechtfertigung übernehmen zu können. Zum anderen lässt sich an den von uns gesichteten Filmen nicht selten ein deutlicher Primat der Erschütterung gegenüber der Etablierung normativer Perspektiven beobachten. Dem geläufigen Pro und Contra angesichts der umstrittenen politisch-moralischen Rechtfertigungen in den jeweils behandelten Konflikten wird eine Sicht - und nicht selten: eine Verschränkung von Sichtweisen - gegenübergestellt, die das gängige Pro und Contra oft gleichermaßen unterlaufen. Viele der einschlägigen Filme tragen vor allem dazu bei, den Bereich des normativ Vertretbaren und Nicht-Vertretbaren anhand exemplarischer Geschichten imaginativ durchzuspielen. Gerade dadurch hat die Ästhetik des gegenwärtigen Kinos einen nicht zu unterschätzenden Anteil an der Modifikation und Transformation weniger einer bestimmten normativer Ordnung, als des normativen Bewusstseins unserer Zeit - und dies nicht allein in einem nationalen, sondern in einem globalen Rahmen. Sie stellt die Frage nach der Legitimität gegebener politischer Ordnungen und sie hält sie im besten Fall - wenigstens - offen.

Der vorliegende Band handelt von Terrorismus und Krieg durch den Filter filmischer Erzählungen. Es geht hier wie dort aber um mehr als nur um Arten einer sich selbst genügenden Betrachtung. Denn die Terroranschläge und bewaffneten Konflikte, von denen im Modus der Fiktion oder Dokumentation erzählt wird, sind real. Ihre Motivationen und die Reaktionen darauf wirken fort, in der destabilisierten Situation im Nahen Osten, in den Gräueln des "Islamischen Staates" im Irak, in Syrien und in Europa, in der Aussetzung von Menschen- und Völkerrecht, in den Umwälzungen der Sicherheitspolitik. Filmische Erzählungen von diesen Vorgängen schlagen eine Rhetorik ihrer Bearbeitung vor, entwerfen Einschätzungen der jeweiligen Lage und haben so Teil an den Bildpolitiken, die die Versuche ihrer Bewältigung prägen. Die kritische Deutung dieser Deutungen ist insofern selbst ein - wenn auch ungleich weniger wirkungsmächtiger - Teil der Verständigung darüber, was in der sozialen und politischen Welt in diesen Zeiten geschieht.

***

Einer ersten Erkundung des in diesem Buch behandelten Themenfelds war eine Vorlesungsreihe unter dem Titel "Narration und Rechtfertigung im Kino" im Wintersemester 2011/12 gewidmet, zu der neben den Herausgebern Astrid Erll, Daniel Martin Feige, Günter Frankenberg, Josef Früchtl, Vinzenz Hediger, Gertrud Koch, Robert Pippin, Regine Prange, Juliane Rebentisch, Christiane Voss, Thomas Wartenberg und George Wilson beigetragen haben. Dieser Vorlesungsreihe kam die Funktion zu, das Verhältnis von Narration und Rechtfertigung im Film zunächst einmal generell zu umkreisen. Seine jetzige Form verdankt der vorliegende Band einem Workshop unter dem Titel "Rechtfertigungsnarrative: Terror und Krieg im Kino" im Frühjahr 2014, der einer kooperativen - aber dennoch immer wieder kontroversen - Interpretation derjenigen Filme gewidmet war, die auch auf den folgenden Seiten eine Hauptrolle spielen. Neben den Beiträgerinnen und Beiträgern dieses Bandes nahmen am Workshop außerdem Elisabeth Bronfen, Stefan Deines, Rainer Forst, Julika Griem, Angela Keppler und Juliane Rebentisch teil.

Die Herausgeber möchten allen, die sich an dem Forschungszusammenhang, aus dem dieser Band hervorgegangen ist, beteiligt haben, für ihre inspirierenden Beiträge und Stellungnahmen aufrichtig danken. Rebecca Schmidt und Michael Graf vom Frankfurter Exzellenzcluster haben uns stets auf vielerlei Weise unterstützt; Eva Backhaus, Karin Bovisi, Helena Grass, Judith-Frederike Popp und Sebastian Staab waren bei der Endredaktion des Bandes unentbehrlich. Auch ihnen, sowie Judith Wilke-Primavesi vom Campus Verlag, gilt unser herzlicher Dank.

