Strohmeier / Yalçin-Heckmann | Die Kurden | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band 1329, 313 Seiten

Reihe: Beck Paperback

Strohmeier / Yalçin-Heckmann Die Kurden

Geschichte, Politik, Kultur
6. Auflage 2025
ISBN: 978-3-406-83131-7
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Geschichte, Politik, Kultur

E-Book, Deutsch, Band 1329, 313 Seiten

Reihe: Beck Paperback

ISBN: 978-3-406-83131-7
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Das große Siedlungsgebiet der Kurden wurde nach dem Untergang des Osmanischen Reichs von Staatsgrenzen durchtrennt. Die Angst vor kurdischen Autonomiebestrebungen führt seitdem zur Unterdrückung ihrer Kultur und wird durch die Verwirklichung einer Autonomie im Irak weiter angeheizt.

Die Autoren schildern die mehr als tausendjährige Geschichte der Kurden unter besonderer Berücksichtigung der jüngsten Geschichte in der Türkei, im Irak und Iran sowie in Syrien. Besonderes Augenmerk gilt auch der kurdischen Kultur und den Familien- und Stammesstrukturen. Für die 6. Auflage wurde das bewährte Standardwerk umfassend überarbeitet und aktualisiert.

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Einleitung
In den kurdischen Bergen, wo die türkische Armee ihre Wachtposten in Dörfern oder in deren Nähe unterhält, gab es bis in die achtziger Jahre einen Beruf, den man als «Mauleselunternehmer» bezeichnete. Resit, dessen Familie nach einem Aufstand in dieser Region im Jahr 1930 in den Westen der Türkei deportiert worden war und der dort als Kind gut Türkisch gelernt hatte, übte diesen Beruf aus. Seine Familie kehrte nach mehreren Jahren in ihr Heimatdorf zurück, «dieses Loch zwischen den Bergen», wie Resit sich auszudrücken pflegte. Er war Jäger und unterhielt sich gern mit den Soldaten und Offizieren der Gendarmeriewache und übernahm den einträglichen Gütertransport mit Mauleseln für das Militär. Er transportierte den Vorrat für die Soldaten, die im Winter genauso wie die Dorfbewohner von der Außenwelt abgeschnitten waren. Seine Arbeit brachte ihn in näheren Kontakt zu den Soldaten; er schloss Freundschaft mit ihnen und konnte sie, wenn nötig, um Hilfe bitten. Eines Tages wollte Resit mit seinem Sohn, der zum Militärdienst musste, in die Stadt. Zusammen mit zwei anderen Dorfbewohnern «mietete» er das Auto eines ihm bekannten Feldwebels (çavus), um sich von ihm dorthin fahren zu lassen. Während der Fahrt unterhielten sie sich lebhaft und laut auf Kurdisch, worauf der Feldwebel, ein Türke einfacher Bildung aus dem Schwarzmeergebiet, plötzlich gereizt das Gespräch unterbrach: «Hört auf mit dieser ekelhaften Sprache!» Die Mitfahrer waren erstaunt und schwiegen. Dann sagte Resit langsam, mit sicherer, ruhiger Stimme und verschmitztem Blick: «Çavus, wir wissen, dass wir alle aus Zentralasien stammen und Brudervölker sind, aber die Sprache kannst du uns nicht verbieten …» Resit lebt nicht mehr. In der Auseinandersetzung zwischen den «Brudervölkern» bzw. in dem Krieg zwischen PKK-Guerilla, türkischer Armee und kurdischen Dorfschützern wurde er getötet. Die Arbeit, die er verrichtete, ist nicht mehr gefragt; die türkische Armee ließ überallhin Straßen bauen, ihre Versorgung liegt heute nicht mehr in den Händen von Mauleselunternehmern. Die Personen waren in vielfältiger Weise in das Geschehen eingebunden: Der çavus, der im Einsatz gegen kurdische Schmuggler war, besserte sein karges Gehalt mit Taxifahrten für die kurdische Bevölkerung auf. Resit, ein «integrierter» Kurde, bestritt von seiner Arbeit im Dienst der Armee seinen Lebensunterhalt und wurde später (die Geschichte spielt 1981) Dorfschützer (korucu). Die Begebenheit führt verschiedene Facetten kurdischen Alltags vor Augen: Ambivalenzen von Identität und Ideologie, situationsbedingtes oder pragmatisches Handeln und Denken, wechselseitige Abhängigkeit der Menschen voneinander. Was veranlasste den çavus, das Kurdische als «ekelhaft», also als minderwertig zu bezeichnen? Hatte er sich sprachlich ausgegrenzt gefühlt? Wie erklären sich Resits Souveränität in seiner Behandlung des çavus, sein selbstbewusster Ton und seine ironische Anspielung auf die angeblich gemeinsame Herkunft von Türken und Kurden? Es sind solche Alltagssituationen, an denen sich die komplexen historischen Beziehungen und sozialen Prozesse zwischen Türken und Kurden ablesen lassen. Eine ethnische Identität, die von einer nationalen abweicht, kann im Alltag eine unausgesprochene Selbstverständlichkeit haben. Ethnische Identität kann aber auch zugespitzt und bewusst verwendet werden, um die Unterschiede zwischen beiden Identitäten zu unterstreichen. Die von Resit und seinen Landsleuten gesprochene Sprache ist hier der Gegenstand solcher Prozesse. Für sie gehört ihre Sprache zu ihrem Selbstverständnis und wird nicht aus «patriotischen» Gründen gesprochen. Der çavus reagiert auf seine Ausgeschlossenheit aggressiv. Diese Haltung drückt nicht mehr