E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Strasser Wildhof
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8031-4412-6
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-8031-4412-6
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Selbstmitleid ist Lina fremd, denn sie hat reichlich Humor. Doch woher all die Wut kommt, die mitunter aus ihr herausbricht? Sie scheint dann ganz außer sich, völlig daneben. Weil wohl einfach zu viel zusammengekommen ist. Kein kleines Familiendrama, ein großes. Ihre Zwillingsschwester Luise ist spurlos verschwunden. Vor Jahren. Schon lange lebt Lina deshalb nicht mehr in Wildhof. Jetzt aber muss sie dorthin zurückkehren, um aufzuräumen, nachzuforschen, zu begraben und abzuschließen.
Gut dreißigjährig und frisch verwaist sucht sie nun einen Käufer für das Elternhaus und findet wieder, was auf immer versunken schien. Auch endlich eine Spur. Denn Luise hat ihr einen Wegweiser hinterlassen …
In einer Gegenwart, in der sie gehalten wird vom durchsonnten Wald und von alten Freundschaften, kratzt Lina beidhändig die vermooste Vergangenheit frei. Und damit ihre eigene Zukunft.
Ein sinnliches Buch, voller Gefühle, Gerüche und Geräusche, angespannt und spannend bis zum Schluss.
Autoren/Hrsg.
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7
Nicki also. Morgen sehen sie sich. Gehen gemeinsam zum Bestatter, zu Hanno, von dem alle immer dachten, dass er ans Theater geht, und der jetzt seine Zeit mit Toten verbringt. Fotos haben sie früher gemacht, bei Nicki auf dem Dachboden, mit allen möglichen Klamotten. Geklauten Klamotten. Glitzernde Trainingshosen, enganliegende Tanktops, Plateauschuhe. Nicki ist verheiratet und hat ein Kind. Nicki ist verheiratet und hat ein Kind und einen Mann. Nicki ist verheiratet und hat ein Kind und einen Mann und einen Hund. Lina geht zurück, am Fluss entlang. Sie stolpert über einen Ast, den der Wind vom Baum gerissen hat. Ein Hund. Einen Hund hätte sie auch haben können, auf der Straße. Mehrmals kamen irgendwelche Leute mit einem Hund an, und sie liebte sie, immer. Aber es ging nicht. Sie konnte nicht einfach so einen Hund haben, irgendeinen Hund, der nicht Sherry war. Es ist so dunkel im Wald, dass ihr einzig das Geräusch des Flusses als Richtungsweiser dient. Diesmal springt ihr keine Forelle vor die Füße. Diesmal wird sie beinahe überfahren. Aus der Dämmerung vor ihr kommt ein Mountainbiker angeschossen. Dunkler Helm, dunkle Kleidung, nur die silbern glitzernden Gelenkschoner verraten ihn. Er reißt seinen Lenker herum, fährt ein Stück die Böschung hoch, pfeift durch die Zähne, stürzt fast, fängt sich in letzter Sekunde und rast weiter dem Neonlicht der Tankstelle entgegen. Lina springt zur Seite, fällt hin und landet auf ihren Tütensuppen. Du Arschloch! Will sie dem Typen hinterherrufen, aber sie kann es nicht. Es ist wegen des Parfums des Mannes. Er riecht wie Toni. Sie sitzt ganz allein im dunklen Wald, neben ihr gurgelt der Fluss, eine Banane ist zermatscht, die Weinflaschen glücklicherweise heil, und es riecht nach Toni. Frische Wäsche, geöffnete Fenster, zwei Fahrräder, die nebeneinander in der Wiese liegen. Gras, das einem in den Kniekehlen kitzelt, und wenn er lacht, flattern lauter kleine gelbe Schmetterlinge in den Himmel, heute Abend gehen wir ins Kino, und sie würde jetzt am liebsten etwas kaputt schlagen, aber sie kann nichts sehen, und die Suppen und den Wein will sie behalten, weil wer weiß, wann sie das nächste Mal einkaufen gehen kann, wenn sie hier ja offensichtlich in der Vergangenheit gelandet ist, und das Zeug, das im Haus in der Kammer oder im Kühlschrank lagert, kann man höchstwahrscheinlich nicht mehr essen. Jetzt schreit sie ihm doch noch nach, dem Mountainbiker. »Du Arschloch! Pass auf, du Arschloch!