Soboczynski | Traumland | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Soboczynski Traumland

Der Westen, der Osten und ich

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

ISBN: 978-3-608-12190-2
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Ein persönlicher Blick auf eine Epoche der Freiheit im Osten wie im Westen Europas. Glänzend erzählt.
Mit spielerischem Scharfsinn hilft uns Adam Soboczynski uns selbst ebenso zu verstehen wie diesen seltsamen Osten Europas. Er erzählt von seiner Jugend in der Bonner und dem Erwachsensein in der Berliner Republik, von der großen Freiheit zwischen den Jahren 1989 und 2022, und wie sie verloren zu gehen droht – in beiden Teilen Europas. Im Osten wird sie von außen bedroht, im Westen reibt sie sich an inneren Kämpfe auf.

Adam Soboczynski ist als Sechsjähriger aus Polen in die westdeutsche Provinz gezogen. Er verlässt mit seinen Eltern die Arbeitersiedlung einer polnischen Chemiefabrik und gelangt in ein fremdes Traumland voller Wunderwerke wie ein Ford Capri, die große Trommel Chio Chips und Freiheit. Dass er in seiner neuen Heimat ganz angekommen ist, merkt er Jahre später, als er Deutschland genauso vermieft und unerträglich findet, wie es sich für einen echten Deutschen gehört. Sein Blick wandert immer wieder in den Osten Europas, der nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zur Blüte gelangt und bald schon wieder bedroht wird, was wir lange nicht sehen wollten. Und wer hätte gedacht, dass sich auch die Freiheit im Westen in Gefahr befindet? Erst durch Trump und die AfD, und schließlich durch die allgegenwärtige Empfindlichkeit der Aufklärungs- und Liberalismuskritiker. Ein heiteres, ein melancholisches, ein kluges und gegenwärtiges Buch.
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1 Die Heimat
Die Chroniken für den September 1981 berichten von einer stümperhaft ausgeführten Flugzeugentführung in Jugoslawien, die alle Beteiligten überlebten. Es starben in diesem Monat der Naziarchitekt und Rüstungsminister Albert Speer sowie der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan. Simon & Garfunkel fanden wieder zueinander und sangen im Central Park vor einer halben Million Zuschauern. China gelang es im September 1981, drei Satelliten in die Erdumlaufbahn zu schicken, was die Amerikaner überhaupt nicht mochten. Der amerikanische Präsident hieß Ronald Reagan, der Generalsekretär der KPDSU war Leonid Breschnew. Unglücklicherweise hatte Lady Di Prinz Charles geheiratet. Sie galten damals als das Traumpaar der Welt. Nur drei Monate später, im Dezember, geschah etwas Unerwartetes. Es vollzog sich ein letztes, lächerliches, brutales Aufbäumen des Kommunismus in Europa. Nach unzähligen Streiks in den Betrieben des Landes, weil die Lebensmittel immer teurer wurden, verhängten die Machthaber in Polen für eineinhalb Jahre das Kriegsrecht und traktierten das aufmüpfig gewordene Volk mit Terror. Nach dem Militärputsch wurden die Nachrichten im Fernsehen von Soldaten verlesen, Telefonate abgehört, die Zensur ausgeweitet, Tausende Arbeiter gefangen genommen, die Grenzen dichtgemacht. Die Mauer zwischen Ost und West drohte schon damals in sich zusammenzufallen. Nur noch wenige Jahre sollte sie sich durch den Aufmarsch von Soldaten und den Einsatz von Panzern, die Verfolgung von Geistlichen, mit Knast und Folter, mit der Niederschlagung der Gewerkschaft Solidarnosc aufrechterhalten lassen. Der Kalte Krieg war nur im Westen kalt, im Osten wurde geschossen und gemordet, sobald ein Land sich aufmachte, der Sowjetunion den Rücken zu kehren. Im September des Jahres 1981, nur wenige Wochen vor dem Militärputsch, wartete ich mit meinen Eltern und meinem kleinen Bruder vor einem alten, nur hier und da etwas zerbeulten Mercedes. Ich war sechs Jahre alt. Drei Koffer wurden