Sichtermann | Vicky Victory | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 316 Seiten

Sichtermann Vicky Victory

Ein Berlin-Roman
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-86287-091-2
Verlag: Fuego
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

Ein Berlin-Roman

E-Book, Deutsch, 316 Seiten

ISBN: 978-3-86287-091-2
Verlag: Fuego
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Igor Marenge ist ein begabter, aber arbeitsloser Übersetzer, ein moderner Taugenichts und Verehrer schöner Frauen. Mit seiner Partnerin Sonja, einer Therapeutin und 'professionellen Versteherin', ist er glücklich, was ihn aber nicht von erotischen Streifzügen durch das wiedervereinigte Berlin abhält. Raffiniert fädelt er die Begegnungen mit Vicky ein, 'der schönsten Kassiererin aller 672 Supermärkte Berlins'. Aber ausgerechnet sie hütet ein Geheimnis, das Igor in die größte Katastrophe seines Lebens stolpern lässt. Eine spannungsreiche, mit Erotik und Witz gespickte Geschichte. Das Berlin der Wendezeit ist das zweite Thema des Romans - im ersten Kapitel reduziert auf ein erdachtes kontrollierbares Modell, in Wirklichkeit aber bevölkert von kurz angebundenen Natives, die auch gern einmal handgreiflich werden. Igors Freunde sind sympathische Loser, linkische Linke, mit allen Randgruppen solidarisch, die die kleinen unattraktiven Chancen auf Broterwerb durch Arbeit als solche erkennen und an sich vorüberziehen lassen. Es reicht ja, wenn man genial ist, Stütze bezieht und sich irgendwie schwarz ein paar Hunderter hinzuverdient. Der arbeitslose Igor ist auf jeden Fall beschäftigt - mit seinen Träumereien und den Frauen. Ein temporeich erzählter Schelmenroman über einen der jungen Männer, von denen erfolgreiche Frauen so träumen.

Barbara Sichtermann, geb. 1943, Soziologin und Publizistin. Freie Autorin seit 1978; zahlreiche Buchveröffentlichungen zu den Themen: Frauenpolitik, Leben mit Kindern, Geschlechterbeziehung, Literatur, Medien. Seit 1990 Mitglied der Adolf-Grimme-Preis-Jury, Arbeit für viele Rundfunksender. Barbara Sichtermann erhielt den Elisabeth-Selbert-Preis für Rundfunkarbeit und den Jean-Amery-Preis für Essayistik.

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Autoren/Hrsg.