« Tonis Parfum verschwindet Richtung Ort. Sie atmet und merkt, dass sie gar nicht wirklich atmet. Sie schnuppert. Sie schnuppert dem Mountainbiker hinterher, sie knurrt und atmet und zählt und der Fluss gurgelt und die Bäume schwanken und man könnte auch einmal von einem besonders dicken Ast erschlagen werden, im Sturmwald, und früher waren sie andauernd bei Sturm im Wald, aber nie ist etwas passiert. Auch jetzt passiert nichts, bis auf ihr Herzklopfen, und das kotzt sie alles so an, und sie war doch nicht nur dieses eine Mal mit Toni im Kino, sie waren doch bestimmt oft im Kino, aber sie erinnert sich nur an dieses eine Mal. Der Film ist ein Endzeitfilm, und es regnet darin die ganze Zeit. Tonis Arm neben ihr, die Lehne zwischen ihnen bleibt den ganzen Film über unbenutzt, Toni sitzt da, er atmet, er lacht, sie auch, das Ende ist sehr dramatisch, ihre Knie berühren sich kurz, zum ersten Mal allein mit Toni im Kino. Er mag Filme, seine Haare fallen ihm in die Augen, seine Augen funkeln, und wenn er lacht, zieht ein heller Sommerstreifen über sein Gesicht, und Lina sitzt bloß da und schaut ihn an, aber nur kurz, sonst wird es zu auffällig. Nach dem Film hocken sie auf den Stufen vor dem Kino, einem altmodischen Steinbau aus den 50ern, über ihnen der Sternenhimmel, vor ihnen der Fluss, zwischen ihnen nur die halbleere Tüte Popcorn, und Lina starrt auf den silbern schimmernden Mond, der langsam hinter den Bäumen emporklettert wie ein alternder Musicalstar. Und weil sie so abgelenkt ist vom Mond, tastet sie ohne hinzusehen neben sich, und so kommt es, dass sie Tonis Hand berührt, als beide gleichzeitig in das Popcorn greifen, und dann sehen sie sich zum ersten Mal länger an. Toni. Fuck. Sie schüttelt erst ihre Hände, dann die Beine, steht dann langsam auf. Nimmt ihren Hut, sammelt die Einkäufe wieder ein, die verstreuten Suppen, Tomate, Gemüse, Pfifferlinge und den Schokoriegel. Ein schmaler Streifen orangenes Licht schimmert da hinten noch zwischen den Bäumen durch, da geht die Sonne unter, da muss sie hin, und dann, endlich, sind Tonis Parfum und das Kino verschwunden und stattdessen riecht es nach Regen. Sie läuft los. Endzeitfilm. Popcorn. Toni. Weg damit. Wenn sie sich richtig erinnert, war die Hauptfigur am Ende tot. Kaum steht sie in der Küche, geht es los, das Prasseln. Es ist immer noch warm draußen. Sie stellt ein Teelicht unter das Vordach, öffnet das Küchenfenster, schenkt sich ein Glas Wein ein und raucht dem Regen entgegen. Luise, Nicki, Hanno, Toni. Noch nicht mal einen Tag ist sie hier und hat bereits vier Gespenster getroffen. Wie soll sie hier schlafen. Wie soll sie die restlichen Tage überstehen. Was soll sie da sagen, im Rathaus, beim Bestatter, beim Grillen. Guten Morgen. Äh, hallo. Ja, hi. Ich hätte gern ein paar Infos. Einen Sarg. Ein Steak bitte. Und was sagt man danach, was sagt man nach dem ersten Satz, wenn es losgeht, das Gespräch. Sie ist keine gefüllte Minibar, sie ist ein Keller, mit genau einer Flasche Wein drin. »Stell einfach Fragen«, sagt ihre Bewährungshelferin. »Stell Fragen.« Sie ruft an, weil Lina nicht wie vereinbart angerufen hat. »Sorry«, sagt Lina, »hab ich ganz vergessen.