allein seine persönliche Frustration aus, sondern greift auf dubiose Ideologien zurück, die sich auf die ethnisch-nationale «Überlegenheit» von Türken über Kurden beziehen. Resit weiß um die Unangemessenheit der Intervention des çavus. Er spielt mit der Zweideutigkeit dieser Ideologie und betont die Gemeinsamkeit der Herkunft von Türken und Kurden, akzeptiert sie aber nur um den Preis der Gleichwertigkeit der eigenen Sprache. Kurdisch zu sprechen kann man ihm nicht verbieten; dies ist eine wesentliche Komponente seines Selbstverständnisses als Kurde und als Bürger des türkischen Staates. In dieser Episode ist der Umgang mit Geschichte von großer Bedeutung. Geschichte und Geschichtsbewusstsein sind zentral für ethnische und nationale Identitäten, die keineswegs immer zusammenfallen. Eine soziale Gruppe kann ein Bewusstsein von objektiven Kriterien wie Sprache und Religion haben, die sie von anderen sozialen Gruppen unterscheiden; dies bedeutet aber nicht, dass sie ihre Identität nur auf diese Kriterien beziehen muss. Geschichte wird immer wieder neu geschrieben, und Geschichtsbewusstsein konstituiert sich immer wieder aufs Neue. Akteure in ungleichen Machtverhältnissen – sei es auf der individuellen oder auf der gesellschaftlichen Ebene – können historische Konstrukte benutzen, um diese Verhältnisse zum eigenen Vorteil zu ändern. Die Unstimmigkeit zwischen unterschiedlichen Konstrukten, die in unserer Geschichte zum Konflikt führte, und die Diskrepanz von Fremd- und Selbstsicht (d.h. wie die Kurden von anderen gesehen werden und wie sie sich selbst sehen) sind wichtige Elemente des Verhältnisses der Kurden zu anderen Völkern. Seit Beginn ihres «nationalen Erwachens», also seit sie ihre Sprache und Kultur als Basis einer nationalen Identität einsetzen, mussten die Kurden (bzw. ihre nationalistischen Vorkämpfer) erleben, dass ihr Selbstbild (ihr historisches Konstrukt) von anderen nicht ohne weiteres akzeptiert wurde, beispielsweise ihnen eine eigene Identität versagt wurde oder sie als «wildes Bergvolk» galten, wenn sie im Westen nicht sogar gänzlich unbekannt waren. Diese frustrierende Erfahrung machte ein Mitglied der kurdischen Studentenvereinigung Hivi, das sich vor dem Ersten Weltkrieg zum Studium in der Schweiz aufhielt: An dem Tag, an dem ich in die Pension in Lausanne einzog, fragte mich die Vermieterin vor den anderen Gästen, die aus mehr als zehn verschiedenen Ländern kamen: «Monsieur, Sie kommen aus Istanbul, sind Sie Türke oder Grieche?» In meinem gebrochenen Französisch antwortete ich: «Weder Türke noch Grieche.» Auf ihre Frage: «Zu welchem Volk gehören Sie dann?» antwortete ich: «Ich bin Kurde.» Alle Gäste am Tisch schauten mich verdutzt an, als ob sie etwas ganz Sonderbares gehört hätten. Natürlich schämte ich mich. Und ich war verletzt, dass ich zu einem Volk gehörte, das niemand kannte. Glücklicherweise waren zwei Russen zugegen, die mir aus meiner Verlegenheit halfen und etwas zu den Kurden und Kurdistan sagen konnten. Am nächsten Tag saß ich nach dem Frühstück im Salon. Die Pensionswirtin fragte: «Sie sagen, dass Sie Kurde sind. Wo ist denn ihr Land?» Ich öffnete die Landkarte, die dort lag, zeigte auf die Stadt Diyarbakir, über der der Name Kurdistan in großen Buchstaben geschrieben stand, und sagte: «Da komme ich her.»[1] Im Jahre 1998 jährte sich zum hundertsten Mal die Gründung einer Zeitung mit Namen Kürdistan. Zwar war den Herausgebern und Autoren von Kürdistan die Forderung nach einem Staat gleichen Namens noch fremd, weil sie sich als loyale Untertanen des Osmanischen Reiches verstanden, wenn auch – zusammen mit türkischen Reformern – als Gegner des autokratisch herrschenden Sultans Abdülhamid. Aber die Grundlagen wurden geschaffen für ein Programm, wie es Nationalisten überall auf der Welt propagieren: Rückbesinnung auf Glanzzeiten des eigenen Volkes, Forderung nach Überwindung von Abhängigkeit und Rückständigkeit sowie nach Modernität. Die kurdische Nationalbewegung, die sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts herausbildete, lenkte ihr Augenmerk auf zwei Punkte: Zum einen galt es, den Kampf um die von ihr beanspruchten Rechte der Kurden bzw. die Einheit der Kurden zu führen. Zum anderen wurden die Modernisierung der kurdischen Gesellschaft und die Zurückdrängung traditioneller Identitäten und Strukturen als Voraussetzungen für «nationalen» Fortschritt angesehen. Während Letzteres ansatzweise realisiert worden ist, konnte das längst nicht von allen Kurden verfolgte Projekt der staatlichen Einheit nicht bewerkstelligt...


Martin Strohmeier ist Professor em. für Türkische Sprache, Geschichte und Kultur an der University of Cyprus in Nikosia.

Lale Yalcin-Heckmann ist Ethnologin, assoziiertes Mitglied des Max-Planck-Instituts für ethnologische Forschung in Halle sowie Dozentin an der Universität Pardubice in Tschechien.



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