Selber / Merbt | Gnostika | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Selber / Merbt Gnostika

oder Haus am See
2. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7386-8718-7
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

oder Haus am See

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-7386-8718-7
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Mitteldeutschland, in den 1980er Jahren. Eine Frau, nicht mehr jung, noch nicht alt, kommt mit dem Schmerz über den Tod des geliebten Ehemannes in eine Pension, das Haus am See, ein kleiner Dorfgasthof am Rande eines verschilften Gewässers. Im angrenzenden Dorf verbrachte sie ihre Kindheit, bis sie aus der Diktatur des Bauern, ihres Vaters, in die Stadt entfloh, dort ihre Aufgabe und die sanftere Diktatur des Ehemannes fand. Sie erinnert sich, besucht die Gräber der Eltern auf dem Dorffriedhof, aber das sind alles längst vergangene Geschichten. Da bringt ihr die ehemalige Magd das Tagebuch ihres Vaters, das sie nie gesehen hatte. Erschüttert findet sie eine ganz andere Seite des Bauern, dieses menschliche Wesen kannte sie nicht. Der alte Bauer hielt an seinem Acker fest, nachdem die Produktionsgenossenschaften längst das Leben der Dörfer bestimmten. Gegen alle Widerstände, Repressalien, bis er aufgab. Die Wirkung des Romans entsteht durch seine Endzeitstimmung, lange, bevor an ein wirkliches Ende des Systems und des Landes DDR überhaupt zu denken war. Vielleicht hätte aus der Gnostika der Bildungsroman der untergehenden Epoche des sozialistischen Experiments in Deutschland werden können, es gelang nicht. Zu DDR-Zeiten ließ die Selbstzensur von Lektor und Verlag keine Veröffentlichung zu . Als auf der denkwürdigen Vorstandssitzung des Schriftstellerverbandes vom 12. Oktober 1989 die Druckgenehmigungspraxis und damit die Zensur der Literatur unter 'Bücherminister' Klaus Höpcke offiziell beendet wurde, nahm ein Lektor den Autor Martin Selber beiseite: 'Jetzt machen wir das Ding!'. Es war zu spät. Es interessierte sich niemand mehr für das Thema und der Roman wurde bis jetzt nicht veröffentlicht. Die Gnostika ist - im Nachhinein gesehen - keine Art 'Rechtfertigungsargumentation des sozialistischen Staates', genauso wenig wie sie vordergründige Kritik an diesem Staat ist. Sie ist Zeitzeugnis, Dokument von Gefühlen und Gedanken, die für diese Epoche und für einen Großteil der Menschen kennzeichnend waren. Wie der von Martin Selber sehr geliebte Schwejk, der Simplizissimus und der Zauberberg ist sie Chronik einer vergangenen Zeit.

Martin Selber lebte von 1924 - 2006 und wohnte nach dem 2. Weltkrieg in der Magdeburger Börde. Selber veröffentlichte über 50 Romane, Erzählungen und Fachbücher in einer Gesamtauflage von 3,5 Millionen Exemplaren. Seine Werke wurden in mehrere Sprachen übersetzt, u. a. ins Finnische, Ungarische und Dänische. Schon vor der Wende dienten seine bei Rowohlt veröffentlichten Jugendbücher 'Geheimkurier A' und 'Faustrecht' in Niedersachsen und Schleswig-Holstein als Schulliteratur. Bei Funkamateuren und Elektrobastlern sind seine kurz nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Sachbücher - wie z. B. 'Mit Spulen, Draht und Morsetaste' - geschätzt. Martin Selber war Ehrenbürger des Bördedorfes Domersleben, eine Straße und die örtliche Grundschule tragen seinen Namen.