verstaut. Der Mercedes war ein Taxi, das uns in Torun an der Weichsel, nordwestlich von Warschau gelegen, in der abendlichen Dämmerung von unserer Wohnung zum Bahnhof fahren sollte. Von dort sollte uns ein Zug nach Posen und dann einer nach Deutschland, in dieses viel beschworene Traumreich, bringen. Dass es ein Mercedes war, weißglänzend und lang, schien meinen Eltern bedeutsam, ein im Ostblock seltenes Auto, und weiß der Teufel, woher der Fahrer ihn hatte. Mein Vater sagte scherzhaft, wir seien sozusagen schon im Westen. Kein Fiat Polski! Keine jener Einheitskisten, die für gewöhnlich über die Straßen rollten und die es in zwei Ausführungen gab. Es gab den großen Fiat Polski und den kleinen Fiat Polski, und es waren, immerhin, die elegantesten Autos des Ostens, von Italienern und Polen gemeinsam designt. In den kleinen, den »Maluch«, für den man keinesfalls größer sein sollte als einen Meter siebzig, hatten meine Eltern eingezahlt, sie erwarteten seine Auslieferung, die ein Jahrzehnt später erfolgen sollte. Nun wollten sie nicht mehr warten. Und so standen wir also vor dem Mercedes. Ich kannte die Autos der Welt gut. In meinem Zimmer hatte ich eine kleine blecherne Galerie amerikanischer, polnischer, russischer, deutscher Miniaturautos aufgestellt. Von manchen Wagen ließen sich sogar die Türen öffnen. Sie fuhren von meiner Hand geführt häufig auf der Kommode in meinem Zimmer herum, ein grüner Audi 80 überholte den Moskwitsch, der Renault R4 einen Lada 1500, der blaue Polonez hielt an einer imaginären Ampel, bis sie auf Grün sprang. Die Verkehrsordnung hatte aus Kindersicht eine beruhigende Wirkung. Während alles andere immer unübersichtlicher wurde, gab es hier feste Regeln und Reihenfolgen. Unsere Wohnung befand sich in der Ulica Tadeusza Kosciuszki, einer Ausfallstraße, abseits der verfallenden Patrizierhäuser im historischen Zentrum dieser mittelgroßen, 200 000 Einwohner zählenden Universitätsstadt. Unsere Straße war benannt nach einem brillanten Militäringenieur, der am Ende des 18. Jahrhunderts einen erfolglosen, aber denkwürdigen Aufstand gegen die Preußen und die Russen anführte. Er bewaffnete Bauern nur mit ihren Sensen, das ging nicht gut. Nun sind so viele Helden der Polen tragisch, ihr Triumph ist die Niederlage, ihre Rebellion ein Martyrium. »Du sollst nicht siegen!« ist das elfte, das polnische Gebot. Und bis heute glauben viele in diesem Land, dass es sich selbst dann zu kämpfen lohnt, wenn man nur verlieren kann. Der Selbstachtung wegen. Wir lebten in einem viergeschossigen Plattenbau, der zur Arbeitersiedlung der Chemiefabrik Elana gehörte. In der Elana arbeitete mein Vater als Maschinenbautechniker. Meine Eltern nannten es Luxus: drei Zimmer auf 48 Quadratmetern, eine Heizung, die so gut war, dass sie sich im Winter gar nicht mehr abstellen ließ, ein Innen-WC. Meine Eltern waren elenden Dörfern am westlichen Rand der masurischen Seenplatte entkommen, einer archaischen Welt, die noch in den frühen sechziger Jahren kein fließendes Wasser, keine Zentralheizung kannte. Und erst recht kein Innen-WC, sondern nur den schiefen Verschlag auf dem Hof mit den Sternen als Beleuchtung. Eine Welt, in der die Frauen mit vierzig schon aussahen wie heute Sechzigjährige, in der die Männer schon morgens so viel soffen, dass die Frauen sie aufs Feld prügeln mussten, und in der die verlogenen Priester ungefähr so machtvoll waren wie die verlogenen Parteisekretäre. Eine Welt, in der nachts in Eimer gepisst wurde, weil der Weg in die Kälte einem den Tod gebracht hätte, in der die Gänse in der Küche geschlachtet wurden, mit einem Schnitt durch die Kehle, während im Radio Jazz aus polnischer Eigenproduktion lief. Das helle Blut strömte in einen Bottich und war die Grundlage der beliebten Czernina, der Blutsuppe. Die Groteske war mit Händen zu