E-Book, Deutsch, Band 29, 288 Seiten
Reihe: Georges Simenon / Maigret
Simenon Maigret und sein Toter
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-311-70019-7
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 29, 288 Seiten
Reihe: Georges Simenon / Maigret
ISBN: 978-3-311-70019-7
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Liège, ist der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, mit einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und über 150 Erzählungen), seine Rastlosigkeit und seine Umtriebigkeit bestimmten sein Leben: Um einen Roman zu schreiben, brauchte er selten länger als zehn Tage, er bereiste die halbe Welt, war zweimal verheiratet und unterhielt Verhältnisse mit unzähligen Frauen. 1929 schuf er seine bekannteste Figur, die ihn reich und weltberühmt machte: Kommissar Maigret. Aber Simenon war nicht zufrieden, er sehnte sich nach dem »großen« Roman ohne jedes Verbrechen, der die Leser nur durch psychologische Spannung in seinen Bann ziehen sollte. Seine Romane ohne Maigret erschienen ab 1931. Sie waren zwar weniger erfolgreich als die Krimis mit dem Pfeife rauchenden Kommissar, vergrößerten aber sein literarisches Ansehen. Simenon wurde von Kritiker*innen und Schriftstellerkolleg*innen bewundert und war immer wieder für den Literaturnobelpreis im Gespräch. 1972 brach er bei seinem 193. Roman die Arbeit ab und ließ die Berufsbezeichnung »Schriftsteller« aus seinem Pass streichen. Von Simenons Romanen wurden über 500 Millionen Exemplare verkauft, und sie werden bis heute weltweit gelesen. In seinem Leben wie in seinen Büchern war Simenon immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«, was sie in ihrem Innersten ausmacht, und was sich nie ändert. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1
»Verzeihen Sie, Madame …«
Nach minutenlangem, geduldigem Bemühen gelang es Maigret endlich, seine Besucherin zu unterbrechen …
»Sie sagen mir gerade, Ihre Tochter würde Sie langsam vergiften …«
»Das ist die Wahrheit …«
»Eben noch haben Sie mir aber nicht weniger bestimmt versichert, Ihr Schwiegersohn versuche im Flur immer das Dienstmädchen abzupassen, um dann heimlich Gift in Ihren Kaffee oder in einen Ihrer vielen Kräutertees zu geben.«
»Ja, das stimmt auch.«
»Und dabei haben Sie mir zu Beginn erzählt …«, er blickte auf die Notizen, die er sich während der schon mehr als einstündigen Unterhaltung gemacht hatte, oder tat wenigstens so, »dass Ihre Tochter und ihr Mann sich hassen …«
»Auch das ist die Wahrheit, Herr Kommissar.«
»Und doch trachten sie Ihnen gemeinsam nach dem Leben?«
»Aber nein! Sie versuchen es jeder für sich.«
»Und Ihre Nichte Rita?«
»Versucht es ebenfalls …«
Es war Februar. Das Wetter war mild und sonnig; nur manchmal zeigte sich eine graue Wolke am Himmel, aus der ein Regenschauer niederging. Seit seine Besucherin da war, hatte Maigret trotzdem schon dreimal im Ofen gestochert, dem letzten Kohleofen im Haus, den er mit so viel Mühe gerettet hatte, als am Quai des Orfèvres die Zentralheizung eingebaut worden war.
Die Frau, die einen Nerzmantel über ihrem schwarzen Seidenkleid trug und wie eine Zigeunerin mit Schmuckstücken aller Art behangen war – Ohrringen, Ketten, Armbändern, Broschen –, musste schon schweißgebadet sein. Überhaupt erinnerte sie mehr an eine Zigeunerin als an eine feine Dame, mit ihrer dick aufgetragenen Schminke, die in der Hitze langsam gerann und sich aufzulösen begann.
»Drei Personen versuchen also, Sie zu vergiften.«
»Sie versuchen es nicht, sie sind schon dabei.«
»Und Sie behaupten, jeder von ihnen tut es ohne das Wissen der anderen …«
»Ich behaupte es nicht, ich weiß es.«
Sie hatte den gleichen rumänischen Akzent wie eine berühmte Boulevardschauspielerin und die gleichen lebhaften Bewegungen, die Maigret jedes Mal zusammenzucken ließen.
