E-Book, Deutsch, 134 Seiten
Stern Sumatra
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7543-6421-5
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 134 Seiten
ISBN: 978-3-7543-6421-5
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mit Rucksack und Wanderstab macht sich der Ich-Erzähler im Frühsommer des Jahres 1976 zu Fuß auf den Weg zu seinem Idol, dem zurückgezogen lebenden Schriftsteller Gadamer, dabei stets die ruhigen Feldwege und Schatten der Waldränder suchend, weit abseits tosender Autobahnen und lärmiger Großstädte. Die Begegnung mit einer Gruppe asiatischer Puppenspieler beeinflusst seine Reise dabei mehr, als er ahnt, und während er sich auf seinem Weg alleine wähnt, führt ihn dieser vielleicht sogar über einen doppelten Boden.
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I
"Der Sechsundsiebziger wird ein Jahrhundertjahrgang", schloss der Professor seinen Vortrag über die zu erwartende diesjährige Weinlese. Seine Fingerspitzen tänzelten über den Rand seines Glases, in dem der Rebensaft strohgelb schimmerte. "Es ist keinesfalls noch zu früh, dies vorauszusagen", setzte er noch wie rechtfertigend hinzu, und ich nickte nur, nickte kurz und stumm, froh darüber, dass dieses Thema, das mich nicht interessierte, beendet schien, widmete mich hingegen dem Ausblick von der Hotelterrasse hinunter über die Weinberge, zwischen denen der Fluss mit der untergehenden Sonne zu einer flüssigen Glut verschmolz. Die Frau des Professors studierte darüber ohne falsche Scheu und in Erwartung, dass ich mich ihr zuwenden würde, mein Profil – ich sah dies nicht, spürte es dafür umso deutlicher, während ich aus den Augenwinkeln wahrnahm, dass sie beiläufig den Stiel ihres Glases zwischen den Fingern drehte, so wie er und sie überhaupt die Angewohnheit hatten, mit den jeweils vor ihnen stehenden Trinkgefäßen zu spielen. Allein unter Weinkennern: Wie befremdlich für jemanden wie mich, der sich aus Alkohol nichts macht und der immer mit leiser Geringschätzung auf jene Mitmenschen hinunterzusehen pflegt, die ohne nicht leben können. Aber dieses Beisammensein schien unvermeidlich, seit ich den beiden zum ersten Mal begegnet war, unmittelbar nachdem ich gestern Nachmittag das Hotel betreten hatte und mich im schwitzgrauen Hemd, schmutzblauer Jeans und verkrusteten Wanderstiefeln an der Rezeption der Gnade und den pikierten Blicken des diensthabenden Mitarbeiters ausgeliefert fand, während sie und er gerade ihren Schlüssel holten und sie mich mit amüsiert hochgezogener Augenbraue und dem natürlichen Selbstverständnis der mondänen, eleganten Endvierzigerin unverhohlen gemustert hatte. Schon am gleichen Abend war es im Restaurant zu einer erneuten Begegnung gekommen, aber nicht sie, sondern er machte überraschenderweise den Anfang, stand mit einem Mal an meinem Tisch, entschuldigte sich, stellte sich vor, erkundigte sich, ob ich der sei, den er glaubte schon an der Rezeption erkannt zu haben, und ich ward, nachdem ich dies bejahen konnte, an ihren Tisch eingeladen. An diesem ersten Abend war er noch der Gesprächigere von beiden gewesen, hatte die zunächst lau plätschernde Unterhaltung sanft, aber mit unverkennbarem Nachdruck, auf den von ihm gewünschten Kurs manövriert, war schließlich in sein Fahrwasser gelangt, hatte ausdauernd und mit sichtlichem Genuss am Klang der eigenen Stimme über Künstlerisches, Wissenschaftliches, und natürlich, um mich mit seinem fachlichen Durch- und Überblick zu beeindrucken, auch über meine Disziplin, die Literatur, doziert, fürderhin über seine Karriere, seinen Lebensweg, seine Jugend, hatte insbesondere bei Letzterem immer ausgiebiger dem Wein zugesprochen und mich dabei offensichtlich im Lauf des Abends so sehr ins Herz geschlossen, dass er sich schließlich, kaum dass man sich drei Stunden und noch mehr Flaschen Wein lang kannte, zu dem Geständnis verrannte, dass ich der Sohn sein könnte, der ihm nie vergönnt war. Das darauffolgende Schweigen war von durchaus betretener Natur gewesen – hauptsächlich ihres und meines –, es war danach höchste Zeit, die Runde aufzulösen, und nach einem feierlichen Eid, auch am nächsten Abend wieder bei Tisch präsent zu sein, war ich als Sohn zunächst entlassen. Sie packte ihn mit sicherem Griff am Arm und manövrierte ihn aufs Zimmer, ich trollte mich auf meines, und die junge Familie begab sich zur wohlverdienten Nachtruhe. Meinen Schwur konnte ich trotz der unangenehmen Offenbarung kaum brechen; ich musste notgedrungen zwei Tage im Hotel bleiben, um meine Wanderausrüstung zu säubern und Kleidung zu reinigen, also hätte ich mich vor den beiden verstecken oder eine Ausrede erfinden müssen. Zwar verspürte ich wenig Drang danach, die Monologe des Professors sowie seine Sitten und Unsitten des Trinkens nochmals einen ganzen Abend lang zu ertragen, aber wenn ich zugesagt hatte, dann nur, weil ich höflich sein wollte, weil ich auf meiner Wanderung bislang