Schulz Nur noch eine Tür
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-03848-638-1
Verlag: Fontis
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Letzte Gespräche an der Schwelle des Todes
E-Book, Deutsch, 200 Seiten
ISBN: 978-3-03848-638-1
Verlag: Fontis
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Der Tod ist eines der meistthematisierten Tabus der Gegenwart: Einerseits scheint er sich vereinzelt und unsichtbar in einer stummen Parallelwelt zu ereignen, in Krankenbetten, auf Palliativstationen und in Hospizen. Andererseits ist er spektakulärer Teil der Alltagskultur, dramatisiert in Krimis, boulevardisiert in den Nachrichten, popularisiert in Ego-Shooter-Spielen, bagatellisiert in modischen Accessoires. Die Verdrängung ist einer "Geschwätzigkeit des Todes" gewichen, die uns alle doch nur weiterhin alleinlässt mit der Frage, wie wir dem eigenen Ende entgegengehen wollen.
Dieses Buch konfrontiert uns mit Fragen, die der Tod an uns richtet: Was kommt danach? Worauf darf der Sterbende hoffen, was glauben? Zwölf Menschen setzen sich hier mit diesen Fragen existenziell auseinander, weil sie dem Tod ins Gesicht sehen. Sterbende und Sterbebegleiter, Glaubende, Agnostiker und Zweifler - sie alle offenbaren dem erfahrenen Interviewer und Journalisten Uwe Schulz, was sie bewegt. Und sie richten damit gleichzeitig Fragen an unser aller Leben: Welchen Sinn hat es? Auf welches Ziel richten wir es aus? Was ist wichtig? Und was hat es auf sich mit dem Glauben an eine Auferstehung?
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Einleitung
Erste letzte Worte
Achtung, dieses Buch steckt voller wahrer Geschichten, wie sie jedem von uns widerfahren könnten; Geschichten, die kein Happy End im klassischen Sinn haben. Sie enden alle tödlich.
Alle Achtung, Sie haben dieses Buch trotzdem aufgeschlagen.
In derselben Zeitspanne, die Sie für die Lektüre dieses Satzes hier brauchen, sterben rund um die Welt rein statistisch zwölf Menschen. Global betrachtet, enden laut Faktenkatalog der CIA pro Jahr mehr als 56 Millionen Menschenleben. Realität, und doch unfassbar.
Der Schriftsteller Max Frisch hat in der Totenrede für seinen Freund Peter Noll diese Realität betrachtet, zunächst Ernst Bloch zitiert, der mit 90 Jahren sagte, er sei nur noch neugierig auf das Sterben als eine Erfahrung, die er noch nicht gemacht habe, und abschließend so formuliert: «Kein Antlitz in einem Sarg hat mir je gezeigt, dass der Eben-Verstorbene uns vermisst. Das Gegenteil davon ist überdeutlich. Der Verstorbene hat eine Erfahrung, die mir erst noch bevorsteht und die sich nicht vermitteln lässt – es geschehe denn durch eine Offenbarung des Glaubens.»1
Dieses Buch nähert sich der Erfahrung, die uns noch bevorsteht, so weit wie möglich an, betrachtet sie von der einzig uns zugänglichen Seite aus, verspricht aber keine allumfassende Offenbarung. Auf sie können wir nur hoffen als Geschenk, das wir am Ende unserer Tage empfangen.
Die hier protokollierten Gespräche offenbaren Wahrheiten so sanft und zerbrechlich, dass wir Lebenden sie ergreifen und behutsam in uns bergen oder auch geschäftig über sie hinweggehen können, als hätten uns die kleinen Offenbarungen nichts zu bedeuten. Keiner der hier Befragten drängt sich mit Ermahnungen, moralischen Appellen oder Lehrsätzen auf. Jeder der hier Befragten stellt sich aber individuell und ehrlich den Fragen, die unsere Endlichkeit ans Leben stellt.
