Solstad | 16.7.41 | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Solstad 16.7.41

Roman
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-908778-81-3
Verlag: Dörlemann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-908778-81-3
Verlag: Dörlemann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Dag Solstad selbst ist der Protagonist dieses Romans, der mit einem Flug nach Frankfurt beginnt. Solstad studiert beim Blick aus dem Fenster die Wolkenformationen: »Ich schaute auf die paradiesische Landschaft und fand es selbstverständlich, innerhalb dieses sphärischen Panoramas Engel, Fabelwesen und allegorische Vorstellungen zu sehen.«2001 wohnt Dag Solstad in einer Wohnung am Maybachufer 8 in Berlin. Auf Streifzügen durch die Berliner Straßen lässt sich auch der Autor Dag Solstad zunehmend einkreisen. Hier finden sich Momente des Glücks und der Ruhe, aber auch der Angst und der Verzweiflung. Der Roman führt uns weiter nach Lillehammer und in sein Elternhaus in Sandefjord.

Dag Solstad wurde am 16.7.1941 in Sandefjord geboren. Er debütierte 1965 mit dem Erzählband Spiraler [Spiralen] und gehört seither zur ersten Garde der norwegischen Schriftsteller. Dag Solstad hat zahlreiche Romane, Artikel, Theaterstücke, Essays verfasst und zusammen mit Jon Michelet fünf Bücher über die Fußballweltmeisterschaften herausgegeben. Er hat als einziger Autor bereits dreimal den norwegischen Kritikerpreis erhalten und wurde für seinen Roman 1987 mit dem Literaturpreis des Nordischen Rates ausgezeichnet. Dag Solstads Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Er starb am 14. März 2025 in Oslo.
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Kapitel 1


Dieses Mal werde ich fliegen.1 Deshalb befand ich mich im mittlerweile stillgelegten Flughafen Fornebu bei Oslo, um mit einer SAS-Maschine nach Kopenhagen zu reisen und von dort weiter nach Frankfurt am Main. Das liegt jetzt mehr als zehn Jahre zurück, und wie immer, wenn ich flog, war ich ungewöhnlich früh am Flughafen. Ich wollte nach Frankfurt, zur großen internationalen Buchmesse, um dort an einer Veranstaltung mitzuwirken. Ich sollte nur wenige Tage weg sein und hatte deshalb lediglich Handgepäck dabei, trotzdem war ich ungewöhnlich früh dran. Wenn ich mich heute vor mir sehe, wie ich damals vor mehr als zehn Jahren ausgesehen haben muss, ich war noch keine fünfzig, gibt es nicht viel, was ich als besonderes Kennzeichen meiner Person anführen kann.1b Ich war damals wie heute ein normaler Reisender, erfüllt mit den selbstbewussten Routinen eines Reisenden. Ich stellte mich in die lange Schlange an den Check-in-Schaltern und schob mein Handgepäck, eine Reisetasche, sanft mit dem Fuß weiter, während sich die Schlange vorwärtsschob. Schließlich war ich an der Reihe. Ich legte meine Tickets vor und erhielt die Bordkarte sowohl für den Flug nach Kopenhagen als auch für den Anschlussflug von Kopenhagen nach Frankfurt. Danach fuhr ich mit der Rolltreppe hoch zur Pass- und Sicherheitskontrolle. Nachdem ich diese erfolgreich hinter mich gebracht hatte, durfte ich in die internationale Abflughalle und stellte mich vor eine Departure-Anzeigetafel, auf der mein Flug nach Kopenhagen soeben aufgetaucht war. Ich notierte mir das Gate und schaute in einen langen Korridor, versuchte abzuschätzen, wie weit darin sich mein Gate befinden musste. Daraufhin suchte ich den Dutyfree-Shop auf und kaufte mein Kontingent an Schnaps und Zigaretten, das ich in eine Plastiktüte mit Werbung für Fornebu Taxfree packte, wie sie auch viele meiner Mitreisenden bei sich trugen.

