E-Book, Deutsch, Band 2, 352 Seiten
Reihe: Earth
Thurn Earth – Der Widerstand
19001. Auflage 2019
ISBN: 978-3-492-99317-3
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thriller
E-Book, Deutsch, Band 2, 352 Seiten
Reihe: Earth
ISBN: 978-3-492-99317-3
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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1
Für den Blick eines nachlässigen Betrachters teilt sich die Menschheit in zwei Lager. Diejenigen, die Fragen zum Zustand der Welt stellen. Und diejenigen, die keine Fragen stellen. So war es immer schon. Doch es gab immer auch schon eine dritte Gruppe. Sie ist weit weniger auffällig und besteht zumeist aus Menschen, denen das Fragenstellen zu mühsam ist, die aber einen untrüglichen Instinkt dafür haben, was richtig und falsch ist und was die Welt an Aufgaben für sie bereithält.
Auf die fünf jungen Leute, die gegen drei Uhr früh in der Nacht von Freitag auf Samstag durch den Stadtteil Ehrenfeld in Köln schlichen, traf letztere Beschreibung zu. Sie wohnten seit zwei Jahren gemeinsam in einer WG und zogen alle zwei Tage zu dieser nächtlichen Zeit durch die Straßen, um ihre Besorgungen zu machen. Sie waren zwischen zwanzig und vierundzwanzig, und ihre Kleidung war eine Mischung aus Vintagemode und ein paar guten Einzelstücken, die sie aus Altkleidersäcken gefischt hatten.
Sie bewegten sich leise durch die engen Gassen Ehrenfelds. Ihre Augen waren wachsam, registrierten jedes Licht, das auf ein Fahrzeug hindeuten konnte, auch wenn sie wussten, dass zu dieser Uhrzeit am wenigsten mit Streifenwagen zu rechnen war. Außerdem hatte an diesem Tag ein Fußballspiel in Köln stattgefunden, und die letzten Randalierer unter den angereisten Hooligans hielten sicherlich noch die Polizei in Atem. Es war also die beste Zeit für ihre kleinen Beutezüge, die man treffenderweise als »Containern« bezeichnete. Manche hielten es für eine Straftat, die meisten fanden es einfach nur eklig, für die fünf jungen Leute aus Ehrenfeld gehörte es aber unzweifelhaft zur Liste der »richtigen Dinge«, die man tun musste.
Die fünf hießen Torben Künstler, Tim Klein, Olli und Benni Teichmann und Eve Vandangen. Den meisten ihrer Freunde waren sie nur als Die WG bekannt.
Torben kletterte als Erster über den Zaun, dann folgten ihm Eve und Tim. Olli konnte Höhen nicht ausstehen, und ein Zaun von drei Metern führte bei jedem der nächtlichen Beutezüge dazu, dass er freiwillig die Rolle des Aufpassers übernahm, um die anderen bei auftretender Gefahr rechtzeitig zu warnen.
Bennis Rolle war in Abgrenzung zu seinem Zwillingsbruder Olli etwas komplexer. Grundsätzlich lehnte er erst einmal alles ab, was Olli tat, um dann diese Ablehnung als zwanghaftes Prinzip der Zwillingspsychologie zu durchschauen und anschließend als eine Art doppelter Verweigerung meist wieder genau das zu tun, was Olli tat.
Als Resultat davon standen nun beide vor dem Zaun und hielten Ausschau nach Gefahr. Torben, Tim und Eve liefen derweil über das Gelände der Supermarktkette auf die Container zu, in die der Marktleiter täglich all das schütten ließ, was er am Folgetag den Augen seiner Kunden nicht mehr präsentieren wollte. Gemüse, das nicht mehr so makellos war. Obst mit leichten Druckstellen. Joghurt, der seinen Ablauftag erreicht hatte. Käse, Wurst, Brot, Milch und alle weiteren Lebensmittel, die als nicht mehr verkäuflich galten, selbst wenn sie vom Aussehen und Geschmack her noch völlig unverändert waren.