»Ich bin nicht verrückt. Hier lesen Sie … Sie kennen doch sicher Professor Touchard? Er wird als Sachverständiger bei allen großen Prozessen hinzugezogen.«
Sie hatte an alles gedacht, hatte sogar den bekanntesten Irrenarzt von Paris konsultiert und sich von ihm ein Attest ausstellen lassen, das ihre volle Zurechnungsfähigkeit bestätigte.
Es half nichts, man musste ihr geduldig zuhören und zu ihrer Beruhigung hin und wieder ein paar Worte auf einen Notizblock kritzeln. Sie kam auf Empfehlung eines Ministers, der den Direktor persönlich angerufen hatte. Ihr erst vor wenigen Wochen verstorbener Mann war Staatsrat gewesen. Sie wohnte in der Rue de Presbourg, in einem der riesigen Etagenhäuser, deren eine Seite auf die Place de l’Étoile geht.
»Ich werde Ihnen erklären, wie mein Schwiegersohn vorgeht. Ich habe es genau verfolgt und beobachte ihn schon seit Monaten …«
»Er hat also schon damit begonnen, als Ihr Mann noch lebte?«
Sie reichte ihm einen säuberlich gezeichneten Plan vom ersten Stock des Hauses.
»Mein Zimmer habe ich mit A gekennzeichnet, das meiner Tochter und ihres Mannes mit B. Allerdings schläft Gaston seit einiger Zeit nicht mehr dort.«
Zum Glück klingelte das Telefon und gewährte Maigret eine kleine Pause.
»Hallo … Wer ist am Apparat?«
Der Telefonist stellte Anrufe gewöhnlich nur in dringenden Fällen zu ihm durch.
»Entschuldigen Sie, Herr Kommissar. Ein Mann, der seinen Namen nicht nennen will, möchte unbedingt mit Ihnen sprechen. Er schwört, es gehe um Leben oder Tod.«
»Und er will mich persönlich sprechen?«
»Ja … Kann ich ihn durchstellen?«
Gleich darauf hörte Maigret ein ängstliches »Hallo … sind Sie es?«
»Kommissar Maigret, ja …«
»Verzeihen Sie … Mein Name würde Ihnen doch nichts sagen. Sie kennen mich nicht, aber Sie haben meine Frau gekannt, Nine. Hören Sie? … Ich muss Ihnen alles erzählen, schnell, denn er kann jeden Moment hier sein.«
Maigret dachte im ersten Augenblick: noch ein Verrückter? Es gab solche Tage.
Er hatte nämlich die Erfahrung gemacht, dass Verrückte gewöhnlich serienweise auftauchten, als stünden sie unter dem Einfluss bestimmter Mondphasen. Er würde später im Kalender nachsehen.
»Eigentlich wollte ich zu Ihnen kommen. Ich stand schon vor dem Haus. Aber dann habe ich nicht gewagt hineinzugehen, weil er mir auf den Fersen war. Er hätte sicher nicht gezögert zu schießen …«
»Von wem sprechen Sie?«
»Einen Augenblick … Ich bin ganz in der Nähe … Direkt gegenüber. Eben habe ich noch das Fenster gesehen … Am Quai des Grands-Augustins. Kennen Sie das kleine Café Aux Caves du Beaujolais? … Ich stehe in der Telefonkabine. Hallo? Sind Sie noch da?«
Es war zehn nach elf, und Maigret notierte mechanisch die Zeit und den Namen des Cafés.
»Ich habe schon alles Mögliche versucht, habe einen Polizisten an der Place du Châtelet angesprochen …«
»Wann?«
»Vor einer halben Stunde. Einer der Männer war mir auf den Fersen. Der kleine Dunkelhaarige. Es sind mehrere. Sie wechseln sich ab. Ich bin nicht sicher, ob ich sie alle wiedererkennen würde. Ich weiß nur, dass der kleine Dunkelhaarige …«
Schweigen.
»Hallo?«, rief Maigret.
Es dauerte eine Weile, bis sich die Stimme zurückmeldete.