Als ich das erste Mal vor einem Sterbezimmer stand, überfielen mich binnen weniger Atemzüge Tausende widerstreitender Empfindungen, wie sie jetzt vielleicht auch in Ihnen emporsteigen. Greifen konnte ich auf die Schnelle nur eine bebende Furcht, die Fassung zu verlieren, eine vibrierende Verunsicherung, vielleicht das Falsche zu sagen, leise surrende Wissbegier, die Wirklichkeit hinter der Zimmertür zu erkunden, bohrende Trauer um den Menschen, der wie niemand sonst auf der Welt mich liebte, eine sprudelnde Sehnsucht, die mich wie eine Unterströmung vom festen Grund hinauszog ins Weite. Und in allem spürte ich den mächtigen Drang, sofort weit fortzulaufen, bis das alles nicht mehr wahr wäre, was sich da als Realität aufdrängte. Dann klopfte ich an und trat ein.
Der Tod kommt oft wie ein Dolchstoß, der ins Innerste dringt. Das Telefonat mit der halb unter Tränen erstickten Nachricht, dass Ralph nicht mehr aus dem Koma erwacht ist nach seinem Autounfall: «Er hat es nicht gepackt.» Die Kurznachricht von Kaya im Display: «Ruf mich bitte an!» Der Satz der Gynäkologin beim Blick aufs Sonogramm: «Keine Herzaktivität mehr.»
An einem Augustmontag im Jahr 2010 schleicht der Tod dagegen vergleichsweise sanft heran, direkt in meine Mailbox: lese ich als Betreff über den Zeilen, welche Michael um 4 Uhr 29 morgens losgeschickt hat an seine Vertrauten:
Liebe Freunde,
ich wähle den ungewöhnlichen Weg der Sammel-Mail, um Euch von einer neuen Entwicklung bei mir zu erzählen. In den nächsten Wochen und Monaten werde ich vermutlich immer wieder mal schlecht zu erreichen sein, immer wieder mal «abtauchen». Gut möglich, dass ich Euch persönlich daher erst sehr spät von meiner Erkrankung berichten könnte. Das allerdings will ich vermeiden. Mit diesen Zeilen seid Ihr auf dem Stand der Dinge, denn mir ist wichtig, dass Ihr wisst: Ich bin seit ein paar Wochen Krebspatient. Die Nachricht hat mich Mitte Juli erreicht, dann – vier Tage nach der Diagnose – bin ich in Heidelberg operiert worden. Es geht um einen Darm-Tumor. Einer wurde rausgeschnitten, allerdings ist ein weiterer Tumor nicht operabel gewesen und thront auf der Bauchspeicheldrüse.
Seit heute bin ich wieder in meiner Wohnung und suche Anschluss an die Normalität. Es gibt viele Baustellen – Ernährung (15 Kilo weniger), Kraftaufnahme, Bewegung, Wundheilung, Schlaf (seit Wochen habe ich nachts nur zwei/drei Stunden maximal). Ich werde dem Alltag also neue Regeln geben und mich mit ganzer Kraft auf die Krankheit und eine positive Wende konzentrieren. Die Chemo beginnt Anfang September. Ziel ist die Verkleinerung von Tumor 2, damit auch der herausgeholt werden kann. Viele Projekte im Herbst sind nur noch Schall und Rauch, heute wäre ja eigentlich Abflug zu einer Reportagereise nach Mexiko gewesen. Egal, das ist jetzt nicht wirklich wichtig.
Ihr müsst mit dieser Info nichts anfangen, ich erwarte nichts. Weil wir Freunde sind, war es mir ein Anliegen, Euch ins Vertrauen zu ziehen. Denn das ist mir schon wichtig – ich will hier nicht mit einem Stempel «Krebspatient» unterwegs sein. Bei Euch ist die Nachricht in guten Händen.
Ich bedanke mich und wünsche Euch eine total schöne Zeit, vielleicht sind ja noch ein paar Urlaubstage vor der Tür. Dann genießt sie nach Kräften.
Sehr herzlich,
Michael
47 Tage nach dieser Mail ist er im Franziskushospital gestorben, bis zur völligen Erschöpfung besucht und ermuntert von unzähligen Freunden, Bekannten, Weggefährten, Kollegen, so dass seine Lebensgefährtin irgendwann freundlich um Schonung gebeten hat. Ein Tod, der nicht wie ein Stoß ins Leben dringt, sondern wie eine Woge über es hinweggeht und es mit sich trägt.
Es sind diese und andere Erfahrungen, die mein Interesse an der letzten großen Reise, die uns allen bevorsteht, geweckt und wachgehalten haben. Das Interesse an der Frage, was am Ende wirklich zählt.
