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E-Book, Deutsch, 0 Seiten

Sterling Schismatrix

Roman
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-641-11145-8
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

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ISBN: 978-3-641-11145-8
Verlag: Heyne
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Jenseits aller Ideologien

Der Homo sapiens der Zukunft hat zwei Möglichkeiten, um über sich hinauszuwachsen: Entweder er ist ein Former und lässt seine Gene gezielt manipulieren, oder er ist ein Anhänger der Mechs, die ihre Körper durch implantierte Chips und Cyborg-Modifikationen aufrüsten. Beide Gruppen führen seit Jahrzehnten einen Kampf darum, wessen Technologie die bessere ist. Abélard Lindsay, ein Mech, der bei den Formern ein diplomatisches Training absolviert hat, lehnt sich gegen die Dogmen beider Gesellschaften auf und wird auf dem Mond ins Exil geschickt. Durch seine Ausbildung fällt es ihm nicht schwer, sich in eine günstige Position zu bringen – doch eine emotionale Entscheidung lässt ihn alles über Bord werfen und ins All aufbrechen, wo sich das Schicksal der Menschheit entscheiden wird …

Bruce Sterling wurde 1954 in Brownsville, Texas, geboren. Nach seinem Journalismus-Studium veröffentlichte er 1977 seinen ersten Roman „Involution Ocean“, dem noch zahlreiche weitere folgten, darunter „Schismatrix“ (1989) und „Schwere Wetter“ (1996). Zudem verfasste er mehrere Sachbücher und schreibt Artikel für verschiedene amerikanische Magazine. Bruce Sterling gilt, gemeinsam mit William Gibson, als Mitbegründer des Cyberpunk und ist einer der führenden Köpfe der Viridian-Design-Bewegung im Netz. 2003 wurde er Professor für Internetforschung und Science Fiction an der European Graduate School. Der Autor lebt heute in Turin, Italien.
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Bemalte Flugmaschinen glitten um die Zentralachse der Welt. Lindsay stand im knietiefen Gras und verfolgte, den Kopf im Nacken, gespannt ihre Bewegungen.

Wie zerbrechliche Papierdrachen sanken und stiegen hoch droben die von Tretpedalen getriebenen superleichten Maschinen durch die Freifallzone. Jenseits davon, am anderen Ende des Durchmessers der Zylinderwelt, leuchtete die Krümmung der Landschaft vom Gelb und dem gesprenkelten Grün der Weizen- und Baumwollfelder.

Lindsay beschattete mit der Hand die Augen gegen das Sonnenblitzen in einem der Langfenster der Welt. Ein Flieger, dessen Tragflächen die elegante Zeichnung von blauen Schwungfedern auf weißem Grund aufwiesen, stieß durch den Lichtbalken lautlos zu ihm herab. Er sah das lange Haar der Pilotin hinter ihr wehen, während sie sich wieder aufwärtsstrampelte. Er wusste, dass sie ihn gesehen hatte. Er hätte ihr gern etwas hinaufgerufen, wild mit den Armen gefuchtelt, doch er wusste ja, dass er beobachtet wurde.

Seine Kerkermeister holten ihn ein: seine Frau und sein Onkel. Die zwei Altaristokraten bewegten sich mit schmerzerfüllter Langsamkeit. Das Gesicht seines Onkels war gerötet; er hatte seinen Herzschrittmacher beschleunigt. »Du bist gerannt«, sagte er. »Gerannt!«

»Ich wollte mir ein bisschen die Beine vertreten«, sagte Lindsay kühl und höhnisch. »Vom Hausarrest bekomme ich Muskelkrämpfe.«

Sein Onkel spähte nach oben, legte die altersfleckige Hand über die Augen, folgte Lindsays Blicken. Das Pedalopter mit der Vogelzeichnung schwebte mittlerweile über der Sauermarsch, einem versumpften Stück Land inmitten des landwirtschaftlich genutzten Paneels, wo die Bodenkrume verrottet war. »Du beobachtest anscheinend die Sauermarsch, he? Wo dein Freund Constantine arbeitet. Man sagt, er gibt dir Signalzeichen von dort.«

»Philip betreibt Insektenforschung, Ehrenwerter Onkel. Nicht Kryptographie.«

Aber Lindsay log. Er war während seines Hausarrests durchaus auf Constantines heimliche Signale und Informationen angewiesen.

Er und Constantine waren politische Kampfgefährten. Nach dem großen Knatsch hatte man Lindsay auf den Besitz seiner Familie in Quarantäne geschickt. Philip Constantine hingegen verfügte über unersetzliche ökologische Fähigkeiten. Also war er noch auf freiem Fuß und durfte in der Sauermarsch arbeiten.