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1
Flucht in die Stille
Die Arbeiter, die müde von der Schicht kamen, trugen ihr Gähnen unter das Wetterdach der Haltestelle. Die Sonne hatte noch nicht zwischen die Häuser gefunden, auf dem Pflaster zerging die spärliche Feuchte der Nacht. Es war wie an jedem Alltagsmorgen, ehe der Bus nach Rabisdorf angekrochen kam, träge wie immer. Ohne sich anzusehen, standen die Männer in lockerer Gruppe. Ihre Gespräche begannen zäh, mit spärlich tropfenden Worten. Es ging um ein Fußballspiel, das man wegen der Schichtarbeit nicht hatte sehen können, doch nur wenige nahmen daran wirklich Anteil. Die Müdigkeit erwies sich als stärker. Dann kam diese ältere Dame. Sie ging in Schwarz, der Farbe der Trauer. Ein Junge fuhr ihr zwei Koffer im Handwagen nach. Sie grüßte freundlich, ein bisschen verlegen, wie es schien. Der und jener brummelte eine Antwort. Man musterte sie. Wer mit dem Frühbus aus der Stadt nach Rabisdorf will, kennt jeden Mitfahrer. Diese zierliche Frau aber hatte vorher niemand gesehen. Eine Fremde also, und Fremde, die mit Gepäck den Bus aufs Land hinaus benutzen, reisen ganz sicher zum Haus am See, wohin auch sonst. Der Junge stand blinzelnd neben dem Handwagen, noch nisteten die Schatten der Träume in seinem Gesicht. Plötzlich blickte er auf, horchte auf das näherkommende Geräusch eines Dieselmotors. Da bog der Bus um die Ecke. Die Schichtarbeiter bildeten die gewohnte Reihe. Zischend öffnete sich die Vordertür, es roch nach Schmierfett und Straßenstaub. Die Fahrgäste trotteten heran, stemmten sich hoch, grüßten den Mann am Lenkrad. Der nickte, verlangte aber nicht einmal die Wochenkarten zu sehen, denn auch ihm waren alle Gesichter vertraut - bis auf das der älteren Dame in Schwarz, die als Letzte einstieg, mit fragendem Blick das Geldtäschchen öffnend. Der Junge hob die Koffer herein, empfing letzten Dank, ging zurück zum Handwagen. Es waren wenig Menschen unterwegs um diese Stunde und kaum Fahrzeuge. Der Bus fuhr halb auf der Mitte der Straße. Der Fahrer drehte den Rückspiegel so, dass er die Frau sehen konnte. Sie hatte ein feines Gesicht, sicherlich war sie einmal hübsch gewesen, vor Zeiten, als junges Ding. Jetzt erschien ihr Blick ausdruckslos. Sie trug Trauer, ein naher Verwandter musste ihr gestorben sein. Erst draußen auf der Landstraße, als die Häuserzeilen den Weiten der Felder gewichen waren, wurde die Frau lebhafter. Das Grün draußen schien das frühe Sonnenlicht aufzusaugen und doppelt zurückzustrahlen. Das tat den Augen wohl. Es war Mai, der Monat intensivsten Farbenspiels. Die Frau atmete tief, sie schien die Fahrt zu genießen, ganz so, als wäre dies ein Ausflugsbus und nicht das staubige Linienfahrzeug, das Morgen für Morgen und Abend für Abend die gleiche, eintönige Route fährt. Immer wieder schaute der Busfahrer die Frau an. Warum sich Leute in die Stille am Rande eines simplen Ackerdorfes zurückziehen? Der Bus klapperte entsetzlich, das Straßenpflaster schüttelte ihn erbarmungslos durch. Er schien das gewohnt zu sein, fuhr an den alten, knorrigen Obstbäumen entlang von Dorf zu Dorf und hielt dann immer an einem zentral gelegenen Platz. Das Zischen der Eingangstür weckte jedes Mal ein paar Fahrgäste, die sich schlaftrunken erhoben, durch den Gang nach vorn schwankten und mit kurzem Gruß ausstiegen. Herein kam Dieselgestank, sonst niemand. Als sie sich Rabisdorf näherten, wurde die Frau unruhig. Sie wandte den Kopf hin und her, als wollte sie Gärten, Häuser und die wenigen Menschen rechts und links der Straße zugleich in sich aufnehmen. Ihre lebhaften Blicke verrieten Wissbegier - oder war es Wiederentdeckung? Aber was gab es hier zu entdecken oder zu erinnern? Sie wartete bei der Endhaltestelle, bis alle ausgestiegen waren, ging dann langsam vor. Der Fahrer nahm ihr die Koffer ab. Sie nickte dankbar, stieg vorsichtig hinunter. Dort wartete ein Mann in karierter Jacke, die Mütze in der Hand. „Frau Berger?“ fragte er mit ergebenem Lächeln. „Ja, sollen Sie mich abholen?“ Wieder dieses Lächeln. „Ich bin Richard, vom Seehaus. Guten Morgen! Lassen Sie nur, ich nehme die Koffer.“ „Danke, Herr Richard.“ „Nicht Herr, ich bin kein Herr. Sagen Sie einfach Richard, das tun alle.“ Der Mann war klein und drahtig. Er sprach ein böhmisch gefärbtes Deutsch, mochte so um die Fünfzig sein. Seine Bewegungen waren ganz die eines Dienenden. Die Koffer hob er fast spielerisch, legte sie auf einen zweirädrigen Karren. „Kommen Sie nur“, sagte er „Es ist nicht sehr weit.