All das landete palettenweise allabendlich in den Containern, oft begleitet von weiteren Produkten, die entfernt werden mussten, weil sie sonst neuen, attraktiveren Waren den Platz im Regal weggenommen hätten.
Anfangs duldeten die Supermärkte es noch, dass sich Stadtstreicher und Bedürftige abends an den Containern versammelten, um das weggeworfene Essen in Empfang zu nehmen. Doch als die Medien mehr und mehr über dieses Phänomen berichteten und die Frage stellten, ob diese Lebensmittel tatsächlich nicht mehr zum Verzehr geeignet waren und ob es dann den Stadtstreichern zugemutet werden konnte, dieses angeblich verdorbene Essen zu sich zu nehmen, erklärten die Supermärkte den Müll kurzerhand zu schützenswertem Eigentum und zogen hohe Zäune um ihn herum, um alle weiteren Diskussionen zu unterbinden. Damit begann die eigentliche Zeit des Containerns.
Torben, Tim und Eve achteten darauf, auf jener Seite der Abfallcontainer zu bleiben, wo sie für die Überwachungskameras unsichtbar waren. Sie stopften die mitgebrachten Tüten rasch mit Paprika, Auberginen, Äpfeln, Weintrauben, Quark- und Joghurtbechern voll und nahmen sich zwei unversehrte Kartons mit Schokokeksen, die offenbar von einer anderen Marke aus den Regalen gedrängt worden waren.
»Drei Fitnessmatten?«, fragte Torben, während er mit dem Handylicht ins Dunkel des Containers leuchtete.
»Intakt?«, fragte Eve zurück.
»Sieht so aus.«
»Nimm mit. Gut zum Tauschen.«
Eve war die, die angefangen hatte, das »Containern« breiter zu organisieren und ihre Funde in der Nachbarschaft oder unter befreundeten WGs zu verteilen. In den letzten Monaten war ein reger Tauschhandel daraus entstanden. Ein breites Netzwerk von jungen Leuten, die sich an den Resten der Konsumgesellschaft bedienten. Es war für sie nicht einmal eine Frage des Geldes. Sie vermieden es generell, Neues zu kaufen, solange sie mit dem über die Runden kamen, was sie bei ihren nächtlichen »Raubzügen« erbeuteten. Essen, Kleidung, Möbel, Elektrogeräte, es gab kaum etwas, das man nicht auf den Straßen bekommen konnte. Und wenn die Gruppe um Eve in dieser Nacht an gute Lebensmittel kam, so fanden andere vielleicht Kleidung oder ein paar Möbel, sodass am Folgetag getauscht werden konnte. Ein perfektes System, und vor allem war es eines, das für die fünf instinktiv richtig zu sein schien.
»Okay, Aufbruch«, sagte Eve bestimmt. Sie war es, die bei den nächtlichen Beutezügen das Kommando übernahm. Sie hatte mal BWL studiert, aber das war eine Ewigkeit her; da war sie einundzwanzig gewesen und glaubte noch an die falschen Sachen. Jetzt war sie dreiundzwanzig, trug ihr Haar in Dreadlocks und wusste, dass sie besser auf die Straße passte als in den Hörsaal einer Universität. Sie wusste auch, dass sie mehr Talent für Planung hatte als ihre vier Mitbewohner. Die vier akzeptierten das und taten meist, was Eve ihnen sagte.
Torben sprang aus dem Container und half Tim, die Beute auf die Tüten zu verteilen. Torben hatte seine Lehre als Fahrradmechaniker abgebrochen, Tim die Lehre als Hotelkaufmann. Die Teichmann-Zwillinge hatten erst gar keine Ausbildung begonnen und schlugen sich mit Gelegenheitsjobs durch. Dabei mangelte es keinem von ihnen an Intelligenz oder Talent. Was ihnen allen fehlte, war Vertrauen. Das Vertrauen, ihr Leben in die Hände dieser Gesellschaft legen zu können.