« Die Bewährungshelferin findet das nicht schlimm, also sie notiert sich das jetzt nicht, sie freut sich erst mal nur, dass alles so weit in Ordnung ist. Da kichert Lina und kann sich für ein paar Sekunden kaum beruhigen. Ja klar, in Ordnung. Mir geht es prima! Alles ist in Ordnung! Vor einiger Zeit hat Lina einen Praktikanten aus dem Fenster gehalten. Auf seinem Rechner hatte er Hunderte Filmchen, in denen er oder seine Freunde irgendwo im Park, auf einer Straße oder in einem Einkaufszentrum fremden, ihnen entgegenkommenden Mädchen aus dem Nichts einfach so ins Gesicht schlugen. Die Mädchen reagierten unterschiedlich, manche schrien auf, andere versteinerten vor Schreck, die wenigsten wehrten sich und schlugen zurück. Die Jungs reagierten alle immer gleich, mit wackelndem Gelächter. In der nächsten Pause fuhr Lina mit dem Praktikanten hoch in den neunten Stock, beharrlich schweigend, trotz seiner hilflosen Versuche, Small Talk zu machen, sie ließ ihn nicht aus den Augen, öffnete auf dem Weg zum Dach plötzlich ein Fenster im Flur und kippte ihn raus. Er versprach, nie wieder ein Mädchen zu schlagen, kündigte am nächsten Tag, und seine Eltern zeigten sie an. Den Eltern schickte sie noch eine anonyme Mail mit allen Videos. In jedem Video hatte sie den kichernden Praktikanten markiert, sofern er nicht gerade selbst filmte. Eltern sollten zu ihren Kindern halten, aber sie sollten auch wissen, wer ihre Kinder sind. Da Lina auch vorher schon auffällig geworden war, wurde sie schließlich zu einem halben Jahr auf Bewährung verurteilt. Und das ist in einer Woche rum. Eine Woche! Die Stimme der Bewährungshelferin zittert schon ganz vorfreudig, sie freut sich wirklich, Lina hat es fast geschafft! Das schafft sie jetzt auch noch! Einfach alles normal weitermachen, so wie immer. Als wäre nichts passiert. Lina knurrt. So, als wäre nichts passiert, das kann sie gut. Noch eine Woche. Sie lacht, und als ihr Blick auf den Müllberg im abendlichen Garten fällt, lacht sie nur noch mehr. Alles ist super hier! Mega! Die Bewährungshelferin ist glücklich, dass Lina so schnell wieder Anschluss gefunden hat an die alten Freunde und dass es ihr offensichtlich gut geht. Sie ist stolz auf Lina und überzeugt, dass Lina das hinbekommt, mit dem Grillen und dem Small Talk. Die meisten Menschen reden gerne über sich. Und Lina schafft das, da ist sie sich ganz sicher. »Meld dich wieder!«, sagt die Bewährungshelferin. Das verspricht Lina, aber dann ist der Empfang wieder weg. Sie legt das Handy auf den Tisch und schaut aus dem Fenster. Die Sonne ist jetzt weg, und Lina sieht zu den tropfenden Bäumen, und das sieht schön aus, und es riecht gut, und sie versteht nicht ganz, was los ist, denn ihr Gesicht fühlt sich komisch an, warm, als hätte es Risse bekommen, einfach so. Der Regen wird immer lauter. Oder wird der Rest nur leiser? Hier gibt es keine Autos, keine Flugzeuge, keine Menschen, niemand hupt, niemand schreit, nichts brummt, hier ist nur der Regen. Und die Luft. Und die Blätter. Das nasse Gras, barfuß steht sie jetzt im Regen, die Zigarette brennt nicht, sie ist zu feucht und klebt in ihrem Mundwinkel, die Haare hängen ihr in die Augen, es tropft in ihren Nacken, das Wasser läuft über den brennenden Rücken, sie streckt die Arme aus, hält die Handflächen dem Regen entgegen, getanzt haben sie früher im Regen, gehüpft sind sie, gelacht haben sie, Henny und Richard am Fenster, Luise und Lina in Unterhosen durch die immer größer werdenden Pfützen, immer nasser, in der Ferne grummelt schon der Donner, Richard holt Handtücher und winkt damit einladend an der Tür, aber Luise und Lina kommen nicht rein, denn Regentropfen sind Freunde und Freiheit und das Herabfallen aller Möglichkeiten vom Himmel, und da kann man doch nicht einfach reinkommen, drin sind wir doch immer, nur noch kurz, nur noch ganz kurz, und dann schießt das Wasser aus den Bergen, aus dem Wald, über die kleine Mauer, und sie waten durch...