Bei einem meiner ersten Recherchegespräche mit Palliativmedizinerinnen des Evangelischen Krankenhauses in Düsseldorf entstand der Gedanke, auch das Sterben derer zu betrachten, denen das Leben nach allgemeiner Auffassung entglitten oder misslungen ist, die also scheinbar nichts mit sich führen, das in unseren Augen zählt.
So fand ich mich einige Monate darauf im Gespräch mit Alice Gerdeman, die in den USA Todeskandidaten betreut, und saß weitere Wochen später in der Einzelzelle des betagten Erhard B., der mehr als drei Jahrzehnte seines Lebens im Strafvollzug verbracht hat. Ihre Erkenntnisse klingen wie ein Widerhall der letzten schriftlichen Worte Martin Luthers: «Wir sind Bettler, das ist wahr.»
Gerne hätte ich auch mit einem der Männer gesprochen, die im Berliner Obdachlosen-Wohnprojekt Nostitzstraße ihr letztes Asyl finden, begleitet von den Fachkräften der Heilig-Kreuz-Passion. Aber ihre Betreuer mochten sie nicht meinen Fragen aussetzen.
«Dieses Thema zieht mich runter. Mein Leben ist schon anstrengend genug. Das ist ja Horror», lautete einer der Kommentare im virtuellen Gästebuch der ARD, als sie im Herbst 2012 eine Themenwoche lang Tod und Sterben in ihren Hörfunk- und Fernsehprogrammen beleuchtete. «Ligui» nannte sich der Zuschauer, der dann einfach abschaltete. «Ist man gesund und munter und jung genug, will man von diesem Thema nichts wissen, es ist zu weit weg», schrieb zwei Tage später eine «Andrea» im selben Forum. «Ist man selbst Mittelpunkt des Themas, gibt es kein Später und kein Irgendwann.» Wie Andrea dachte ich auch, als ich mich aufmachte, Interviews zu Sterben und Tod zu führen. Doch dann erhielt ich, auch aus bewusst konfessionell geführten Palliativ-Einrichtungen, Absagen wie diese:
Sehr geehrter Herr Schulz,
Ihre Anfrage wegen der Interviews für ein Buch ist in unserem Seelsorgeteam angekommen. Wir haben darüber gesprochen, sehen aber keine Möglichkeit, Interviewpartner zu vermitteln. Die offene Auseinandersetzung mit dem eigenen Sterben ist bei Palliativpatienten im Krankenhaus oft schwierig und mit Abwehr besetzt. Der Gesundheitszustand und die Verweildauer sind häufig auch nicht so, dass man in Ruhe solch ein Interview anbahnen könnte.
Ich hoffe, Sie finden andere Wege, das Buch zu realisieren.
Mit freundlichen Grüßen,
GM
– Seelsorger –
Ich musste mich von einem Klischee verabschieden, das ich längst bewältigt zu haben meinte: Dass nämlich unweigerlich der Punkt in der Schlussphase eines Lebens kommt, an dem wir alle bereit sind, dem Tod offen zu begegnen, an dem wir die Konfrontation nicht auf später oder irgendwann verschieben. Nein, «die offene Auseinandersetzung mit dem eigenen Sterben ist mit Abwehr besetzt», für manchen Sterbenden bis zum letzten Herzschlag.
Mir ist schon vor der Recherche klar, dass nur wenige geistig willens und körperlich in der Lage sein werden, einem Wildfremden den sanften Schlussakkord vorzutragen, den sie in sich tragen. Und mir wird während der Recherche von Kontakt zu Kontakt klarer, wie hart das Thema auch jene angeht, die es schon durchdrungen haben. Zum Beispiel den drahtigen Mittvierziger, der nach einem Herzstillstand wiederbelebt wurde, nun mit einer lebensbedrohlichen kardiovaskulären Erkrankung in seinem alten Leben Fuß zu fassen versucht und mir nach langer Bedenkzeit schreibt:
Lieber Uwe,
wie Du vielleicht mitbekommen hast, war ich wieder mal in der Klinik, wieder ein Eingriff, kleiner Zwischenfall währenddessen (Herzbeutel perforiert) und letztendlich wieder kein Erfolg. Sprich: Mir geht es nicht besonders, mein Energiepegel ist im Keller. Der Umgang mit dem Tod ist für mich gerade sehr konkret, und ich könnte schon heulen, wenn ich dran denke, geschweige denn drüber rede. Sorry, aber ich bin...