nicht viel Bekanntschaften geschlossen hatte, und weil mir die sporadischen Blicke seiner Frau einfach Spaß machten. Er war jedoch heute weit zurückhaltender als am Vortag, entweder war ihm sein gestriges Geständnis, sofern er sich daran erinnern konnte, peinlich, oder er begann die Blicke seiner Frau, die nicht ihm galten, zu bemerken. Nicht, dass sie schamlos flirtete, im Gegenteil, sie arbeitete sehr subtil, aber gerade deswegen musste er es als doppelt gemein empfinden, und ich gab mir Mühe, nicht darauf einzugehen, es lag mir fern, eine – immerhin, wie mir stolz zugetragen wurde, im silbernen Jubiläum stehende – Ehe zu gefährden, übte mich also in ritterlicher Zurückhaltung und gab vor, ihre Avancen nicht lesen zu können. Vielleicht maß ich dem allem auch zu viel Gewicht bei, vielleicht dachte sie sich gar nichts bei ihrem Tun – was ich selbst nicht glaubte, sie dachte sich wohl etwas –, und ich überlegte, ob dies nur eine achtlose Gewohnheit von ihr war, und ob er, lang verheiratet und weitgereist wie sie waren – und im Hinblick auf den Altersunterschied –, sich damit nicht schon grundsätzlich abgefunden hatte. Unglücklich wirkten sie oberflächlich betrachtet keineswegs, sie gaben sich als eingespieltes Team, welches sich mit Reisen die Zeit vertrieb – aber man fragt sich natürlich, wieviel Reiz, wieviel Anziehung, wieviel Zuneigung noch besteht, wenn ein Paar im Lauf der Jahre zu einem Team zur Bewältigung der Aufgaben des Alltags gefroren war, in dem jeder nur noch die ihm zugedachten Tätigkeiten verrichtete und alles auf kaltes Funktionieren und fehlerfreie Routine hinauslief. Der Professor musste fünfundzwanzig Jahre und einige Hektoliter Riesling jünger durchaus einmal passabel ausgesehen haben, jetzt allerdings gab er im ausgeleierten Fischgrätsakko, mit dünnem Haarkranz und von zu viel praktischer Beschäftigung mit seinem Steckenpferd dauergerötetem Gesicht eine eher drittklassige Figur ab. Warum man so oft nette, jüngere Frauen sich an komische, ältere Männer ketten sieht, war mir seit jeher und auch in diesem Fall ein Rätsel: Junge Studentin schmeißt kurz vor dem Abschluss für ihren Professor das Studium hin, es wird geheiratet, und sie konzentriert sich fortan auf die Rolle der Dame des Hauses. Ihn stellte ich mir zu jener Zeit vor als den stets väterlich Mahnenden, mit sonorer Stimme und gönnerhaftem Wohlwollen die Hand liebevoll schützend über ihre mädchenhafte Ausgelassenheit haltend, bis sich im Weggang der Zeit die Pole umgekehrt hatten und sie es nun war, welche schützte, führte und kontrollierte. Anzeichen von Zärtlichkeit oder einfach nur leise glimmende Reste ehemals glühender Liebe vermochte ich keine zu erkennen: kein Kuss, keine Umarmung, keine Herzlichkeit, kein verliebter, geschweige denn freundlicher Blick, nicht mal eine Berührung, nichts. Und doch: Irgendwann musste es einmal Liebe gewesen sein. "Was glauben Sie, wird Gadamer machen, wenn Sie an seine Tür klopfen?" fragte sie, mit ihren langen schlanken Fingern das Weinglas liebkosend. "Ich hoffe, er öffnet sie und wird mich hineinlassen", antwortete ich. "Und wenn er Sie nicht hineinlässt? Was machen Sie dann?" "Ich sage ihm, dass ich nicht wochenlang durch das halbe Land renne, um mir am Ende die Tür vor der Nase zuschlagen zu lassen." "Rufen Sie ihn doch an. Warnen Sie ihn vor." "Damit erschrecke ich ihn nur. Er würde sich verbarrikadieren." "Er hat sich doch längst verbarrikadiert! Es heißt, er hätte Mauern und Stacheldraht ums Haus." "Das habe ich auch gehört. Und er frisst Journalisten und kleine Kinder." Sie setzte das Glas an die Lippen, trank langsam, ließ mich dabei nicht aus den Augen und lächelte durch das Glas hindurch. Ein paar Strähnen ihres rotbrünett flimmernden Haars fielen ihr in die Stirn. "Aber wenn er wirklich nicht öffnet", sagte sie dann, "sind Sie wochenlang für nichts durch Wälder und Wiesen gestapft." Der Professor rutschte unruhig auf seinem Platz hin und her, wusste nicht wohin mit seinen Händen, legte die eine auf die Tischplatte, die andere aufs Knie, stierte nervös hinaus in die Landschaft, tat es schließlich seiner Frau gleich und fingerte am klebrigen Stiel seines Weinglases herum. Dann fand er neue Ablenkung, griff zum Salz- und Pfefferstreuer und ließ die beiden Gefäße im Zweivierteltakt aneinanderklacken. Sie missbilligte sein Tun mit einem giftigen Seitenblick, den er ignorierte. "Wissen Sie, was das Faszinierendste ist an Gadamer?" wandte sie sich wieder mir zu. "Seine Stimme. Haben Sie mal seine Rundfunkaufnahmen aus den fünfziger Jahren gehört? Was für ein wunderbarer, warmer Bariton. Er sollte Platten aufnehmen. Ich würd' sie alle kaufen und mich nur am Klang berauschen." Der Professor vergaß für einen Moment den Zweivierteltakt, ließ die Perkussionsinstrumente ruhen und mischte sich lautstark ein: "Platten aufnehmen, was ist das denn für ein Unsinn. Er ist doch Schriftsteller, kein...