E-Book, Deutsch, Band 1, 352 Seiten
Reihe: Earth
Thurn Earth – Die Verschwörung
19001. Auflage 2019
ISBN: 978-3-492-99316-6
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thriller
E-Book, Deutsch, Band 1, 352 Seiten
Reihe: Earth
ISBN: 978-3-492-99316-6
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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1
Das Leben schien an diesem 21. Juni 2019 für Brit Kuttner perfekt zu sein. Für genau eine Stunde lang.
In dieser einen Stunde schien die Sonne über Berlin und machte den Regen der letzten Tage vergessen. Brit hatte beschlossen, den Rest des Tages blauzumachen, was selten genug bei ihr vorkam. Sie studierte Volkswirtschaftslehre an der Humboldt-Universität und hatte gerade die letzten zwei Stunden in Professor Kepplers Vorlesung »Philosophie und Management« verbracht. Obwohl gerade erst Mitte vierzig, verkörperte Keppler mit seiner geknöpften Strickjacke, aus der die Ärmel seines Hemdes in wunderbarer Asymmetrie herausragten, einen typischen schrulligen Professor.
In den Augen der meisten Studentinnen machte ihn das sexy, genauso wie die traumwandlerische Sicherheit, mit der er sich in jeder Disziplin der Philosophie bewegte. Die meisten Studentinnen waren allerdings auch jünger als Brit mit ihren sechsundzwanzig Jahren.
Wenn es etwas gab, das Brit aus Kepplers Vorlesungen mitnahm, das sie als sexy bezeichnet hätte, dann waren es einzelne Sätze, die oft den Rest ihres Tages beherrschten.
»Gemessen an dem, was möglich ist, bietet die Wirklichkeit uns immer nur Durchschnittliches.« Das war der Satz des heutigen Tages, mit dem sie während der nächsten Stunden an der Spree entlangschlendern wollte. Brit brauchte diese Sätze. Sie bahnten sich jedes Mal beharrlich den Weg durch ihren Kopf, und sie genoss es, diese Sätze von allen Seiten zu betrachten. Mit jeder neuen Sichtweise konnte solch ein Satz bedeutsamer werden. Irgendwann spürte sie diese Sätze dann sogar, an dieser bestimmten Stelle hinter ihrem Brustbein, etwas über dem Solarplexus, nicht ganz mittig, sondern leicht nach links verschoben, wo sie ein besonderes Gefühl auslösten.
Dass Sätze so etwas bewirken konnten, hatte Brit schon als kleines Mädchen erlebt, und anfangs hatte sie anderen Menschen auch davon erzählt. Doch die Reaktionen waren immer irritierend, häufig gefror die Mimik ihres Gegenübers, die Stirn in Falten gezogen und die Augen in einer Art verengt, die das Suchen nach Antworten und Formulierungen kennzeichnet.
Das war allerdings auch in der Zeit gewesen, als Lisa keinen Hehl aus Brits häufig wechselnden Therapien gemacht hatte. Damals hatte Brit Lisa auch noch »Mutter« genannt und nicht »Lisa«. Erst später hatte Brit Lisa gebeten, niemandem mehr von den ständigen Besuchen bei Psychologen und Therapeuten zu erzählen, und irgendwann hatte Brit diese dann sowieso eingestellt. Doch seit damals wusste sie, dass gute Sätze an guten Tagen an diese gewisse Stelle in ihrer Brust kriechen konnten und die Freisetzung von Endorphinen bewirkten.
Sie mochte diese Momente sehr. Was sie dabei empfand, musste das sein, nach dem die gesamte Menschheit in allen Kulturepochen Jagd gemacht hatte: Glück. Zumindest nahm Brit das an, nach den Beschreibungen, die sie von diesem Zustand gelesen hatte.
Die Aussicht, einen solchen Endorphinschub mit dem heutigen Satz von Professor Keppler im Sonnenlicht an der Spree zu erreichen, war es wert, den Rest des Tages blauzumachen. Sie verstand Zusammenhänge und Theorien meist schneller und besser als ihre Kommilitonen, und sie machte sich keine Sorgen, wenn sie ab und an einige Vorlesungen verpasste. Ihre Konzentrationsfähigkeit, ihre Disziplin und ihr Logikverständnis waren etwas, auf das sie sich schon immer hatte verlassen können.
Brit schlenderte über den Campus und begann, ihren Kopf mit dem heutigen Satz zu füllen. »Gemessen an dem, was möglich ist, bietet die Wirklichkeit uns immer nur Durchschnittliches.« Zunächst hatte Brit gedacht, dass sich das ganze Sehnen der Menschheit in diesem Satz spiegelte. Die ewige Sehnsucht nach dem Unerreichbaren, das Träumen von den Dingen, die sich nicht im unmittelbaren Hier und Jetzt des jeweiligen Menschen befanden. Doch schon nach den ersten Schritten verwarf sie diese Interpretation wieder. Es steckte mehr in diesem Satz. Etwas, das nicht die gesamte Menschheit zu fassen bereit war und vielleicht nur dem Verständnis einiger weniger überlassen war: das Bewusstsein um die Grenzen der Wirklichkeit. Nur wenige konnten diese Grenzen spüren und eine Idee von dem entwickeln, was dahinter sein mochte. Die trivialen Antworten dafür waren schon seit Urzeiten die Religionen der Völker. Aber diese Antworten erstickten alle weiteren Fragen, und deshalb mochte Brit sie nicht. Sie verlor sich beim Weg über den Campus darin, den Grenzen der Wirklichkeit nachzuspüren und die unterschiedlichsten Ideen für die endlose Weite hinter dieser Grenze durchzuspielen. Und dann sprach sie der junge Mann an.