Mir blieb noch fast eine Stunde bis zum Abflug, und ich beschloss, mich langsam zum Gate zu begeben, fast so als wollte ich mich vergewissern, dass es sich auch dort befand, doch erst nachdem ich noch einmal auf der Anzeigetafel nachgeschaut hatte, ob ich mir wirklich das richtige Gate eingeprägt hatte. Anschließend genehmigte ich mir in einem kleinen Café, das sich in der internationalen Abflughalle am Flughafen Fornebu befand, eine Tasse Kaffee. Wieder zurück zur Anzeigetafel, um sicherzugehen, dass es keine Änderungen bei den schon angezeigten Informationen gegeben hatte. Danach setzte ich mich auf einen leeren Sitz in einer der Stuhlreihen, die sich an den Wegen der internationalen Abflughalle befanden. Ständig eilten geschäftige Reisende an mir vorbei, manche auf dem Weg zum Flieger, andere auf dem Weg vom Flieger Richtung Ankunftshalle. Ich fühlte mich gut, rastlos und bester Stimmung. Ich genoss tatsächlich den Anblick meiner Mitreisenden und den Umstand, dass ich mich in der Abflughalle eines Flughafens befand, der zwar in einem Land lag, dessen Behörden ihn für zu klein erachteten, der für mich jedoch groß genug war. Das Dasein hier hatte etwas Beherrschtes an sich, zwar passierte ständig etwas, permanent landeten oder starteten schließlich Flugzeuge auf der Rollbahn und mit ihnen Passagiere, die herein- oder hinausströmten, trotzdem hatte die Geschäftigkeit etwas Gemessenes und Beherrschtes, das mir gefiel. Die Strukturen sind klar zu erkennen. Die Entschlossenheit der Leute ist strukturiert. Jeder, der hier ist, weiß, warum er hier ist, sein Reiseziel ist klar, und auch der Grund für seine Reise. Will man z.B. nach Rom, dann weiß man nicht nur, wie man zum richtigen Zeitpunkt zum richtigen Gate gelangt, es ist auch vollkommen offensichtlich, ob man geschäftliche Gründe hat, zu einem Kongress will oder eine kurze Urlaubsreise macht. Das prägt die Stimmung. Zwar kann man einer Person nicht ansehen, ob sie nach Rom oder Zürich will, man kann aber sehr klar erkennen, ob sie auf Geschäftsreise oder auf einer Urlaubsreise ist. Man ist entsprechend gekleidet und benimmt sich entsprechend. Hält man sich in einem der Geschäfte in Fornebu auf, ob im Delikatessenladen oder im Trachtenladen, dann, um etwas zu kaufen. Man will ganz einfach ein Geschenk erstehen, das man längst hätte besorgen sollen, aber entweder vergessen hat oder aus Zeitmangel nicht beschaffen konnte, und in Fornebu heißt das, einen kleinen Troll, eine Strickjacke im Norwegermuster oder ein großes Stück Räucherlachs, vakuumgezogen und mit Norwegian Seafood oder etwas anderem Plausiblen beschriftet. Eine effektive Welt mit Human Touch. Ein Herz für seine Liebsten, in letzter Sekunde freilich, aber immerhin: ein Herz. Norwegian Seafood, ein Stück Human Touch. Das ging mir durch den Kopf, als ich dort saß und den Leuten in den Geschäften zusah, die schnell und teuer einkauften. Der Unterschied zwischen einem internationalen Flughafen und anderen modernen Treffpunkten, wie z.B. einem Kaufhaus, ist riesig. In einem Flughafen sind alle Handelnde, in einem Warenhaus gibt es sehr viele Betrachter oder Flaneure, die sich lediglich umschauen, ohne bestimmten Grund, man saugt die Atmosphäre von Modernität in sich auf, könnte man sagen, ohne notwendigerweise Teil derselben zu sein, außer als entzückter und bewundernder Zuschauer. Auch zwischen internationalen Flughäfen und Bahnhöfen ist der Unterschied riesig. Nun haben die großen Bahnhöfe ja den Nimbus der Modernität eingebüßt, der ihnen bis Ende der 1930er-Jahre anhaftete, und das verleiht ihnen etwas von einer ausrangierten Zeitmaschine, schön, aber verfallen, fast schon Schrott, daher kann der Vergleich zwischen Bahnhöfen und unseren heutigen Reise- und Abenteuermaschinen – Flughäfen, Flugplätzen – ungerecht wirken, trotzdem sind beide nach wie vor moderne Treffpunkte, und man kann bei ihnen immer noch eine Reihe typischer Ähnlichkeiten feststellen, die mit dem Reisen zu tun haben, dem Reisegefühl, den Reiseerwartungen, dem Reisefieber, und doch kann man in allem, was sie voneinander trennt, die Eigenheiten beider Bahnhofstypen erkennen (und jetzt spreche ich von Flughäfen und Flugplätzen ebenfalls als Bahnhöfen, denn das sind sie ja, Luftbahnhöfe), als Spiegel zweier Epochen. Hierbei denke ich an Abschiedsszenen. An Bahnhöfen kann man den menschlichen Touch in Abschiedsszenen erkennen. Er wurde von ihr zum Zug begleitet, sie verabschiedet sich von ihm. Eine rührende Szene. Heftige Umarmung, innige Küsse. Anschließend geht er in den Waggon, sucht seinen Platz, sie steht draußen auf dem Bahnsteig, er macht das Fenster auf, der Zug fährt an, er ruft und winkt, sie winkt zurück, ja, es kommt sogar vor, dass sie sich zusammen mit dem Zug in Bewegung setzt, vielleicht sogar ein Stück neben ihm herläuft, bevor der Zug unerbittlich davonfährt und sie stehenbleiben muss, und er, der sich in seinem Abteil aus dem Fenster lehnt, sieht ihr hinterher, wie sie immer kleiner wird, bis sie, als der Zug in eine Kurve oder einen Tunnel fährt, endgültig verschwindet. Aber wer hat je eine intensive Abschiedsszene auf der Rolltreppe der großen Abflughalle in Fornebu hinauf zur Pass- und Sicherheitskontrolle oder direkt vor der Pass- und Sicherheitskontrolle gesehen? Es mag sie gegeben haben, aber ich habe sie nie gesehen. Zum Flughafen wird man nicht begleitet, man wird vielleicht gefahren, z.B. von der Partnerin, doch dann wird man an der Eingangstür zum Hauptgebäude abgesetzt. Der Wagen hält, vielleicht umarmen sich die zwei im Auto, aber sie kommt nicht mit ins Gebäude, um zusammen mit ihm zu warten, während er eincheckt, mit ihm die Rolltreppe hochzufahren, wo sie sich umarmen, hinüber zur Pass- und Sicherheitskontrolle, wo sie sich lange küssen. Nein, sie kommt nicht mit ins Gebäude, sie verabschieden sich hier, im Auto, weil es so schwer ist, einen Parkplatz zu finden, und weil es für die kurze Zeit so teuer ist, sagt sie. Daher begibt man sich allein ins Hauptgebäude, checkt ein, fährt mit der Rolltreppe hoch zur Pass- und Sicherheitskontrolle, wird hindurchgeschleust und betritt das Allerheiligste der Reisenden, mischt sich unter die anderen Reisenden, die zielstrebig hin- und herlaufen oder im Café sitzen und verstohlen auf ihre Armbanduhr schauen, so wie ich als Betrachter auf meinem Stuhl sitze, während ich auf den Abflug warte. Hier sind wir alle in der selbstverständlichen Struktur einer Moderne gefangen und davon geprägt. Ich saß also hier auf dem längst stillgelegten Flughafen Fornebu, einem internationalen Flughafen, der nicht groß genug war für das Selbstbild unserer Behörden, das ist jetzt mehr als zehn Jahre her, Anfang der 1990er. Ich musterte meine Mitreisenden, nicht ohne eine gewisse Sympathie. Denn ich war selbst geprägt vom beherrschten Geist der Moderne, der hier wehte und den ich angenehm fand. Ich studierte die Stereotypen, die an mir vorbeikamen, ohne auch nur eine Sekunde lang zu unterschlagen, dass ich eine gewisse Befriedigung darin fand dazuzugehören, zu dieser anonymen Gemeinschaft. Was ich persönlich dadurch unterstrich, dass ich im Anzug reiste,2 der auf Flugreisen ins Ausland beileibe kein obligatorisches Kleidungsstück ist. Auch zwei Polizisten kamen vorbei, studierten eingehend ihre Umgebung, indem sie nach rechts und nach links schauten, während sie langsam durch die Abflughalle liefen. Ich saß auf meinem Stuhl und betrachtete das Leben um mich herum, wobei ich die Anzeigetafel mit den Abflugzeiten im Auge behielt. Nach einer Weile kamen die beiden Polizisten zurück. Entschlossenen Schrittes nun, und zwischen ihnen lief ein Mann, der ein wenig betreten aussah. Es kommt nicht jeden Tag vor, dass ich Zeuge einer mutmaßlichen Festnahme werde, noch dazu in der Abflughalle eines internationalen Flughafens, daher konnte ich nicht umhin, die beiden Polizisten und den Festgenommenen in ihrer Mitte anzustarren. Mein...