Einleitung: Erzählung, Rechtfertigung, Terror und Krieg im Kino

Jochen Schuff, Martin Seel

Zu den frühesten filmischen Reaktionen auf die islamistisch motivierten Terroranschläge auf Ziele in den USA am 11. September 2001 und die darauf folgende Invasion der "Koalition der Willigen" unter der Führung der Vereinigten Staaten in den Irak zählen zwei US-amerikanische Fernsehproduktionen, jeweils unter der Regie von Peter Markle. In beiden Fällen handelt es sich um Heldengeschichten. Im ersten Fall, Saving Jessica Lynch, wird die - an tatsächliche Geschehnisse angelehnte - Geschichte einer Soldatin vorgeführt, die irakischen Truppen in die Hände fällt, was sie nicht kampflos geschehen lässt, und die im Anschluss selbst wiederum von ihren Kollegen - "leave no one behind" - heldenhaft aus einem irakischen Krankenhaus befreit wird. Im zweiten Fall, Flight 93, bereitet Markle fiktional die Ereignisse innerhalb desjenigen Flugzeuges auf, dessen Entführer es dank des Einsatzes der Passagiere nicht in sein Ziel lenken konnten, das wahrscheinlich das Kapitol oder das Weiße Haus in Washington hätte sein sollen. Beide filmischen Erzählungen berichten von den fraglichen Ereignissen in einem bestimmten Licht. Dies ist ein Licht, in dem der Zusammenhalt und die Handlungsfähigkeit der angegriffenen Nation am Beispiel individueller Schicksale wieder hervortreten sollen. Beide Filme konzentrieren sich in ihrer Geschichte auf die zentralen Heldenfiguren, im einen Fall die junge Soldatin, im anderen Fall das Kollektiv der Passagiere. Beide heben auf eine pathetische Weise deren Einbindung in ihre Familien hervor, womit sie sich nicht nur als Medien kollektiver Erinnerung, sondern auch des öffentlichen Trostes präsentieren. Im Bild der schwer getroffenen, aber dabei aufrechten und liebevollen Familien darf sich eine Gemeinschaft wiederfinden, die mit der ihr zugefügten Gewalt umgehen muss und letztlich umzugehen weiß.

Bemerkenswert allerdings sind diese beiden Produktionen, weil sie, rückblickend betrachtet, für die filmische Repräsentation der in Frage stehenden Ereignisse einigermaßen untypisch sind. Sie sind das jedoch nicht deswegen, weil sie in ihren fiktionalen Erzählungen auf konkrete Ereignisse im Kontext von 9/11 Bezug nehmen (auch wenn dies, vor allem anlässlich Saving Jessica Lynch, zu beträchtlichen Kontroversen geführt hat, in die sich letzten Endes sogar die wirkliche Jessica Lynch eingeschaltet hat). Denn ein fiktionalisierter Bezug auf tatsächliche Ereignisse ist bei den Spielfilmen, die sich mit den Ereignissen im Zusammenhang von 9/11 beschäftigen, eher die Regel. Untypisch sind die beiden Filme von Peter Markle vielmehr, weil sie in ihrer offen apologetischen Einstellung erheblich von der Erzählhaltung abweichen, die die Mehrheit der anspruchsvolleren filmischen Reaktionen auf die Auslöser und Erscheinungsformen des "Krieges gegen den Terror" einnimmt. Das Gros der Filme und Fernsehserien, die sich mehr oder weniger direkt diesen Ereignissen widmen, problematisieren den Topos des Helden weit eher als dass sie ihn ungebrochen bedienen. Sie operieren mit Strukturen der erzählerischen Präsentation, die eher Krise und Trauma dramatisieren, anstatt Trost und Bestätigung anzubieten. Ihr Impetus liegt nicht auf Bestätigung, sondern auf Befragung des Geschehenen und weiterhin Geschehenden. Für das Genre der Irakkriegsfilme fasst Martin Barker diese vorherrschenden Konstruktions- und Präsentationsformen wie folgt zusammen:

"There is a will to challenge viewers and to provoke rethinkings about the war and the US's involvement in it. To achieve this, they provide ›reality guarantees‹ […]. At the same time, many of them deploy cinematic devices that are common currency in recent independent cinema. But while these devices have there been used as demonstrations of artistry, in the Iraq war films they function to provoke challenges to audience assumptions. They aim to undermine presumed ways of understanding the war, and to provoke disquiet."

Wenn dies zutrifft, sind Markles Filme für die Mehrheit der Spielfilme (und erst recht für die überwiegende Mehrheit der dokumentarischen Produktionen) über diesem Komplex nicht repräsentativ: Sie setzen auf eine Form des Erzählens, die für die Verstörung durch Terror und Krieg keine verstörenden Bilder findet und den Zweifeln an ihren politischen und moralischen Bewertungen keine Stimme verleiht. In diesem Sinn handelt es sich hier nicht nur um eine ideologische Verbrämung und Verklärung des Vorgefallenen, sondern um ein künstlerisches Scheitern: um ein Versagen gegenüber einer kreativen Aufnahme und Einbettung der aktualisierten Erzählmuster.

