Späth | Unschlecht | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 626 Seiten

Späth Unschlecht

Roman
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-85787-925-8
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 626 Seiten

ISBN: 978-3-85787-925-8
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



»Unschlecht ist der Pflegesohn des Rapperswiler Friedensrichters. Unschlecht wächst natürlich und darum unaufhaltsam heran, zur Volljährigkeit. Das Mündel wird mündig und bekommt einen amtlichen Brief. Unschlecht wird ›sehr geehrter Herr Unschlecht‹. Aus einem Nachtrag zum Brief erfährt er, dass auf der ›Wirklichen und Redlichen Sankt Gallischen Kantonalbank‹ einiges für ihn liegt, für ihn, Johann Ferdinand Unschlecht, Alleinerbe. Im Pass, über den er jetzt auch verfügt, steht unter ›Besondere Kennzeichen‹: Keine. Unschlecht korrigiert eigenhändig: ›Grosse Füsse schöne Augen graugrün gesunde Zähne stark und noch alle. Inselbesitzer der Insel mit Nutzrecht zum Fischen und allem ausser Kormoranvögel und unter über zwanzig Zentimeter grossen Egli und anderen Raub--fischen. Lange Beine.‹«
Neue Zürcher Zeitung

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ERSTES BUCH
DAS ERSTE KAPITEL
berichtet vom Städtlein, der Schule und Schulwundern, von Unschlechts Erbschaft und einem Traum, der mich dermaßen in Hitze gebracht, daß ich laut fluchte. Nicht ich, Zünd übertreibt, wenn er schreibt, die Stadt habe insgesamt zwanzigtausend Einwohner, und die Hälfte, zehntausend, befände sich im Städtischen Irrenhaus. Er macht gern eingängige Sprüche, kommt sich gern schlau vor, mein Freund Zünd. Dreifach übertreibt er: Erstens ist unsere Stadt keine richtige Stadt, nur eine kleine Stadt, ein übriggebliebenes Habsburger Städtlein. Alte Urkunden prahlen zwar von einer ,Festen Freien Hehren Stat’, aber schon früher ist viel geschriftet worden, und diese alten Urkunden sind meist voll Fliegendreck. Zweitens übertreibt er die Einwohnerzahl. Wie viele es ohne die Fremden und andern Wandervögel sind, steht vielleicht an einem weit hergeholten Stichtag, sonst aber nie genau fest. In unserer Gegend wird unplanmäßig gestorben und geboren, der See bringt Unruhe in die Statistik: da ersäuft der eine im Sommer sang- und klanglos, möchte zwar schreien, strengt sich an, will Laut geben, kann aber nicht, japst nur, schluckt, verliert dabei sich und seine galoppierenden Sinne. Säuft ab; das ist eine Art Tradition: einer mehr geht unter die Fische, derweil ein anderer sich und seine Strandbadnixe im Schatten unterm Gebüsch zehn Schritt vom Ufer beglückt. Mein Freund hat dreimal übertrieben, denn drittens hat unser Städtlein kein Städtisches Irrenhaus, nichts dergleichen. Braucht es nicht. Haben wir nicht nötig. Zum Spaß von Zünds schiefer Rechnung ausgehend, kämen Sie und ich zum gleichen Schluß: daß nämlich die eine Hälfte unserer Einwohnerschaft, die irre, nur mangels geeigneter Behausung frei herumlaufe, sich gleicher Freizügigkeit erfreue wie die andere, die nicht irre Abteilung. Aber, sehen Sie, jetzt irren auch wir, und zwar weil eben Verrückte und Nichtverrückte nie gesondert wurden. Man sieht es den Häusern nicht an, in welchen Topf ihre Bewohner gehören; darum hält jeder die andern für das, was sie seiner Meinung nach sind: Löli, Galöri, Spinner, beschissen und verteufelt. Alle haben viel Spielraum für ihre freie Meinung, und das Patente dabei ist, daß jeder getrost verrückt sein kann, es gibt sicher noch Verrücktere. Bei uns ist sozusagen alles möglich, allein schon die Lage und das Wetter machen ziemlich viel aus. Wenn einer verhunzt werden soll – ich rede aus Erfahrung, möchte mich auch heute noch oder erst recht als Rapperswiler bezeichnen –, sind immer ein paar Aufmöbler zur Hand. Wenn hingegen