E-Book, Deutsch, 314 Seiten
Sichtermann Fremde in der Nacht
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-86287-060-8
Verlag: Fuego
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Ein Berlin-Roman
E-Book, Deutsch, 314 Seiten
ISBN: 978-3-86287-060-8
Verlag: Fuego
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Igor Marenge ist ein begabter, aber arbeitsloser Übersetzer, ein moderner Taugenichts und Verehrer schöner Frauen. Mit seiner Partnerin Sonja, einer Therapeutin und 'professionellen Versteherin', ist er glücklich, was ihn aber nicht von erotischen Streifzügen durch das wiedervereinigte Berlin abhält. Raffiniert fädelt er die Begegnungen mit Vicky ein, 'der schönsten Kassiererin aller 672 Supermärkte Berlins'. Aber ausgerechnet sie hütet ein Geheimnis, das Igor in die größte Katastrophe seines Lebens stolpern lässt. Eine spannungsreiche, mit Erotik und Witz gespickte Geschichte. Das Berlin der Wendezeit ist das zweite Thema des Romans - im ersten Kapitel reduziert auf ein erdachtes kontrollierbares Modell, in Wirklichkeit aber bevölkert von kurz angebundenen Natives, die auch gern einmal handgreiflich werden. Igors Freunde sind sympathische Loser, linkische Linke, mit allen Randgruppen solidarisch, die die kleinen unattraktiven Chancen auf Broterwerb durch Arbeit als solche erkennen und an sich vorüberziehen lassen. Es reicht ja, wenn man genial ist, Stütze bezieht und sich irgendwie schwarz ein paar Hunderter hinzuverdient. Der arbeitslose Igor ist auf jeden Fall beschäftigt - mit seinen Träumereien und den Frauen. Ein temporeich erzählter Schelmenroman über einen der jungen Männer, von denen erfolgreiche Frauen so träumen.
Barbara Sichtermann, geb. 1943, Diplomvolkswirtin und Publizistin. Freie Autorin seit 1978; zahlreiche Buchveröffentlichungen zu den Themen: Frauenpolitik, Leben mit Kindern, Geschlechterbeziehung, Literatur, Medien. Seit 1990 Mitglied der Adolf-Grimme-Preis-Jury, Arbeit für viele Rundfunksender. Von ihr sind die beiden Berlin-Romane 'Vicky Victory' und 'Fremde in der Nacht' erschienen, die über Fuego als eBook erhältlich sind. Barbara Sichtermann erhielt den Elisabeth-Selbert-Preis für Rundfunkarbeit und den Jean-Amery-Preis für Essayistik.
Autoren/Hrsg.
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Mittsommernacht Am 5. Januar des Jahres 1957 fuhr wie jeden Tag am frühen Morgen der Personenzug 341 von Sondrio (Veltlin) nach Milano Centrale. Auf dem Führerstand der E 626 haben der 59jährige Lokomotivführer V. und der 51jährige Hilfsmaschinist G. Platz genommen. Beide versuchen mit scharfem Blick den milchigen Vorhang vor ihnen zu durchdringen, der die Sicht auf wenige Meter beschränkt: Einmal mehr verhüllt dichter Nebel die Mailänder Bannmeile. Eben hat es drei Knallsignale gegeben; danach pflegt das Personal den Zug scharf abzubremsen, da der provisorische Viadukt bei Monza in Sichtweite kommt. Aber an diesem Morgen bremst Zug 341 nicht ab. Da werfen auch schon erste Stöße die Fahrgäste quer durchs Abteil. Funken blitzen von überallher auf, als der Wagen nicht mehr auf den Schienen, sondern auf dem Schotter rollt. Mit einem gewaltigen Krachen legt sich das Gefährt auf die Seite, und im Abteil fliegt ein Fahrgast auf den anderen. Das Wagenfenster ist jetzt dort zu finden, wo vorher das Wagendach war. Mit Mühe können es die Reisenden öffnen, um den Wagen zu verlassen. Dieser liegt im Areal einer Wollfabrik. Im Abteil fehlen zwei Frauen. Sie sind verschwunden. Von einer der beiden sind nur die Schuhe gefunden worden, makabrer Überrest! Die Lokomotive war auf der Böschung geblieben, zwar nicht mehr auf dem Gleis stehend, aber doch aufrecht, mit eingedrücktem Führerstand. Der Lokomotivführer war tot, sein Gefährte schwer verletzt. Der nachfolgende Wagen erster Klasse hatte sich, nachdem die Kupplung zerrissen war, freigemacht und die Trennmauer zur Lastwagengarage der Wollfabrik eingedrückt. Drei Wagen wurden nach vorne katapultiert