Olli und Benni sahen, wie Eve, Torben und Tim zum Zaun zurückschlichen und dabei darauf achteten, außerhalb des Erfassungsbereichs der Überwachungskameras zu bleiben. Sie erreichten die Stelle, wo die Maschen bereits so ausgetreten waren, dass man sie wie eine Leiter nutzen konnte.
Die Zwillinge trugen ihre kindlichen Spitznamen noch immer mit Stolz, als eine Art hartnäckiger Verweigerung einer Welt gegenüber, in die sie sich einfach nicht einpassen wollten. Sie wollten mehr sein als ein Datensatz in den Computersystemen einer Gesellschaft, die sie nach beruflicher Effizienz und Einkommenshöhe bewertete. Es war dieselbe Verweigerung, die sie auch in Eve erkannt hatten, weshalb beide hoffnungslos in sie verliebt waren.
Olli hatte es schon einmal geschafft, mit ihr ins Bett zu gehen. Benni schaffte es zumindest bis zu der Frage, ob sie sich vorstellen könnte, mit ihm Sex zu haben. Eve hatte geantwortet, das sei kein Problem. Diese Antwort reichte Benni, genauso wie Olli die eine Nacht in Eves Bett reichte. Sie alle drei beschlossen, auf ewig einfach nur miteinander befreundet zu bleiben.
Die Zwillinge hörten den heranrasenden Wagen genau in dem Moment, als Eve mit Torben und Tim über den Zaun kletterte. Dann sahen sie den Radfahrer, der von dem dunklen SUV durch die schmale Gasse hinter dem Supermarkt gejagt wurde.
Der Radfahrer war jung, kaum älter als zwanzig, und er fuhr um sein Leben. Er hatte ein schlankes Rennrad und erreichte bestimmt sechzig Stundenkilometer. Er raste an Olli und Benni vorbei. Der dunkle SUV folgte ihm in fünfzig Metern Distanz, holte aber schnell auf.
Es war ein spontaner Einfall, der die Zwillinge zwei Pflastersteine aufheben ließ. Als der dunkle SUV auf ihrer Höhe war, schleuderten sie die Steine gegen dessen Seitenfenster. Sie wollten das Interesse des Fahrers auf sich ziehen, um dem Typen auf dem Fahrrad etwas Luft zu verschaffen. Doch obwohl die Steine die Seitenscheiben zerspringen ließen, raste der SUV unbeirrt weiter und verringerte den Abstand zum Radfahrer.
Dann bogen Radfahrer und Auto um die Kurve und verschwanden aus Ollis und Bennis Blickfeld. Im nächsten Moment hörte man ein blechernes Krachen.
Gleichzeitig sprangen Eve, Torben und Tim neben den Zwillingen vom Zaun. Sie ließen ihre Tüten fallen, und alle rannten los.
Als sie die Ecke erreichten, sahen sie den Radfahrer auf dem Boden liegen. Der dunkle Wagen stand daneben. Auf der linken Seite war die Straße durch die Mauer der S-Bahn begrenzt, auf der rechten war ein Baugrundstück mit einem hohen Zaun. Wohnhäuser standen hier nicht.
Der Fahrer war ausgestiegen und kniete neben dem Radfahrer, drehte dessen Kopf mit beiden Händen. Dann stand er rasch auf und stieg wieder in den Wagen.
»Hey!«, schrie Eve, und sie beschleunigte ihre Schritte, die vier Jungs an ihrer Seite.
Der SUV preschte mit röhrendem Motor davon.
Torben war der Schnellste von ihnen und erreichte den leblosen Radfahrer als Erster. Er hatte einst ein paar Monate Ausbildung als Rettungssanitäter absolviert und war innerhalb der WG derjenige, den man rief, wenn sich jemand verletzt...