Strauß | Paare Passanten | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Strauß Paare Passanten


1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-446-25113-7
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

ISBN: 978-3-446-25113-7
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



In vielen kleinen Beobachtungen, Erzählungen, Beschreibungen und Analysen setzt Botho Strauß ein facettenreiches Mosaik unserer Medien- und Konsumgesellschaft zusammen. Er beobachtet Paare wie Passanten, beschreibt das menschliche Miteinander genauso wie die Vereinsamung des Einzelnen in der Masse, befasst sich mit den Umgangsformen und der Sprache, die sie begleitet. 'Zum Wiederlesen empfohlen. ... Wer keine Lust hat auf Kulturverflachung, wer das Gebrabbel der Medien und die Zumutungen des technokratischen Fortschritts nicht ertragen kann, der ist bei Botho Strauß generell und bei 'Paare, Passanten' im Speziellen sehr gut aufgehoben.' Frank Dietschreit, rbb Kulturradio

Botho Strauß, 1944 in Naumburg/Saale geboren, lebt in der Uckermark. Bei Hanser veröffentlichte er neben einer vierbändigen Werkausgabe seiner Stücke zuletzt die Prosabände 'Mikado' (2006), 'Die Unbeholfenen' (Bewußtseinsnovelle, 2007), 'Vom Aufenthalt' (2009), 'Sie/Er' (Erzählungen, 2012), 'Der Aufstand gegen die sekundäre Welt' (Aufsätze, 2012), 'Die Fabeln von der Begegnung' (2013), 'Kongress' (Die Kette der Demütigungen, 2013), 'Allein mit allen' (Gedankenbuch, 2014), 'Herkunft' (2014), 'Oniritti Höhlenbilder' (2016), 'zu oft umsonst gelächelt' (2019) und 'Nicht mehr. Mehr nicht' (Chiffren für sie, 2021).
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Ich sah aus dem Auto in einer Passantenschar, die die Kreuzung überquerte, die geliebte N., mit der ich – einst! seinerzeit! damals! – gut drei Jahre lang die gemeinsamen Wege ging, sah sie über die Fahrbahn schreiten und auf irgendeine Kneipe zuhalten. Ihr Kopf, ihr braunes gescheiteltes Kraushaar. Und das ist dieselbe, die ich im Tal von Pefkos auf Rhodos, als wir von verschiedenen Enden des Wegs über die Felshügel einander entgegengingen, so bang erwartet habe, in Sorge, es könne sie jemand vom Wegrand her angefallen und belästigt haben, da sie nicht und nicht erschien am Horizont. Das ist dieselbe Geliebte. Im halben Profil flüchtig erblickt, indem sie dahinging und ich vorbeifuhr. Mir ein unfaßliches Gesetz, das so Vertraute wieder in Fremde verwandelt. Verfluchte Passanten-Welt!

Wir trafen uns mit dem klugen H. im italienischen Restaurant und schnell folgte auf die alltäglichen Erkundigungen der gesunde, entschlackende Klatsch und auf ihn das gehobene Gespräch. Hiervon mußte man bald den Eindruck gewinnen, daß die denkenden Gedächtnisse heute oft auch die zerfahrensten sind, ja daß sie ihr Denken allein noch im quälenden Zustand einer Gedankenflucht erhalten, also immer nur verlieren können. Wieviel schnelle Urteile stoßen sie doch aus in kürzester Zeit, wieviele geachtete Namen, mit denen sie bloß spielen und reizen und glänzen. Indessen wird von diesen bedrängten Köpfen so gut wie überhaupt keine Frage mehr gestellt; mit panischer Gewandtheit meiden sie die Schutzlosigkeit, in die sich der fragende Mensch begibt. Dies trifft auch auf H. zu, der obendrein das Heidegger-Wort, daß nämlich die Frage die Frömmigkeit des Geistes sei, ohne weiteres in seinen Meinungserguß mit einfließen läßt. Nun, es ging von Savonarola über Tàpies zu Stanley Kubrick, von Rousseau zu Carl Schmitt. Schließlich herzliche Verabschiedung von H. Er, ein Fußgänger, macht sich mit kleinen Schritten auf den Weg zu weiteren Besorgungen; wir, ein anderer Freund und ich, steigen in mein Auto. Kurz darauf treffen wir ihn wieder, den Fußgänger, wie er bei grüner Ampel die Fahrbahn überquert. Als ich ihn erblicke, fahre ich im Spaß scharf auf ihn zu, bremse erst knapp vor seinen Beinen und erhebe die Hand zu einem nochmaligen Gruß. Er aber, der mich hinter dem Steuer nicht wiedererkennt, droht zurück mit der geballten Faust, wie es der Fußgänger dem dreisten Autofahrer gegenüber zu tun pflegt. Nachdem wir doch eben noch in einem gemeinsamen Höhenflug dahinschaukelten, verkennt er mich hier im Straßenverkehr, blendet ihn allein der äußere Rangunterschied, bin ich für ihn nichts als eine harte Karosserie mit einem rücksichtslosen Chauffeur, der ihn, den schwachen, bloßen Passanten beinahe umgeworfen hätte. Und er schüttelt die Faust gegen mich, sieht mir ins Auge, seinem ergebenen Freund, und sieht durchdringend nur den unbekannten Autofahrer an. Auch als er weitergeht, kommt ihm im nachhinein nicht der Schatten eines Wiedersehns. Gewiß, es war nur ein lächerlicher Irrtum; und doch ein Hieb der Entfremdung, der gesessen hat.