»Entschuldigen Sie. Jemand ist ins Café gekommen, und ich glaubte schon, er wäre es … Ich habe kurz hinausgeschaut, aber es ist nur ein Lieferant … Hallo? …«
»Was haben Sie dem Polizisten gesagt?«
»Dass mich seit gestern Abend einige Männer verfolgen. Nein, im Grunde seit gestern Nachmittag. Dass sie ganz sicher auf eine Gelegenheit lauern, mich umzubringen. Ich habe ihn gebeten, den Mann zu verhaften, der hinter mir her war.«
»Und der Polizist hat sich geweigert?«
»Er meinte, ich solle ihm den Mann zeigen. Aber da war er plötzlich nicht mehr da … Darum hat er mir nicht geglaubt … Ich bin zur Metro runter, in einen Wagen rein, und als der Zug anfuhr, gleich wieder raus. Dann bin ich durch die Gänge gerannt, oben beim Bazar de l’Hôtel de Ville wieder herausgekommen und durch das Kaufhaus gelaufen.«
Man hörte, dass er gerannt war.
»Ich möchte Sie bitten, sofort einen Beamten in Zivil zu mir zu schicken, hierher ins Café … Er darf mich aber nicht ansprechen … Er soll sich ganz unauffällig verhalten … Ich werde hinausgehen, und ganz sicher wird der andere mir folgen … Man braucht ihn nur zu verhaften, dann komme ich zu Ihnen und erkläre Ihnen alles …«
»Hallo!«
»Also, ich …«
Stille. Verworrene Geräusche.
»Hallo? Hallo!«
Niemand mehr am anderen Ende der Leitung.
»Ich sagte eben …«, fuhr die alte Dame unerschütterlich in ihrer Giftgeschichte fort, als sie sah, dass Maigret auflegte.
»Einen Moment noch, bitte.«
Er öffnete die Tür, die sein Büro mit dem der Inspektoren verband. »Janvier, nimm deinen Hut und lauf zum Quai des Grands-Augustins hinüber. Da ist ein kleines Café, Aux Caves du Beaujolais. Erkundige dich, ob der Mann noch da ist, der eben telefoniert hat.«
Er nahm den Hörer ab.
»Verbinden Sie mich mit den Caves du Beaujolais.«
Er sah zum Fenster hinaus und konnte auf der anderen Seite der Seine, dort, wo der Quai des Grands-Augustins zum Pont Saint-Michel ansteigt, die schmale Fassade eines kleinen Lokals erkennen, in dem er gelegentlich ein Glas an der Theke getrunken hatte. Er erinnerte sich, dass man eine Stufe hinuntersteigen musste, dass es in dem Raum sehr kühl war und dass der Wirt eine schwarze Küferschürze trug.
Ein Lastwagen hielt vor dem Café und versperrte die Sicht. Auf dem Gehsteig gingen Leute vorüber.
»Wissen Sie, Herr Kommissar …«
»Bitte nur noch einen Augenblick, Madame!«
Und er stopfte sich sorgfältig seine Pfeife, während er weiter zum Fenster hinausblickte.
Diese Alte würde ihm den ganzen Vormittag stehlen, wenn nicht noch mehr. Sie hatte haufenweise Papiere, Pläne, Bescheinigungen mitgebracht, ja sogar Lebensmittelanalysen, die sie sich vorsorglich von ihrem Apotheker hatte machen lassen.
»Ich war von Anfang an misstrauisch, verstehen Sie?«
Sie roch nach einem widerlichen Parfum, das den guten Pfeifenduft verdrängt hatte und das ganze Büro verpestete.
»Hallo? … Konnten Sie die Verbindung noch nicht herstellen?«
»Ich rufe dauernd an, Herr Kommissar, immer wieder, aber es ist ständig besetzt; oder jemand hat vergessen, den Hörer aufzulegen.«
Janvier, der nicht einmal seine Jacke angezogen hatte, überquerte mit seinem schlaksigen Gang die Brücke und verschwand kurz darauf in dem Café. Der Lastwagen fuhr endlich weiter, aber man konnte nicht hineinsehen, weil es im Inneren des Lokals zu dunkel war. Wieder verstrichen einige Minuten. Dann klingelte das Telefon.
»So, Herr Kommissar, jetzt habe ich die Verbindung. Es ist nicht mehr besetzt.«
»Hallo, wer ist am Apparat? Bist du es, Janvier? Der Hörer war also nicht eingehängt? Und sonst?«
»Eben hat tatsächlich jemand von hier telefoniert, ein kleiner Mann …«
»Hast du ihn gesehen?«
»Nein,...