Unschlecht urteilt, tut er es unbelastet wie selten einer und erst, nachdem er lange nachgedacht hat. Die andern reden von oben herab mit der Nase im Unterwind, und jeder hat recht. Solche Rechthaberei erklärt eigentlich alles. Zum Beispiel eben auch, warum es in Rapperswil kein Irrenhaus gibt. Man konnte sich nie zum Bau entschließen. Es wäre zwar eine Erstklaßattraktion geworden, ganz bestimmt, und sicher nicht nur für die Zürcher Oberländer, die unsere Gastfreundschaft an Sonn- und Allgemeinen Feiertagen ziemlich teuer bezahlen müssen. Woher aber nimmst du heutzutage hierzulande den weisen Richter, der da spricht: Du bist verrückt! Du bist es nicht! – und es selbst nicht ist? Da hängt der Haken, und an diesem Haken hängt alles. Man wäre, angenommen, man hätte eine Städtische Idiotenburg zu bauen begonnen, mitten aus der Arbeit davongelaufen, zu einer Zeit, da sich das gemeinnützige Werk kaum im ersten Abschnitt des Rohbaues einigermaßen eindrücklich präsentiert hätte; weggelaufen wäre man, leicht verlegen vorerst, aber alle wären abgeschlichen, jeder hätte sich verdrückt; denn, schlau wie jeder ist, baut keiner einen Zwinger, in den ihn die andern, wer weiß, stecken könnten. Irgendwie hätte das Haus ja gefüllt werden müssen, wenn möglich, ohne die Verrückten von weither oder gar ennet der Grenze zusammenzulesen. Wahrscheinlich scheint mir also, daß wir das angefangene Gemeinschaftswerk nach einstimmig geschlossener Gemeindeversammlung sich selbst überlassen und einszwei drauf getrunken hätten. Auf unsere Einstimmigkeit. Aus nicht allzu großer Ferne, innig mit meinem Städtlein verbunden, kann ich mich einer gewissen Übersicht rühmen, darf es also heute aussprechen: Falsch, verdreht, verbogen! Aus, aus Zünds Traum vom großen Städtischen Rapperswiler Narrenhaus! Die Sache liegt anders. Hier der Lageplan: Das Städtlein wurde auf einer Halbinsel nach und nach über gut siebenhundert Jahre hin mehr oder weniger gleichmäßig erbaut, der wechselnden Witterung und andern veränderlichen oder unbeweglichen Gegebenheiten entsprechend, und zwar mit Fleiß, geschäftsklugem Verstand, mäßigem Schönheitssinn und allem, was dazugehört. Es gibt Schloß, Kirche, Kloster, Schifflände, Schulhäuser, Ringmauer, Schattenwinkel und Seichgäßchen, Türme, Rathaus, Herrenhäuser, Schlachthaus, Kerker, Bürgerhäuser, heimliche Freudenhäuschen, Spital, Totenhaus. Ferner: Schreinereien, Wurstereien, Druckereien, Metzgereien, Schlossereien, Schuhmachereien, Ziegeleien, kleine und große reihenweis. Und Läden und Lädelchen: Hutläden, Gemüseläden, Kleiderläden, Spezereiläden, Blumenläden, Käseläden, Schuhläden, auch Shopping Centers und Discount Läden, und nicht zu vergessen: Kioske; vor allem der Hauptplatzkiosk, dem auch wir nicht ausweichen können, mit dem mich angenehme Erinnerungen verbinden. Außerdem gibt es allerlei Handlungen: Eisenhandlungen, Glashandlungen, Arzneihandlungen, Weinhandlungen, Samenhandlungen, Tabak- und Kolonialwarenhandlungen, Tuchhandlungen, Kurzwarenhandlungen, Eierhandlungen, Holzhandlungen, Devotionalien- und Heiligenbildchenhandlungen, Öl- und Kohlehandlungen. Rapperswil ist stolz auf seine Handlungen, Werkstätten, Fabriken und Läden. Noch größer aber ist der Stolz auf die Wirtschaften. Wir haben am Hauptplatz den Freihof, die Falkenburg, das Rößli und die Rathausstube. An der Halsgasse, die vom Engelplatz zum Hauptplatz führt und sich unterwegs zur Kluggasse mausert, weil dem kurzen Hals der Schnauf ausgeht, steht die fröhliche Wirtschaft zum Paragraph Elf, in die zurückzukommen ist; dann die Wirtshäuser zum Schaf, in dem seit Jahren mehr gemetzget als getrunken wird, die Spanische Weinhalle und grad gegenüber die andere, die Tonhalle. Die Traube macht den Abschluß der Kluggasse und vieler Saufnächte