Der Mann Nun, Sie kennen die Weißtalallee, diese breite Verkehrsader am Südausgang unserer Stadt. Dort stand sie, die Geliebte, auf der einen Straßenseite, ich auf der anderen. Sie hatte die Absicht, zu mir herüberzukommen, zwischen uns floß der Verkehr, der nicht abreißen wollte. Unterdessen hatte sie schon mit einem Schritt die Fahrbahn betreten, jenen Streifen, auf dem geparkt werden darf. So stand sie drüben und wartete auf eine Lücke im Verkehr, einstweilen in einer Illustrierten blätternd. Da begann ein Auto einzuparken; gerade dort, wo sie steht, möchte es hin. Ich erinnere mich genau, es war ein lindgrüner, wohl eigens von seinem Besitzer lindgrün eingefärbter Citroen (denn es gibt ein Lindgrün nicht mehr im Straßenverkehr). Doch was heißt einparken? Er fuhr vor ihr einmal hin, einmal her, nur um sich zu zeigen. Der Kerl am Steuer wollte ihr, meiner Geliebten, auffallen, nichts weiter. Als sie aber nicht hinsieht, ihn und das seltene Lindgrün nicht beachtet, beginnt er nun wirklich mit dem Einparken, fährt dicht mit dem Hinterteil an sie heran, ruckt vor, setzt wieder zurück – und das bemißt er schlecht. Da er nämlich nach hinten stößt, fährt er der Frau, die er in Stimmung bringen will, an die Knie, sie stürzt sofort zu Boden. Sie wissen, wie lächerlich, wie entmutigend es aussieht, wenn auf offener Straße eine gutgekleidete Person, die man liebt, zu Boden fällt …

Der auf der Straße Angesprochene und beiseite Genommene Oh ja. Sehen Sie, etwas ganz Ähnliches habe ich selbst einmal erlebt. Es war jedoch am Wörthersee …

Der Mann Sie liegt am Boden, meine ich, mehr erschrocken als verletzt. Der Kerl springt aus dem Citroen; als Flirt begann’s, ein Unfall ist daraus geworden. Statt Lächeln, Augenzwinkern, Schmeicheleien nun Augenrollen und grobe Schimpfe. Er hebt meine Geliebte auf und sie schreien sich an – auch er schreit, der Unfall verwandelt die Begehrte in ein Stückchen Ärgernis. Und, sehen Sie, ich stehe auf der anderen Seite und drüben – am jenseitigen Ufer, möchte ich beinah sagen – hat ihr jemand etwas angetan, wenn auch nicht sie verletzt, so doch sie hingeschmissen in den Dreck. Sie fiel vor meinen Augen raus aus ihrer stillen und legeren Haltung, in der ich sie, über den nicht abreißenden Verkehr hinweg, so erwartungsvoll betrachtet hatte. Sie lag grotesk am Rinnstein, eine zerschmetterte Statue aus Marmor oder Ton zeigt durch tausend Scherben noch mehr Appeal und Würdereste als so ein hingeschmissener geliebter Mensch in seiner völligen Entgeisterung und Körperblödigkeit. Ich will Ihnen gestehen, daß mich trotz oder in meiner höchsten Empörung für einen Augenblick die Kälte anpackte und ich auf meiner Straßenseite aufhörte sie zu begehren. Zum ersten Mal empfand ich, wie es ist, sie nicht zu lieben.

Der auf der Straße Angesprochene und beiseite Genommene Ja ja! Genau, genau!

Der Mann Nun, der Kerl steigt jetzt zurück in seinen Citroen und fährt aufbrausend weiter. Meine Freundin … meine Frau sieht mich über den Verkehr hinüber an und schüttelt nur den Kopf. Jawohl: sie schüttelt lediglich den Kopf nach alledem! Und nicht einmal so, als sei sie fassungslos, nein, nur solch ein kurzes, kleines Schütteln, mit dem man gewöhnlich ein »Wie kann man nur!« zum Ausdruck bringt. Eine völlig unzulängliche Geste, in meinen Augen, nach diesem schweren Zwischenfall. Ihr ganzer Sturz in meinen Augen ist ihr unbewußt. Sie liest schon wieder in der allerdings vom Straßenschmutz beschädigten Illustrierten.

