Erzählungen
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-95732-466-5
Verlag: Verbrecher Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Die nervöse Zwanzigjährige, die hofft, dass ihr Freund anruft. Die hoffnungsvolle Dreißigjährige, die glaubt, dass bei ihr alles anders wird. Anders zumindest als bei der ätzenden Ex, die doch hätte wissen müssen, dass Kinderkriegen auch keinen Ausweg darstellt. Oder bin ich vielleicht sogar die? Es ist gut, ein paar Erzählungen als Wegweiser zu haben. Für jetzt – und für später. Sag nicht, du hättest's nicht gewusst! Hier steht's doch, schwarz auf weiß, und Spaß macht es auch noch.
In diesem Erzählungsband vermag man sämtliche Motive, Themen, ja geradezu die gesamte literarische Welt Anke Stellings zu entdecken – und diese Erforschung ist nicht nur für Stelling-Fans faszinierend.
Autoren/Hrsg.
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FELDSALAT
Nehmen wir das Leben und teilen es in drei Bereiche: Liebe, Arbeit, Essen & Trinken. Wobei Essen & Trinken auch Trinken & Rauchen heißen könnte, Arbeit auch Kunst und Liebe vielleicht Freizeitvergnügen. Irgendwelche Einwände? Liebe: Es ist inzwischen ungefähr klar, was zu kriegen ist und was nicht. Vorlieben sind manifestiert; bei wem sie sich mit dem Erreichbaren decken, hat Glück gehabt. Wer überhaupt jemanden abgekriegt hat, hat Glück gehabt, denn die Zeit der Suche ist ein für alle Mal vorbei. Wer von sich behaupten kann, eine Liebe aus erster Hand zu besitzen, ist beneidenswert. Oder zurückgeblieben. Wer eine aus zweiter Hand besitzt, hat Ärger mit psychotischen Ex-Frauen, Unterhaltszahlungen, Echtheitsnachweisen – dafür aber viel zu erzählen. Arbeit: Das hier. Was will sie denn nun schon wieder, sagst du, ich sage: Es ist der Dienstag nach Pfingsten, fünf vor halb zwei, und es gibt keine Ausrede, den Rechner geschlossen zu halten. Oder wenn, dann findet sie sich hier, in diesen Zeilen, also müssen sie geschrieben werden. Gemäß des Kirchenjahres ist der Geist nun ausgeschüttet und hat sich zu zeigen. Du kannst ja harken gehen, wenn du möchtest. Essen & Trinken: Wer sät, der erntet. Wer trinkt, muss weitertrinken, sonst zittern die Hände. Auch hier sind die Vorlieben manifestiert; bei wem sie sich mit den Empfehlungen der Krankenkassen decken, bleibt schlank und gesund. Die andern versuchen, philosophisch zu werden. Oder Kenner! Das ergibt dann diese ermüdenden Tischgespräche, unter denen wir einst so gelitten haben. Das Feld ist abgesteckt, im Text wie im Leben. Wer weiterblättern will, soll das tun; wer meint, die mittleren Jahre erreichten ihn nicht, hat sich getäuscht. Sie kommen. Sie bestimmen dein Handeln, sie beherrschen dein Denken; du bist nicht mehr, wer du mal warst. Warst du jung? Schön für dich. Ich dachte ja, ich sei’s nie gewesen, aber ich war’s auch, rückblickend. Und jetzt wirst du langsam alt, genauso zwangsläufig, wie ich einstmals jung war. Es gibt eben doch noch das eine oder andere, das wir nicht entscheiden. Heiner und Claudia. Typischer Fall einer Liebe aus zweiter Hand. Jetzt!, haben sie sich gesagt, jetzt oder nie! Und sind zusammengekommen. Waren schöne acht Wochen. Claudia legte die alten