und kamen kreuz und quer über die Gleise zu liegen. Der fünfte, der Gepäckwagen, und der sechste stürzten in die im Bau befindliche Unterführung. Da glauben die Leute, dass erwachsene Menschen, die sich mit Modelleisenbahnen beschäftigen, vergessen hätten, ihre Kinderschuhe abzulegen, und vom Ernst des Lebens nichts verstünden. Ich habe es aufgegeben, mich gegen solche Verdächtigungen zur Wehr zu setzen, man macht sich damit nur klein. Leos Bedenken gegen mein Hobby konnte ich zerstreuen, indem ich ihm anvertraute, dass ich nicht nur Loks und Wagen verkoppele und Schienen auf Regalbretter klopfe, sondern auch Eisenbahnunglücke sammele. Ich besitze mehrere große Ordner mit Berichten von Zugkatastrophen - nach Möglichkeit mit Bildern. Manchmal hocke ich lange da und starre auf das Foto der zerstörten Dampflok »Dl« von Pomponne, die 1933 in den Express Nancy-Paris hineingedonnert ist. Man sieht nur noch an dem mächtigen Frontzylinder, dass es sich um eine Lokomotive handelt. Der ganze Rest, Räder, Puffer, Pleuelstangen, ist zerstoßen wie von einem kosmischen Steinschlag. Immer wenn Lukas bei mir ist, arrangieren wir im Zugzimmer Eisenbahnunglücke. Mein Patenkind ist von derselben Leidenschaft beseelt wie ich. Oder habe ich ihn angesteckt? Egal. Dass es in so jungen Jahren schon losgeht, war mir neu. Mit fünf, dachte ich, will man, dass die Eisenbahn fährt, nicht, dass sie verunglückt. Bis Lukas mir bewies, dass auch ein kleines Kind den Sinn fürs Verhängnis schon mitbringt. Die meisten Menschen sind zu träge, um ein Ereignis wie das Unglück von Monza in Gedanken nachzuerleben - angefangen von dem Moment, wo die gleitende Bewegung der korrekten Fahrt erste Stockungen erleidet, die aber, da sie als Fehler der Strecke oder der Radlage gedeutet werden können, nur mäßige Unruhe auslösen, - bis zu dem fatalen Augenblick, da der Wagen aus dem Gleis springt, schlingert und kippt. Erst wenn er umstürzt, vertiefen die akustischen Schocks des Krachens und Quietschens die Angst zur Gewissheit: »Jetzt ist es aus.« Die Menschen erstarren erst und schreien dann im Griff der Panik. Wie V., der 59jährige Lokomotivführer, empfunden hat, mochte ich mir nie zu Ende ausmalen. Vielleicht, weil ich nicht anders kann, als mir vorzustellen, dass sein jäher Tod infolge des Schlages gegen den Führerstand ihn vorm Bewusstsein der Katastrophe bewahrt hat. Sollte es doch anders gekommen sein, und sollte er gewusst haben: »Vorbei-!«, ist dann in der Sekunde des Todes zum Horror vor dem Ende die Qual der Schuld hinzugetreten? Hat er sich zugeschrien: »Ich hätte bremsen müssen?« Ich denke: Ja. Almut meint: Nein. Wie gern habe ich ihr aus meinem Lieblingsbuch, dem in einem Züricher Verlag herausgekommenen Werk mit Titel »Katastrophen auf Schienen« von Ascanio Schneider und Armin Mase vorgelesen, besonders das Unglück von Monza. Denn damit hat es was auf sich. Ich selbst, Hagen Schäfer, wurde an eben dem Tag geboren, an dem es geschah, sogar fast um dieselbe Stunde. Almut legte die Hand vor den Mund, als ich es ihr erzählte. Aber dann grinste sie. »Meinst du, dass das was bedeutet?« Ich zuckte die Achseln. Und gestand ihr nicht, dass ich manchmal glaube, der wiedergeborene Lokführer V. von Monza in Person zu sein. Sie hätte mich, zu Recht, ausgelacht und ein Gedankenspiel zerstört, das nur V. und mich etwas angeht. Ich hatte Lehrer werden wollen. So einer wie Herr Engelbrecht, der Deutsch gab und unter meine Aufsätze die besten Noten schrieb, die ich bekam, und mit dem ich immer noch in Kontakt stehe. Ich war sonst in Sport nicht übel, und so lag es nahe und alle fanden es richtig, dass ich Deutsch und Sport studieren sollte, um später mal beides zu unterrichten. Dann aber hieß es: Lehrer werden auf absehbare Zeit nicht mehr gebraucht, und ich sollte mir überlegen, was sich mit meinen Talenten und Semestern sonst noch anfangen ließe. Leute, die gut reimen, von Zehnmeter-Brettern springen und die schrecklichsten