Der auf der Straße Angesprochene und beiseite Genommene Was also mich betrifft, so stand ich damals in ähnlichen Verhältnissen in Velden vor der Post …

Der Mann Oh bitte nein: erzählen Sie mir jetzt nicht dasselbe von Ihnen und auch nicht etwas annähernd Ähnliches, das Sie einmal erleben mußten. Es hat mich ohnehin Mühe genug gekostet, ein erstes Mal darüber zu sprechen. Falls Sie indessen an meiner Geschichte aber auch gar nichts unvergleichlich finden, schweigen Sie trotzdem in beherztem Mitgefühl. Ersparen Sie mir jede Parallele und stoßen Sie einen inzwischen einsam am Straßenufer ausblickenden Mann nicht hinunter in die Häufigkeit ebenso dastehender Männer. Andernfalls müßte ich Ihnen, den ich nicht kenne und mit dem ich nichts als vorlieb genommen habe, mein vorsichtig eingeflößtes Vertrauen mit aller Gewalt wieder entreißen. Schweigen Sie daher und verkneifen Sie sich die Parallele!

Die fetten Autopfleger sonntags am Straßenrand beugen sich tief in den Motor, hocken an der Tür für einen Lackschaden nieder, und die Jeans mitsamt der Unterhose rutschen ihnen tief über die Afterhaare hinunter. Was soll da auf der Straße sonst Hose, Hemd und Scham, wenn vor dem Auto, dem Geliebten, man so ungeniert und gern den Arsch entblößt?

Ein altes Ehepaar an einer stark befahrenen Straßenkreuzung. Der Mann lehnt auf der Barriere, die die Fußgänger daran hindern soll, abseits der Ampel die Fahrbahn zu überqueren. Er starrt auf die Straße, auf die Asphaltdecke, die Hände bei aufgestützten Armen vor sich gefaltet, als betrachte er von einem erhöhten Aussichtspunkt eine schöne Landschaft, einen glänzenden Flußlauf. Neben ihm seine Frau, gleichgestimmt und auf denselben Fleck der Entsinnung ihren Blick gerichtet. Eine perlmuttfarbene Schliere auf dem rauhen Papillengrund des Erdpechs. Die Ampel schaltet auf Grün für die Fußgänger. Da niemand über die Straße geht, überfahren Rechtsabbieger in Strömen den Fleck ohne Grenzen, der die beiden Alten einig entrückte, durchqueren ihre unerforschliche Aussicht.

Ein Mädchen über die Straße gehend in einem Rock mit karmesinroten Baumringmuster auf cremefarbenes Leinen gedruckt.

Ein Mädchen in langem Kamelhaarmantel mit capeartigem Fall und in einer sehr flauschig anmutenden sandfarbenen Flanellhose mit weiten Hosenbeinen, eine weich verhüllte, mehrfach gedämpfte Gestalt. Sie tritt von vorn an ihren parkenden Golf heran, ihre linke Seite berührt die Fahrertür. Sie steckt mit der rechten Hand, während sie sich in der Hüfte leicht beugt, den Autoschlüssel in die Klinke und sieht beim Aufschließen – allein durch die Körperhaltung und durch kein Interesse genötigt – zurück auf die Straßenseite, von der sie gekommen ist.

Hat man nicht schon in hunderttausend Gesichter geblickt? Diese Erfahrung ist das Gegenteil der ›repräsentativen Auswahl‹: es ist die Wahrheit der physischen, linearen Zahl. Mit wievielen Menschen hat man es denn zu tun im Verlaufe eines normalen Lebens, mit wievielen, wo Worte oder längere Blicke getauscht wurden – von der Mutter...


Strauß, Botho
Botho Strauß, 1944 in Naumburg/Saale geboren, lebt in der Uckermark. Bei Hanser veröffentlichte er neben einer vierbändigen Werkausgabe seiner Stücke zuletzt die Prosabände Mikado (2006), Die Unbeholfenen (Bewußtseinsnovelle, 2007), Vom Aufenthalt (2009), Sie/Er (Erzählungen, 2012), Der Aufstand gegen die sekundäre Welt (Aufsätze, 2012), Die Fabeln von der Begegnung (2013), Kongress (Die Kette der Demütigungen, 2013), Allein mit allen (Gedankenbuch, 2014), Herkunft (2014) und Oniritti Höhlenbilder (2016). Im Herbst 2019 erscheint von ihm zu oft umsonst gelächelt.



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