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1. Kapitel
Bei Gegenwind durch Pankow
Könnte ich die Stadt mit einem Blick ganz fassen, so wüsste ich den Namen des geheimnisvollen Fluidums, das ihre Adern heizt. Ein Hubschrauberflug ist mir schon vorge­schlagen worden, aber der dauert zu kurz für eine starke Intuition, auch würde mich der Lärm des Rotors fertigma­chen. Was mir vorschwebt, ist das hölzerne Totalmodell Berlins, mit jedem Haus, jedem Baum, jedem Kabelverteilerkasten, aufgebaut in einer Riesenwerkhalle, gut be­leuchtet, drehbar und mit Wasser in der Spree. Alle neuen Baustellen, Häuserabrisse und Straßenumbenennungen müssten mir sofort mitgeteilt werden, jeden Morgen brächte der Briefträger einen dicken Stapel solcher Mel­dungen. Und ich, noch im Pyjama - denn ich wohne in meinem Atelier und schlafe auf einer Matratze im Unter­grund Berlins - nehme mit dem Kaffee alle baulichen und sonstigen Veränderungen in mich auf, rufe dann Luigi, den Modellpfleger an, einen Künstler und Freund, der bald vorbeikommt und mit einem winzigen Pinsel den Fassadenanstrich der Nr. 82 in der Friedrichstraße ausbes­sert, einen Neubauklotz an die Ecke Baerwald-/Gneisenaustraße setzt und neben den Palast der Republik einen daumengroßen Kran mit einer Abrissbirne dran - während ich in meinem meterdicken Häuserverzeichnis die »Otto-Grotewohl-Straße« durch »Wilhelmstraße« ersetze und mit Luigi ein paar Sprüche über meine Mutter­stadt mache. »So wie die Mieten schteigen«, seufzt Luigi, den Pinsel im Mund und die Friedrichstraße 82 einfühlsam schmir­gelnd, »schtrömt hier allesch ab, wasch nicht bei Kasche isch, wasch Schinn statt Knete schucht. Ich schage nur: Gomorrha! Der Bundestag hält keine Schaischon durch.« Dann pinselt er und knurrt: »Friedrichstraße 82 - meine Traumadresse!« Was ich mir von so einem Totalmodell verspreche? Der Sache näherzukommen. Der Sache Stadt, Menschenmas­se, Lebenskessel. Im Grunde schwebt mir ein Modell vor, dass die Menschen einschließt, alle vier Millionen, jeden einzelnen. Ich weiß, so was ist nicht zu machen. Die Mo­dellmenschen wären so klein, dass man sie höchstens mit der Pinzette zu fassen kriegte, und Luigi würde sich wei­gern, täglich anzutraben, um neue Holzbabies in die Häu­ser reinzuzwängen und vom Tode aussortierte Alten­puppen zu entfernen; ich müsste den ganzen Tag mit dem Einwohnermeldeamt und der Verkehrspolizei telefonie­ren und käme vor lauter Arbeit nicht mehr zum Spielen. Ferner ließen sich Komplikationen mit dem Datenschutz nicht ausschließen, und ohne Rechenanlage wäre ich prak­tisch aufgeschmissen. Ein Computer könnte mir dieses Wahnsinnsmodell simulieren, aber daran bin ich nicht interessiert. Denn es fehlte mir die dritte Dimension. Ohne die wird mir kein Einfall kommen; ohne Raum, in dem sie widerhallen könnte, wird keine Geisterstimme anheben, mir den Namen der Stadtenergie zu verheißen. Darum aber geht es. Das Modell soll es mich wissen lassen: was könnte dieses millionenfache Leben in seiner Summe sein? Es soll mir seine Essenz vor Augen führen, seine letzte Potenz, seinen Inbegriff. Dafür brauche ich das hölzerne Modell mit grünen Bäumen, bunten Litfaßsäulen und roten Verkehrsschildern - und Luigi, der im September erscheint, um das Laub der Kastanien und Linden gelb und braun zu färben. Leider besitze ich nichts dergleichen, und Luigi ist eine ausgedachte Figur. Ich lebe statt in einem tollen Atelier in einer Moabiter Kleinwohnung, deren Fenster völlig versypht sind und schlafe auf einem Vorkriegsausziehsofa. Mir bleibt nur das Modell eins zu eins, Berlin, wie es wirklich ist, und ich muss machen, dass ich mitten reinkomme. Los Igor, die Treppe runter, dawai, dawai, um sechs Uhr schließt der Supermarkt.   ?   Nicht dass ich Joghurt kaufen wollte, Hackfleisch oder Tennis-Socken, nein, das Sonderangebot, auf das es mir im Minipreis-Markt ankommt, ist engelsblond, ungefähr einssiebzig groß, sitzt in dem Schuppen an der Kasse und heißt mit Vornamen hoffentlich Evelyn, Mary-Ann oder Jean. Vielleicht noch Nadja. Aber bitte nicht Petra! Oder Martina. Das wäre eine kleine Tragödie. Ich nenne sie für mich Loreley, ihres bedeutenden Blondhaars wegen. Mit Nachnamen heißt sie Rosinski, soviel hab ich schon spitz­gekriegt. Dieses Wissen gibt mir einen Vorteil, wenn ich heute Abend endlich das tue, was ich seit Wochen aus ver­ständlicher Bangigkeit aufschiebe: sie ansprechen, wenn sie von der Arbeit kommt, und zwar gleich richtig, mit Na­men, so dass sie stutzen muss und erstmal hinhört. »Frau Rosinski, entschuldigen Sie, dass ich einfach so auf Sie zukomme, aber Sie haben mir gestern einen Zeh­ner zu viel rausgegeben, und da ich eine ehrliche Haut bin …« »He, was reden Sie da, meine Kasse hat gestimmt.« »Auch gut, dann lassen Sie uns von diesem Zehner da drüben ein Bier …« »Sag mal, wat soll die Tour, junger Mann, halt an dich, ick habet eilich.