älterer Knaben. Am Fischmarktplatz und in der Nähe des Hafens gibt es den Hirschen, das Schiff, den Hecht, den Bären, das Bellevue, den Anker, das National, den Schwanen – scheint’s das beste Haus am Platz –, das Schwert, den Speer, das Du Lac, den Steinbock. In den Gassen stößt der Durstige auf den versteckten Sternen, den Löwen, den Quellenhof, die Schmiedstube, und weiter landeinwärts auf den Rosengarten und den Scheidweg, aufs Kreuz und die Zeughauswirtschaft. Hotels, Gasthöfe, Beizen, Spunten – alles vorhanden! Die Serviertöchter werden fast überall jährlich gewechselt. Der Stammgast liebt die Abwechslung. Es kann vorkommen, daß der Durstige ein armer Teufel oder kurzfristig dem Blauen Kreuz verschrieben ist. Dann plagt er sich ohne Schnaps. Gequält meidet er die scharfen Schenken, er geht ins alkoholfreie Volksheim, wo alles billig und frisch aus dem Wasser gezogen ist. Oder aber, und dies wäre unsere allerletzte Rettung von Durst und Drang: er klingelt fromm den Bruder Pförtner des Kapuzinerklosters heraus, er hüstelt die übliche Nachfrage durchs Gitter, ob ein Süppchen, ob Brot und vielleicht sogar etwas Flüssiges vorrätig seien. Die Kerben und Zinken an der Klostertür nimmst du als Vorspeise, sie sagen dir: Bescheidenheit und ein braves Vaterunser holen hier alles aus dem Keller. Sollte sich jedoch herausstellen, es sei leider nichts Nahrhaftes vorhanden, dann frag nicht, warum die braunen Brüder Rotnasen haben. Es ist wahrscheinlich Fastenzeit. Komm an Ostern wieder. Dann ist großes Fastenbrechen, dann ißt und trinkt man nicht länger mit den Gemalten. Aber vielleicht fällt dir auf Ostern etwas Ergiebigeres ein, vielleicht hast du lang vor der Karwoche einen anderen Hahnen angezapft und kannst ohne frommes Braun heidenmäßig fröhlich sein. Im Gasthaus zum Elften Paragraphen obliegt der uns nahestehende Teil der Lehrerschaft dem Kartenspiel. Man hat es nicht mit den Welschen, man spielt mit deutschen Karten nach Schweizer Reglement: mit Schellen, Schilten, Rosen und Eicheln: As, König, Ober, Unter, Banner, Neun, das bei Trumpf zum Nell wird und dann an zweiter Stelle hinter dem Trumpfbauer sticht, ferner mit Acht, Sieben, Sechs. Und zwar beachtet der kartenspielende Lehrkörper folgende Jaßregel: Stöck, Stich, Wys, Obenab, Untenauf, Schellen und Schilten doppelt, Schellensechs macht Trumpf und gibt aus, Süffel und Gaffer maulhalten! Diese Übung, von miesen Gemütern ohne mathematische Begabung als blödes Gemischel abgetan, verbindet alt und jung gern mit Trunk und Tabak. Hauptsache ist aber das Spiel, der Jaß, den man jassend auf jedwede Unterlage, meist auf den Jaßteppich auf dem Jaßtisch klopft, so man kann. Unschlechts ehemalige Lehrer Meil und Ramseier können. Es kann auch der Pfarrer Ochs. Und die siebente und achte Hand hat der vierte Mann im Spiel, Ignaz Silberstein, Zahnarzt von Beruf, Antiquitätensammler aus Leidenschaft, ein Mann, der in den dreißiger Jahren vom Schwabenland herkam und sich mit seinem widerwärtigen Weibsstück samt zwölfbeinigem Kindsgekrabbel bei uns einquartiert hat. Er lebt nicht schlecht. Er zehrt an jedem Goldzahn in anderer Leute Gebiß mindestens zweihundertprozentig. Viel Geschwätz. Bier. Wein,...


Gerold Späth wurde 1939 als Spross einer Orgelbauerdynastie in Rapperswil am oberen Zürichsee geboren. 1968 begann er mit dem Schreiben, arbeitete allerdings noch bis 1975 im väterlichen Orgelbaubetrieb mit. Er wurde mehrfach ausgezeichnet und erhielt u.a. den Alfred-Döblin-Preis (1979), den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung (1992) und den Gottfried-Keller-Preis (2010).
Sein Werk umfasst Romane (Commedia, Sindbadland, Stilles Gelände am See u.a.), Hörspiele und Theaterstücke.



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