Michael-Jackson-Platten auf und fühlte sich wieder wie zwölf, nur mit mehr Busen, was das Ganze noch besser machte. Heiner fickte sie wie ein Verrückter, auch etwas, das er sich mit zwölf gewünscht und damals noch nicht hat verwirklichen können. Keine Klagen also! Endlich das Zeug, die Umstände und die Freiheit dazu. Nur, dass sie nicht mehr zwölf waren. Heiner ging die Puste aus. Musste auch irgendwie das Geld ranschaffen für die Kinder aus erster Ehe. Die psychotische Ex. Das mach mal, wenn du nicht zum Schlafen kommst! Und Claudia hatte ihrerseits nach acht Wochen das Gefühl, die Sache auf eine solidere Grundlage stellen zu müssen. Schließlich war sie jetzt endlich da, die Gelegenheit! Das Husband Material Heiner. Er sollte doch wissen, wie es ging, wo er die erste Runde schon hinter sich hatte. Und tatsächlich wurde Claudia umgehend schwanger, und Heiner sagte, wenn du Pickel kriegst, wird’s ein Mädchen. Wie aufregend. Oder nicht? Ein völlig neues Körpergefühl für Claudia, den Bauch endlich mal rausstrecken zu dürfen. Das genügte für die nächsten neun Monate. Und Heiner? Mal kurz ein paar Worte zu Heiner, damit du dir das Ganze besser vorstellen kannst: Heiner ist wahrhaft lässig. Ein Szene-Mensch, aber auf die angenehme Art. Begabt. Immer freundlich. Haarscharf ist er dran vorbeigeschrammt, so richtig berühmt zu werden – wäre er Brite, wäre er’s. Hätte er’s geschafft, sich auf eine Sache zu konzentrieren, wäre er’s auch. So ist er aus Hannover und macht alles gleichzeitig: singen, malen, Gitarre spielen, Bühnenbild, kurze Fernsehauftritte, Filmscripts, Plena organisieren, Häuser besetzen, Reden halten, kellnern, kochen, Leute zusammenbringen, Bücher schreiben. Jeder kennt ihn, und Heiner kennt sich aus. Claudia kann stolz sein, ihn abgekriegt zu haben, und gut aussehen tut er auch. Also, so mittel. Irgendwie britisch. Heiner ist keiner, mit dem das Familienleben vorgezeichnet erscheint. Keiner wie dein eigener Vater, obwohl du ehrlich gesagt auch keine Ahnung hast, was der für einer war. Der hatte nämlich auch nicht vor, so zu enden, wie du ihn jetzt enden siehst, aber egal. Heiner jedenfalls, um das noch mal zu betonen, ist echt lässig. Seine Kinder wachsen zwischen Gigs und HMI-Scheinwerfern und ausgeweideten Autowracks und weiblichen Fans mit riesigen Sonnenbrillen beziehungsweise Pressedamen und Kuratorinnen auf, die sie zu sich herzulocken versuchen, als seien sie Hundewelpen. Heiners Kinder sitzen bei ihm im Babybjörn vor dem Bauch, egal, was er gerade zu tun hat. Heiners Kinder fahren auf selbstgebastelten Laufrädern rum, nicht auf solchen von Puky. Wer wollte nicht Heiners Kind sein? Kein Grund also für Claudia, sich zu fürchten vor dem, was kommen sollte. Der Abschied von der Jugend, ganz klar, aber der stand ohnehin bevor. War in diesem Fall nicht gleichbedeutend mit dem Abschied von Spaß, Lässigkeit und gutem Aussehen. Im Gegenteil. Toll sah sie aus, mit der Kugel statt des Bauchs, und Heiner erst, wie er das Neugeborene lässig auf dem linken Unterarm ruhen ließ, während er mit der rechten Hand einer seiner zahlreichen Tätigkeiten nachging. Claudia ging zur Rückbildungsgymnastik. Becken heben, Beckenboden anspannen, absenken. Die