Der Reichweite dieser Diagnose nachzugehen und sie in konkreten Analysen auf die Probe zu stellen, ist das Vorhaben dieses Bandes. Anhand exemplarischer Analysen geht es dabei um Weisen des Erzählens von Terror und Krieg in ihren jüngeren Erscheinungsformen. Daraus resultiert mehr als eine Stilkritik. Den betreffenden Formen der Repräsentation und Remediation nämlich kommt eine signifikante Funktion zu. Im Spektrum ihrer Darbietungsweisen, aber auch in den Sedimentierungen historischer Erfahrungen und filmischer Verfahren, auf die sie zurückgreifen, spiegeln, strukturieren und variieren sie normative Perspektiven auf die Geschehnisse, die für die Auseinandersetzung mit ihnen generell leitend sind. Wir haben es hier mit Prozessen des Erzählens und Wiedererzählens, des Erinnerns und Wiedererinnerns zu tun. Diese Prozesse prägen die Situierung der politischen und militärischen Ereignisse und Entscheidungen innerhalb der Auseinandersetzung über ihre Legitimität. Zusammen mit dem erzählenden Zugriff auf die Anschläge und Kriege oder mit ihrer erzählenden (Re-)Konstruktion werden diese in besonderer Weise zu öffentlichen Gegebenheiten, die unabhängig von einer wertenden Einstellung hinsichtlich ihres Rechts und Unrechts in ihrer historischen und kulturellen Bedeutung überhaupt nicht identifiziert werden können.

Das liegt nicht nur an dem Umstand, dass Ereignissen erst dann eine für das kollektive Bewusstsein signifikante historische Dimension zukommt, wenn ihnen ein Platz in der geteilten Geschichte der betroffenen Gesellschaften zugewiesen wird, sie also in das Netzwerk ihrer entsprechenden Erzählungen eingeordnet werden. Diese Rolle der Narration ist seit der sogenannten "narrativen Wende" in den Geschichtswissenschaften im Gefolge der Arbeiten von Louis Mink, Arthur Danto und Hayden White ins Bewusstsein nicht nur dieser Disziplin gerückt. Vielmehr wirkt die Form des Erzählens von historischen Ereignissen auf die Art ihrer geschichtlichen Stellung und Wirksamkeit selbst zurück. Denn bei diesen Ereignissen handelt es sich stets um die Folgen von Entscheidungen, die weitläufige und unüberschaubare politische, ökonomische und weltanschauliche Konsequenzen haben, die wiederum mit einem oft nicht minder undurchsichtigen Geflecht von Gründen und Gegengründen - und also von Rechtfertigungsverhältnissen - verbunden sind. Gründe dieser Art wurzeln in individuellen und kollektiven Selbstverständnissen, die verwoben und intern aufeinander bezogen sind. Darum liegt es nahe, das Medium des Erzählens als ein Reservoir dieser aufeinander bezogenen Selbstverständnisse aufzufassen, deren Angemessenheit und Unangemessenheit in den Formen ihrer Aktualisierung stets mit auf dem Spiel steht und folglich stets mit verhandelt wird.

Dies lässt sich vor dem Hintergrund der Anschläge von 9/11 und ihrer Folgen verdeutlichen. Es ist nicht zu übersehen, dass sich im Laufe der Auseinandersetzung mit den Geschehnissen von Terror und Krieg, von denen hier die Rede ist, die Perspektive auf diese grundlegend verschoben hat - wenn auch nicht einheitlich, so doch in der Tendenz. Aus der Unfassbarkeit des Terrors und der Trauer um die Opfer hat sich recht schnell ein Bedürfnis nach offensiver Entgegnung und Vergeltung entwickelt, mit den bekannten Folgen. Aus den von vorneherein fragwürdigen bis hin zu eindeutig völkerrechtswidrigen militärischen Reaktionen wiederum hat sich eine politische Situation ergeben, die rapide außer Kontrolle geraten ist. Die damit wachgerufenen Erzählfragmente und narrativen Tropen sind solche der diffusen Bedrohung, der kulturellen Fremdheit, der Ohnmacht und des Ausnahmezustands.

Es sind Zusammenhänge dieser Art, in denen die Rede von "Rechtfertigungsnarrativen" ihren analytischen Stellenwert gewinnt. Damit sind Formationen erzählerischer Motive, Figuren und Perspektiven gemeint, die normative Grundhaltungen zum Ausdruck bringen und aus deren Bodensatz sich Systeme konkreter Normen, Regeln und Gesetze häufig allererst speisen. "Aus historischer Perspektive betrachtet", so bestimmen Rainer Forst und Klaus Günther den Begriff, "sind Normen und ihre Rechtfertigungen in Narrative eingebettet, also in spezifisch geprägte Erzählungen, Handlungen oder Rituale, welche die rechtfertigenden Gründe einer normativen Ordnung einrahmen." Solche Narrative sind mit einigem Recht als eine wesentliche Grundlage normativer Ordnungen zu begreifen: als Wissens-, Erinnerungs- und Bewertungsformationen, auf die sich jede Rechtfertigung, aber auch jede Kritik herrschender Verhältnisse zumindest implizit beziehen muss, auch wenn die Kraft und das Gewicht rechtfertigender Gründe nicht auf ihre Ausgestaltung im Gewand dieser oder jener (Typen von) Erzählungen reduziert werden kann.


Martin Seel ist Professor am Institut für Philosophie der Goethe-Universität Frankfurt.

Jochen Schuff ist dort wissenschaftlicher Mitarbeiter.


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