Eisenbahnunglücke auswendig hersagen können, erwerben mit ihrem Qualifikationsprofil nicht schon den Anspruch auf die Beamtenlaufbahn. Meine Mutter sorgte sich sehr. Mein Vater hatte sowieso vom Studium abgeraten. Seine Vorstellung von einem ordentlichen Beruf verband sich mit Handwerk und machte vor jeder Art Reflexion entsetzt Halt. Aber ich gab nicht so schnell auf - schon um es dem Alten zu zeigen. Ich fuhr nach Nürnberg zu einem Kongress, der sich mit der Zukunft des Lehrerstandes beschäftigte. Dort lernte ich Leo kennen. Nicht dass er etwas mit der Pädagogenzunft zu tun gehabt hätte - er begleitete nur seine damalige Freundin, die schon am Gymnasium unterrichtete und eine Arbeitsgruppe leiten sollte: »Ist Teilzeit die Lösung?« Leo durfte nicht zuhören, das hätte sie nervös gemacht. So ging er raus in den Park neben der Schule, wo die Tagung stattfand, und da begegneten wir uns. »Na?« sagte er zu mir. Wir kamen ins Gespräch - über Berlin, aus dem wir ja beide herbeigereist waren. Ich fragte Leo, welches Fach er unterrichtete, und er sagte: »Sicherheit.« Und erzählte von seinem Beruf. Ich hatte später, als ich längst erfolgreich als Vertreter arbeitete und bei meinem Stammhaus hochangesehen war, öfter ein schlechtes Gewissen, da ich es ja nun in einem Job zu etwas brachte, für den ich gar nicht ausgebildet war. Schon damals in Nürnberg aber hat Leo mir verraten, dass von hundert Versicherungsvertretern achtundneunzig als Seiteneinsteiger anfangen, die einfach mal ihr Glück probieren. Vierzig Prozent etwa bleiben dabei, die Branche ist Fluktuation gewohnt und dennoch wachstumsorientiert, also flexibel. »Ich war Hotelmanager«, gab Leo zu, »und Kopelke, unser Verkaufsleiter, Kapitän zur See.« Sie hatten sogar einen ehemaligen Eintänzer dabei und eine Meeresbiologin. »Vielleicht wär’s ja auch was für Sie.« Ich lachte geschmeichelt und schüttelte den Kopf. Leo deutete auf das Transparent über dem Eingang der Schule, auf dem der Slogan des Kongresses - irgendwas mit »Keine Zukunft...« - geschrieben stand und machte ein paar Bemerkungen über die alles in allem ziemlich miese Stimmung unter den jungen Lehramtskandidaten. Ich sagte: »Ich bin der geborene Pauker. Ich weiß immer alles besser.« Darauf Leo: »Wenn das wirklich stimmt, sollten Sie mich in den nächsten Tagen mal aufsuchen.« Er gab mir seine Karte. So fing es an. Es war der Anfang unserer Freundschaft - und eines neuen Lebens für den nicht besonders rührigen Germanistikstudenten Hagen Schäfer. Zwar fühlte ich mich nach wie vor motiviert und imstande, vor eine Klasse zu treten und ihr zu erläutern, warum es schade ist, wenn der Genitiv ausstirbt, aber die großen Umwege, die man auf der Universität betreffs dieses Ziels einzuschlagen hat, schienen mir immer sinnloser. Leo betraute mich mit ersten Akquisitionen als sein Stellvertreter, und ich machte meine Sache gut. »Wo bleiben die Anfängerfehler, die sonst dazugehören?« scherzte mein Mentor. »Warum beschweren sich keine übertölpelten Kunden, und warum kapierst du gleich alles?« Meine Studienfreunde reagierten neiderfüllt, wenn ich von meinem Nebenjob erzählte. Als ich dann aber den Schritt tat und die Germanistik aufgab, um mich ganz der KWP-Versicherung zu widmen, schüttelten sie die Köpfe und prophezeiten mir ein geistig armes Leben. »Geld ist nicht alles«, sagten sie. Nicht mal meine Jugendfreundin Elfie hielt zu mir. Nur Leo. Es stimmt nicht, dass ich des Geldes wegen Versicherungsagent geworden bin. In meiner freiberuflichen Position bin ich selbst nicht besonders gut abgesichert, leicht kündbar und auf private Vorsorge angewiesen. Außerdem schwankt mein Einkommen. Wäre es mir auf eine perfekte Versorgung angekommen, hätte ich das Examen machen und um das Lehramt kämpfen müssen. Ich folgte Leos Rat und ging zur KWP, weil ich unabhängig sein wollte, musste. Das Liebkind-Spielen hing mir zum Halse heraus. Wer wie ich einen Vater hat, dessen Leib- und Magenthema der Monatswechsel...