Matten im Rückbildungskurs rochen, wie Turnmatten überall riechen: nach Schweiß. Die Hebamme gab sich alle Mühe und zündete ein Räucherstäbchen an; die Mitmütter, deren Familienleben vorgezeichnet schien, hatten die Babys dabei, welche brüllten. Keine redete mit Claudia. Müde war sie. Unsagbar müde. Der Weg zur Rückbildungsgymnastik war weit, eine Rückbildung nicht wirklich in Sicht. Becken heben, Beckenboden anspannen, nachlassen. Ohne Rückbildung kein guter Sex, so die Hebamme. Becken heben, anspannen. Die Mitmütter kicherten. Claudia schlief ein. Kann sein, dass es immer noch Eisenmangel war, Claudia brauchte Feldsalat, Feldsalat und Schlaf, Feldsalat und rote Bete. Feldsalat mit Kürbiskernen. Heiner wusch Feldsalat. Das war nichts, das man einhändig tun konnte, einhändig gewaschener Feldsalat knirscht zwischen den Zähnen, Heiner knirschte sowieso schon, trug beim Schlafen eine Knirschschiene. Keiner würde vermuten, dass Knirschschienen im Heinerschen Haushalt eine Rolle spielten, auch Claudia nicht – doch längst war die Knirschschiene zum Symbol geworden, teuflisches Zeichen, ob nachts noch was laufen würde. Denn wenn Heiner die Knirschschiene einsetzte, war Schicht. Licht aus. Ende. Heiner schlief – Claudia lag wach. Becken heben, Beckenboden anspannen, nachlassen. Entspann dich, Claudia! Es ist noch nicht aller Tage Abend, auch wenn er längst die Knirschschiene trägt. Der Zauber der Fortpflanzung half ihr durch den Alltag, und hatte sie es nicht selbst so gewollt? Leise, schnorchelnde Atemzüge. Und Feldsalat. Irgendwo in ihrem traumhaften Garten lauerte die alte Gotel und wollte Claudia das Kind wegnehmen, denn Claudia war hochmütig gewesen. Hatte geglaubt, dass bei ihr alles anders sein würde. Und Heiner hatte nicht widersprochen. Hatte Feldsalat aus Gotels Garten geholt – ein unheilvoller Akt. Claudia hatte auf ihn gebaut, wo sie doch misstrauisch hätte sein müssen, schließlich hatte er schon zwei Kinder und eine psychotische Ex noch dazu, hätte ihr das nicht eine Warnung sein sollen? Nein. Denn Claudia war selbst ganz anders. Apropos, wer ist eigentlich Claudia? Was die Liebe betrifft, hat sie vielleicht in den frühen Jahren ein bisschen Pech gehabt, aber mit Heiner dann eindeutig hochgeheiratet. Also Glück! Die Kuratorinnen und weiblichen Fans wunderten sich. Claudia? Ach so, ja. Arbeit war ihr Stichwort, sie hat immer viel gearbeitet. Einen IQ von erstaunlicher Zahl. Ach, weißt du was, der Einfachheit halber bin ich mal die Claudia. Mit mir kenn ich mich aus. Hab viel gearbeitet, irgendwas, das Heiner aufhorchen ließ. Blondes, schulterlanges Haar, durchdringende Stimme. Siebenunddreißigtausend Treffer bei Google! Wer würde da widerstehen können? Heiner hat gedacht, bei dem IQ würde aus mir bestimmt nicht noch eine psychotische Ex-Frau werden. Denn ich weiß, wie die Dinge laufen. Zum Beispiel bei Claudia! Natürlich hat sie sich verkalkuliert. Und aus Trotz dann trotzdem noch ein Zweites gekriegt. Diesmal ohne Pickel in der Schwangerschaft, ein Junge also. Ein Mädchen und ein Junge. Süß wie die Hundewelpen, ein bisschen dreckig – man soll sie bloß nicht zu viel waschen, die Käseschmiere einziehen lassen...