« »Sie haben doch jetzt Feierabend, Frau Rosinski, und nach so nem harten Tag ein Bierchen in netter Gesellschaft verdient … Hallo, warum rennen Sie weg? - Ich tu Ihnen doch nix - Frau Rosinski …!« So wird es kommen, so oder so ähnlich. Ich werde da­stehen wie der erste Mensch, und der Wind wird mir den Zehner aus den Fingern zupfen. Aber in meinem Herzen werde ich jubeln: geschafft, geschafft, das erste Wort ist gesprochen! Da geht sie hin, die Frau Rosinski in ihrem knappen Rock, und wundert sich, woher ich ihren Namen weiß. Diese Blondine wird mit Strategie und Sturheit weichgekocht. Jeden Abend vor dem Supermarkt, bei Frost, Sturm und Hagel; der Winter kommt, und ich gebe nicht auf, da muss sie schmelzen wie der Schnee auf dem Schornstein. Ach Loreley! Warum zum Teufel kommst du jetzt nicht endlich raus? Es ist zehn nach sechs, der Konsum-Bunker geht für einen späten Kunden von innen noch mal auf, ein Typ vom Lager macht sich wichtig als Zerberus, er reckt das Kinn beim heftigen Operieren mit dem Sicherheitsschlüs­sel. Das Licht im Laden wird auf halbe Kraft runterge­fahren, in ihren grauen Kitteln wuseln die Angestellten durch die Gänge zwischen den Regalen, Loreley ist nicht dabei, ist sicher schon hinten beim Chef, um abzurech­nen, ja, man muss noch ’ne Weile drangeben, sie zieht sich wohl noch um, vielleicht wäscht oder schminkt sie sich sogar und steckt das Haar mit Kämmen und Klemmen hinter den Ohren fest … Wie auch immer. Ich harre wie ein Fels. Der letzte Kunde ist ein alter Herr, einer von der zierlichen Sorte mit flinkem Gang, aber der Kopf wackelt ihm schon ein bisschen: Er entfernt sich Richtung Rabenstraße, seine Minipreis-Tüte schwenkend, und kann nicht anders, der gute Mann, als mich an jenen Greis erinnern, der mir mal nahestand. Nachdem die Mauer gefallen war und Ost und West die Schrecksekunde durchgestanden hatten und aufeinander losstürmten, da dachte ich daran, mit der S-Bahn nach Friedrichshain hinauszufahren und an seinem Grab einen Strauß Astern niederzulegen. Ich wartete, bis die Formalitäten beim Übergang ganz weggefallen waren, dann fuhr ich. Es war ein weißlicher, rauchiger Wintertag und nicht besonders viel los um die Mittagszeit, außer dass ich das erste Mal nach sieben Jahren wieder in den Osten kam. Viel hatte sich nicht verändert, nur die ganz natürliche Verwitterung, welche die Jahre an Häusermauern, Straßenbahnen und Laternenpfählen hinterlassen, die konnte ich sehen. Und dass es gar nichts Neues gab, keine frischen Scheiben am Eckhaus neben meiner alten S-Bahn-Station, stattdessen Westklebeband entlang der Sprünge, keinen neuen Briefkasten vor dem Konsum gegenüber, stattdessen war der alte, schief hängende einfach abmontiert worden und den Pfosten hatte man stehen lassen wie ein Menetekel; kein buntes Pflaster auf den Bürgersteigen wie überall im Westen, nur Matsch oder Teer in den Löchern. So kannte ich sie, meine Hauptstadt: in ihren Hinterhöfen, ach, was sag ich, auch in ihren Vorderhäusern nie saniert, nicht mal richtig repariert, nur geflickt, gestückelt, notdürftig abgestützt, und wo man hätte mauern, schrauben und schweißen müssen, da klebte man: mit Eiweiß und Spucke. Ich bin dort großgeworden, in der Cecilienstraße, unter der Obhut meines Opas. Er erzählte mir einst, wie sehr er gefürchtet habe, dass seine Straße, nach einer Heiligen getauft, das Schicksal so mancher Straßenschwester teilen müsste und nach einem sozialistischen Heros umbenannt würde. Aber in der zuständigen Behörde hatte man die Cecilienstraße wohl vergessen, und sie blieb, was sie war - ganz wie mein Großvater. Seine Ahnen waren einst aus Polen zugewandert, er selbst war der Urtyp des toleranten Katholiken, vor dem Krieg als Lehrer für alte Sprachen tätig und in jeder Beziehung untauglich für das sozialisti­sche Experiment an lebenden Menschen. Auch die Nazis hatten ihn nicht zu keilen vermocht, obwohl er damals ja noch jung genug gewesen wäre, um sich anzupassen. Doch nein, mein Opa blieb in seiner antiken Wunderwelt mit ihren polymorphen Göttern wohnen; es kostete ihn gerade genug Anstrengung, diese Treue mit seinem christlichen Glauben zu vereinbaren, was auch nie ganz gelang. In der DDR durfte er Lateinkurse für Archäologie-Studenten ge­ben, und wenn ich nicht selbst ein ferngelenkter Stasi-Spitzel war, so hat die »Firma« meinen antisozialistischen Großvater genauso übersehen wie der Bezirksrat die Cecilienstraße. Wahrscheinlich hat man den Dr. phil. Marenge unter »ungefährliche Sonderlinge« abgeheftet - was zu­mindest hinsichtlich des Einflusses, den der alte Herr auf seinen Enkel ausgeübt hat, ein Irrtum war. Lange zögerte ich am Friedhofstor. An den feinen Strohduft der Winterastern erinnere ich mich noch...



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