“ „Ich weiß.“ Die Räder rasselten über das Pflaster. Die Frau blickte sich um, schaute die Häuser an, die großen Hoftore, dann folgte sie dem Karren auf dem Gehweg. Noch waren keine Schulkinder unterwegs, doch das Dorf lebte schon. Hungerspektakel von Schweinen erfüllte die Luft, Schafgeblöke und als Bass dazwischen das tiefe Röhren einzelner Rinder. Die Frau ging wie durch eine andere Welt. Jedes einzelne Haus schien sie zu mustern, vor der alten Schule blieb sie einen Augenblick lang stehen, blickte zum Kirchturm hinauf, nahm dann bei der Bäckerei minutenlang den frischen Brotgeruch wahr. Die Straße senkte sich vor ihren Schritten. Eine Katze flüchtete unter eine Holzplanke. Zwischen den breitkronigen Linden tauchte schon der arg verlandete See auf. Am Dorfrand blühte der Holunder. Vorbei an den letzten niedrigen Gebäuden führte die Straße ins Freie, und dort lag mitten zwischen Pappeln, Fliedergebüsch und schwach begrünten Feldern das Haus am See, breit hingeduckt unter seinen roten Ziegeldächern. Es strömte Ruhe aus, versprach Geborgenheit, wirkte vertrauenerweckend. Laute Gäste würden hier gewiss nicht wohnen. Selbst die Geräusche ringsum, das Krähen eines Hahns, Schwalbengeschwätz und Singvogelzwitschern, schienen bestellt zum Wohl der Erholungsuchenden. Die Besucherin wusste, dass sie sich hier wohl fühlen würde. „Wir müssen hinten herum“, sagte Richard und hob die Koffer vom Karren. „Vorne ist noch abgeschlossen.“ Unbeholfen stakelte die Frau zwischen leeren Milchkannen und abgestellten Bierkästen hindurch. In der offenen Haustür erschien die Wirtin, das schwere, dunkle Haar aufgesteckt über dem freundlichen roten Gesicht. Die frischweiße Schürze trug noch ihre akkuraten Schrankfalten. „Sie also sind Frau Berger. Willkommen bei uns! Es wird Ihnen gefallen. Es ist zwar noch früh, aber Sie bekommen gleich einen schönen heißen Kaffee.“ Das war wohltuend. Die Gaststube atmete eingelagerten Tabakschmauch aus, auf den meisten Tischen standen umgekippte Stühle, nur der große, runde vor der geschnitzten Eckbank hatte schon eine frische rotbunte Decke bekommen. Richard nahm der Frau den Mantel ab. „Ich bringe ihn gleich mit den Koffern hoch“, sagte er mit dem gewohnten Lächeln. „Sie haben die Vier, ein schönes Zimmer.“ Nun saß sie allein, blickte sich in der altersbraunen Behaglichkeit des Gastraumes um. Eine große Standuhr bewegte feierlich das Pendel mit der blinkenden Messingscheibe. Den Schanktisch zierten bunte Porzellansäulen, die nachgedunkelten Bilder an den Wänden waren sämtlich Jagdmotive. Selbst die Gardinen passten sich dem rustikalen Charakter des Raumes ein. Durch die Fensterscheiben blickten rote Blumen, sie waren hier das einzig wirklich Lebendige. Die Wirtin brachte selbst den Kaffee, dazu frische Brötchen und einen Teller mit Aufschnitt. „Die anderen Gäste schlafen noch“, sagte sie mit einem Fingerzeig zur Decke. Sie servierte bedächtig, dann setzte sie sich herzu und zog einen Block aus der Schürzentasche. „Ich fülle Ihnen gleich den Meldezettel aus. Sie brauchen dann nur zu unterschreiben. Wie sind Ihre Personalien bitte?“ „Susanne Berger, geborene Baatz, verwitwet.“ „Ach ja, mein Beileid! - Aber, sagen Sie, geborene Baatz mit Tezett?" „Ja, gewiss.“ „Hier gab es auch einmal eine Familie Baatz, das waren wohlhabende Bauern.“ „Aha.“ „Kannten Sie da jemand?“ Die Frau zögerte. „Ich weiß nicht“, sagte sie langsam. „Verzeihen Sie meine Neugier; aber wir haben fast immer die gleichen Gäste hier draußen, da kennt man allmählich jeden und interessiert sich halt. Frau Liebrecht hatte Sie vermittelt, wenn ich mich recht erinnere?“ „Ja, meine Nachbarin.“ Susanne Berger wünschte, dass dieses quälende Fragespiel aufhörte. Sie war gekommen, um Stille zu finden, Vergessen, das Bisherige sollte eine Zeitlang verlöschen. Endlich konnte sie in Ruhe ihren Kaffee trinken. Richard kam zurück, legte ihr den Zimmerschlüssel hin und ging wieder fort. Hätte ich ihm nicht etwas geben müssen? überlegte sie. Die Treppe war alt und knarrte leise. Oben tat sich ein schmaler Flur auf. Ein dicker Läufer schluckte die Schritte. Zimmer eins - zwei - gegenüber die Vier. Der Schlüssel war groß, das Schloss von massiger Gediegenheit. Susanne Berger trat ein. Das würde nun also eine Zeitlang ihr Zuhause sein, Bett, Tisch, zwei Stühle, ein Schrank, die...



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