greifen: Die Lehre von Marx und Lenin versprach einen menschheitsbeglückenden, einen gewaltigen Aufbruch, einen technologischen Riesensprung, aber man kam vom Dorf nur mit Mühe in die nächste Stadt, schleppte Wasser aus Brunnen, heizte mit Kohlen. Die Landwirtschaft war mit den groben Schlachtwerkzeugen und der weit verbreiteten Kinderarbeit ungefähr so modern wie im 19. Jahrhundert. Es war das Unglück des Sozialismus, dass es alle gleich gut oder schlecht haben sollten und es weitgehend auch hatten, den Menschen aber ein zäher, nie und nirgends versiegender Wettbewerb und Geltungsdrang eingeschrieben sind. Es besser haben: Es besser zu haben als die Nachbarn, es besser zu haben als die Geschwister und es besser zu haben als die eigenen Eltern, war ein Lebensantrieb. Die Nachkriegskinder wetteiferten in den sechziger und siebziger Jahren darum, die erste Wohnung mit Badewanne in der Stadt, die erste Waschmaschine, den ersten Fernseher, das erste Auto zu haben. Die gottlosen Sozialisten ließen sich ertragen, solange sie den Fortschritt, den sie predigten, halbwegs ermöglichten. Sie ermöglichten ihn vor allem durch Schuldenmacherei. Die Läden wurden gefüllt auf Pump, mit enormen Krediten beim Klassenfeind, bis der Schwindel innerhalb weniger Jahre aufflog, bis das Land auf den Bankrott zusteuerte und wir mit einem Mal regelmäßig Stromausfälle hatten und morgens vor weitgehend leeren Geschäften standen, mit Lebensmittelscheinen, auf denen die Grammzahl unserer wöchentlichen Fleischration vermerkt war. Sobald es etwas rationsfrei gab, wurde es in Unmengen gekauft und gehortet. Wir hatten Zucker gehamstert, leider fehlte es an Mehl, um ihn in Kuchen zu verwandeln. Dann hatten wir Mehl, aber keinen Zucker. Gehungert wurde nicht, das ist eine Legende. Aber die Erniedrigung: wie Zootiere auf Fütterungszeiten zu warten. Und schon bald die bleierne Gewissheit, dass es nicht mehr besser werden würde. Der Sozialismus hatte seinen Gipfel erklommen. So gut wie alle waren jetzt gleich. Indem alle gleich arm waren. Die Trostlosigkeit: dass man den Nachbarn nicht mehr übertrumpfen konnte. Stattdessen: das kollektive Existenzminimum. Die heruntergedimmten Leidenschaften, die abgefallenen Reize, die Einheitskleidung. Man wollte eitel sein dürfen, man konnte es nicht mehr. Man wollte sich herausputzen, aber es fehlten der Stoff und die Düfte. Dass die Frauen des Ostblocks gleich nach der Wende so übersexualisiert und aufgetakelt herumliefen, zumindest nach westlichen Kriterien, war eine unmittelbare Reaktion auf die Tristesse. So viele hatten in Polen eine urwüchsige Abneigung gegen die Sowjetunion, den übermächtigen Bruder, der unser Land dominierte und der während des Zweiten Weltkriegs Teile der Elite ermordet hatte, aber die wenigsten räsonierten über Staatssysteme, über Demokratie und Diktatur, über Gewaltenteilung und Zensur. Das war etwas für Feinschmecker. Aber alle wussten,...


Soboczynski, Adam
Adam Soboczynski, geboren 1975 im polnischen Torun, lebt in Berlin und Hamburg und leitet das Ressort Literatur im Feuilleton der ZEIT. Er schrieb mehrere erzählerische Sachbücher, darunter 'Die schonende Abwehr verliebter Frauen'. Seine Werke wurden ins Spanische, Französische, Polnische, Italienische und Niederländische übersetzt. 2015 erschien sein Roman 'Fabelhafte Eigenschaften' bei Klett-Cotta.

Adam Soboczynski, geboren 1975 im polnischen Torun, lebt in Berlin und Hamburg und leitet das Ressort Literatur im Feuilleton der ZEIT. Er schrieb mehrere erzählerische Sachbücher, darunter 'Die schonende Abwehr verliebter Frauen'. Seine Werke wurden ins Spanische, Französische, Polnische, Italienische und Niederländische übersetzt. 2015 erschien sein Roman 'Fabelhafte Eigenschaften' bei Klett-Cotta.


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