Die lange Internierung hatte Lindsay zur Verzweiflung getrieben. Er war in Höchstform unter Menschen, wo er mit seinem diplomatischen Geschick brillieren konnte. Seit seiner Isolationshaft hatte er an Körpergewicht verloren: die hohen Wangenknochen stachen in kantigem Relief hervor, in seinen grauen Augen glomm ein mürrischer, rachsüchtiger Schimmer. Der plötzliche Spurt hatte ihm die modisch gekrausten schwarzen Locken zerzaust. Lindsay war großgewachsen und schlank, und er besaß auch das lange Kinn und die hochgeschwungenen ausdrucksstarken Augenbrauen des Lindsay-Clans.

Alexandrina, seine Frau, ergriff ihn am Arm. Ihre Kleidung war der neuesten Mode entsprechend: ein langer Faltenrock und ein weißer Arztkittel. Der reine, aber fahle Hautton verriet Gesundheit ohne Vitalität, als wäre ihre Haut perfekt, aus perfekt bedrucktem Kunstdruckpapier. Mumienhafte Schmachtlöckchen zierten ihre Stirn.

»Du hast mir versprochen, du redest nicht über Politik, James«, sagte sie zu dem älteren Mann. Dann blickte sie zu Lindsay empor. »Du bist ganz blass, Abélard. Er hat dich aufgeregt.«

»Bin ich blass?«, sagte Lindsay. Er griff auf den Fundus seiner Shaper-Ausbildung zum Diplomaten zurück. Seine Wangen färbten sich rosig. Er ließ die Pupillen seiner Augen größer werden und lächelte zähneblitzend. Sein Onkel trat mit verkniffenem Gesicht zurück.

Alexandrina hängte sich an seinen Arm. »Ach, wenn du das doch bloß lassen könntest«, sagte sie zu Lindsay. »Du machst mir Angst damit.« Sie war fünfzig Jahre älter als er, und sie hatte gerade kürzlich erst beide Kniescheiben ersetzt bekommen, und diese Mechano-Prothesen aus Teflon bereiteten ihr noch immer Kummer.

Lindsay verlagerte sein Exemplar des zum Buch gebundenen Printout in die linke Hand. Im Verlauf seines Hausarrests hatte er Shakespeares Werke in modernes Zirkumsolar-Englisch übertragen. Die Ältesten des Lindsay-Clans hatten seine Bemühungen eifrig unterstützt. Wohl weil sie hofften, seine historisch-antiquarischen Hobbies würden ihn davor bewahren, weiter gegen den Staat zu konspirieren.

Zur Belohnung wollte sie ihm sogar gestatten, seine Arbeit dem »Museum« zu überreichen. Und er hatte die Gelegenheit benutzt, um wenigstens für eine kurze Weile seinem Hausarrest zu entrinnen.

Das »Museum« nämlich war eine Brutstätte der Subversion. Es wimmelte dort von Lindsays Freunden, den »Konservationisten«, wie sie sich nannten. Eine reaktionäre Jugendbewegung mit romantisch-gefühligen Verhaftungen an die Kunst und Kultur der Vergangenheit. Und das Museum hatten sie zu ihrer politischen Festung umfunktioniert.

Die Welt, auf der, oder vielmehr, in der sie lebten, war die MSCCR (»Mare Serenitatis Circumlunar Corporate Republic«), ein zweihundert Jahre altes künstliches Satelliten-Habitat in Umlaufbahn um den Terra-Mond. Und da es sich dabei um einen der ältesten Nationalstaaten der Menschheit im Weltraum handelte, war es ein traditionsgeschwängerter Ort voller alteingefahrener bodenständiger Kulturtraditionen.

Dennoch war die Veränderung über diese Welt hereingebrochen, sie hatte sich wie Sporen von den jüngeren, stärkeren Welten im Asteroidengürtel und in den Saturn-Ringen her ausgebreitet. Die »Mechanisten«- und »Shaper«-Supermächte hatten ihren Krieg in diesen friedlich-stillen Stadtstaat exportiert. Die Spannung hatte zur Aufsplitterung der Bevölkerung in feindliche Parteien geführt: die »Konservaten«, zu denen Lindsay gehörte, gegen die »Radikalen Alten«, kurz: aufmuckende revolutionssüchtige Plebejer gegen die wohlhabenden Aristos.

Sympathisanten des »mechanistischen« Systems hielten in der Republik das Heft in der Hand.

Die Altradikalen übten von ihren Regierungskrankenhäusern her die Macht aus. Diese hochbetagten Aristokraten (jeder davon mindestens ein Jahrhundert alt) waren aus der progressivsten prothetischen Mechano-Hardware zusammengeflickt und ihre Lebenserwartung durch eben diese importierte Ersatzteil-Technologie gesteigert. Allerdings trieben die medizinischen Versorgungskosten die Republik in den volkswirtschaftlichen Ruin. Das Land war gegenüber den Medico-Kartellen der Mech-Welten bereits hochverschuldet. Und die »Republik« würde in kurzer Zeit ein von den Mechanos abhängiger quasi-kolonialer Satellitenstaat sein.