Solstad, Dag
Dag Solstad wurde am 16.7.1941 in Sandefjord geboren. Er debütierte 1965 mit dem Erzählband Spiraler [Spiralen] und gehört seither zur ersten Garde der norwegischen Schriftsteller. Dag Solstad hat zahlreiche Romane, Artikel, Theaterstücke, Essays verfasst und zusammen mit Jon Michelet fünf Bücher über die Fußballweltmeisterschaften herausgegeben. Er hat als einziger Autor bereits dreimal den norwegischen Kritikerpreis erhalten und wurde für seinen Roman 1987 mit dem Literaturpreis des Nordischen Rates ausgezeichnet. Dag Solstads Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Er starb am 14. März 2025 in Oslo.

Kronenberger, Ina
Ina Kronenberger, geboren 1965 in der Pfalz, übersetzt aus dem Norwegischen und Französischen, u.a. Per Petterson, Linn Ullmann und Anna Gavalda. Ina Kronenberger lebt und arbeitet in Bremen. Zuletzt erschienen in ihrer Übersetzung Elfter Roman, achtzehntes Buch, Professor Andersens Nacht, Scham und Würde, Armand V. und T. Singer von Dag Solstad sowie Ein Nachmittag im Herbst und Ein reiches Leben von Mirjam Kristensen.

Angaben zur Person: Dag Solstad, geboren am 16.7.1941, gehört zur ersten Garde der norwegischen Schriftsteller. Er hat zahlreiche Romane, Artikel, Theaterstücke und Essays verfasst. Dag Solstad lebt in Oslo. Auf Deutsch erschienen die Romane: "Elfter Roman, achtzehntes Buch"; "Professor Andersens Nacht"; "Scham und Würde"; "Armand V." und "T. Singer"(alle in der Übersetzung von Ina Kronenberger). 2017 wurde ihm der Nordische Preis der Schwedischen Akademie verliehen, der auch als "Kleiner Nobelpreis" gilt.



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