Die Shapers hingegen setzten ihr eigenes Verführungspotenzial ein. Vor Jahren bereits hatten sie Lindsay und Constantine ausgebildet und indoktriniert. Und über diese beiden Kampfgenossen und Freunde, die Führer ihrer Generation, hatten die Shaper die Möglichkeit gewonnen, sich den Zorn der Jugend zunutze zu machen, die erkannte, wie man ihr das angestammte Recht vorenthielt, damit die Mechanisten Profite machen könnten.

Die Spannung in der Republik war bis zu einem solchen Grade angestiegen, dass eine kleine Beiläufigkeit zur Explosion führen konnte.

Der strittige Punkt hieß: Leben. Und den beweiskräftigen Schlusspunkt sollte der Tod setzen.

Lindsays Erhabener Onkel schnaufte heftig. Er tippte auf seinen Armbandmonitor und senkte seine Herzfrequenz. »Keine weiteren Eskapaden mehr«, sagte er. »Man wartet im Museum auf dich.« Er runzelte die Stirn. »Und denk daran, keinerlei extempore Ansprachen. Halte dich an das vorbereitete Skript.«

Lindsay starrte noch immer nach oben. Der Ultraleichtflieger mit den Vogelschwingenmustern setzte zu einem heftigen Sturzflug an.

»Nein!«, schrie Lindsay. Er warf sein Buch weg und begann zu rennen.

Das superleichte Aerocycle krachte außerhalb der steinernen Sitzreihen eines Open-Air-Theaters ins Gras.

Der Flieger lag mit zierlich zerschmetterten verdrehten Schwingen auf dem Boden. »Vera!«, brüllte Lindsay.

Er zerrte sie aus dem zerknautschten Wrack. Sie atmete noch; aus Mund und Nase schoss pulsierend das Blut. Ihre Rippen waren gebrochen. Sie röchelte, als ersticke sie. Lindsay zerrte an dem ringförmigen Halskragen ihres Konservisten-Dress. Der Draht im Kragen zerschnitt ihm die Hände. Der Dress war nach dem Muster von Astronautenanzügen gestyled; die Harmonikafalten an den Ellbogen waren zerquetscht und fleckig.

Aus dem hohen Gras stiegen kleine weiße Mottenfalter auf. Sie kreisten umher, als würden sie vom Blut angezogen.

Lindsay wischte einen Falter von ihren Lippen und presste seinen Mund auf den ihren. Der Puls an ihrem Hals brach abrupt ab. Sie war tot.

»Vera«, stöhnte er. »Liebstes! Sie haben dich reingelegt …«

Ein Schwall von Trauer und Hochgefühl schoss über ihn hinweg. Er fiel in das sonnenwarme Gras, schlang die eigenen Arme um sich. Weitere Mottenfalter wirbelten empor.

Sie hatte es getan. Jetzt auf einmal erschien es als sehr leicht. Hundertmal hatten sie beide darüber gesprochen – bis tief in die Nacht hinein, im Museum, im Bett nach der ehebrecherischen Liebe. Selbsttötung – der letzte, äußerste Protest. In Lindsays Kopf öffnete sich die unermessliche Szenerie einer schwarzen Freiheit. Er hatte plötzlich und ganz widersinnig ein Gefühl starker Freiheit und Lebendigkeit. »Liebste, es wird nicht lange dauern …«

Er kniete da, als sein Onkel zu ihm trat. Das Gesicht des alten Herrn war grau. »Oh«, sagte er. »Das ist böse. Was hast du getan?«

Lindsay wuchtete sich schwankend auf und stand. »Komm nicht näher an sie heran! Verschwinde!«

Sein Onkel...


Sterling, Bruce
Bruce Sterling wurde 1954 in Brownsville, Texas, geboren. Nach seinem Journalismus-Studium veröffentlichte er 1977 seinen ersten Roman „Involution Ocean“, dem noch zahlreiche weitere folgten, darunter „Schismatrix“ (1989) und „Schwere Wetter“ (1996). Zudem verfasste er mehrere Sachbücher und schreibt Artikel für verschiedene amerikanische Magazine. Bruce Sterling gilt, gemeinsam mit William Gibson, als Mitbegründer des Cyberpunk und ist einer der führenden Köpfe der Viridian-Design-Bewegung im Netz. 2003 wurde er Professor für Internetforschung und Science Fiction an der European Graduate School. Der Autor lebt heute in Turin, Italien.



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