Er mochte so alt sein wie sie, vielleicht unwesentlich älter. Seinen Hoodie hatte er ins Gesicht gezogen, fast bis an die Sonnenbrille, die seine Augen verdeckte. Sein Kinn war mit einem leichten Bartschatten bedeckt, etwas zu dünn, um der aktuellen Bartmode junger Studenten zu entsprechen, aber seine Gesichtszüge waren gut konturiert, so wie es bei Sportlern und flinken Rednern üblich ist, die ein gutes Verhältnis von Gesichtsmuskulatur und Fettgewebe an Wangen und Hals halten können. Er lächelte sie an.
Sie blickte fragend, nur eine Sekunde lang, doch lang genug, dass er seinen Satz wiederholte.
»Du bist Brit Kuttner. Wir müssen reden.«
Sie scannte ihn weiter. Die Sonnenbrille war ein No-Name-Produkt, was ihr sympathisch war. Unter seinem Hoodie ragten die weißen Kabel von In-Ear-Kopfhörern hervor; eines führte zu seinem rechten Ohr, das andere endete mit undefinierbarem Verlauf neben seinem Hals. Die Sneakers, die abgetragene Jeans, das aufs Nötigste gestrippte Fahrrad, all das ergab für Brit ein Bild eines jungen Mannes, der sich eher im Umfeld der Uni bewegte als in deren Vorlesungen.
»In einer halben Stunde auf der Monbijoubrücke, an der Museumsinsel. Es ist wichtig. Du gehörst zu uns.« Der junge Mann sagte diesen letzten Satz mit spürbarer Betonung auf jedem Wort. Dann schwang er sich aufs Fahrrad und radelte davon.
Brit sah ihm nach. Und plötzlich spürte sie eine Freisetzung von Endorphinen in ihrem Inneren. Sie war irritiert. Menschen und deren Verhalten drangen sonst nur zeitversetzt zu ihr durch. Je unbekannter sie waren, desto langsamer. Als sie noch klein gewesen war, hatte sie es immer mit einer fehlerhaften Synchronisation ausländischer Filme verglichen, wenn der Ton erst einen Moment nach den dazugehörenden Lippenbewegungen zu hören war. Mit der Zeit hatte das bewirkt, dass sich Brit von Fremden fernhielt und Kontakt nur zu den Leuten suchte, deren übliches Verhalten sie abgespeichert hatte.
Dass ein Fremder eine Endorphinwirkung auf sie haben konnte, war völlig neu.
Damit begann die zweite Hälfte dieser perfekten Stunde in Brits Leben am 21. Juni.
Das Chaos ihrer Gedanken, das sie auf dem kurzen Weg bis zur Spree begleitete, war zwar aufwühlend, aber nicht unangenehm. Der zertretene Rasen am Spreeufer war noch immer etwas feucht vom Regen der letzten Tage, und auf manchen Halmen glitzerten Tropfen im Licht der Sonne, die in etwa einer Stunde ihren Zenit erreichen würde.
Brit bemühte sich, mit ihren hellen Sportschuhen den Rasen zu meiden und nur die Flecken kahlen Bodens zu betreten, wobei sie in deren Muster die soeben erlebte Begegnung mit dem jungen Mann zu ordnen versuchte. Seine Kleidung und sein Auftreten hatten ihre übliche Scheu Fremden gegenüber sicherlich etwas herabgesetzt. Brit wusste von sich, dass sie weniger defensiv auf Menschen reagierte, die eine reduzierte Massenkompatibilität aufwiesen. Oder einfacher gesagt: Mit Außenseitern kam sie besser klar.
Das allein konnte aber noch nicht der Grund für die plötzliche Endorphinausschüttung gewesen sein. Von anderen Frauen hatte sie gehört, dass bestimmte männliche Merkmale solche Reaktionen bei ihnen auslösten, sogenannte Triggerreize. Darüber hatte Brit damals nachgelesen in dem Bemühen, eine theoretische Umleitung zu gewissen Verhaltensmustern junger Frauen zu erlernen. Bei dem jungen Mann vor der Uni hätten das zum Beispiel seine hellblauen Augen sein können, die für zwei Sekunden zwischen Hoodie und Sonnenbrille sichtbar gewesen waren. Aber egal, wie intensiv Brit diesen Gedanken in ihrem Kopf hin und her drehte, er verblasste immer wieder, bevor er jenen Raum in ihrer Brust knapp oberhalb des Solarplexus erreichte.
Doch etwas anderes landete dort, ohne dass sie es mit der üblichen Mühe bearbeitet hätte. Der Satz: »Du gehörst zu uns.«
Brit blickte von der Monbijoubrücke lange auf das Wasser der Spree, auf der die Reflexionen der Sonne in einem angenehmen Rhythmus tanzten und ihre Gedanken frei machten für die nächste Betrachtung. »Du gehörst zu uns.« Für Menschen wie Brit, deren dissoziative Störung bewirkte, dass sie ihre emotionale Umwelt wie durch einen Wattefilter wahrnahmen, war Einsamkeit meist ein belastendes Problem, und der Wunsch nach Zugehörigkeit wurde oft zu einer zwanghaften Fixierung, an deren Verwirklichung sie sich oft ihr Leben lang vergeblich abarbeiteten. Brits frühere Therapeuten hatten ihr daher immer zu vermitteln versucht, das Empfinden von Einsamkeit als Teil ihres Ichs zu akzeptieren und sich nicht im ständigen Kampf dagegen zu erschöpfen.
Brit hatte sie dafür alle gehasst. Sie hasste den Gedanken, dass irgendetwas in ihrer Welt unabänderlich sein sollte, und hatte fortan sämtliche Therapien aus ihrem Leben verbannt. In den Seminaren von Professor Keppler beschäftigte sie sich dann mit Theorien, wonach sich in die Welt gesetzte Hypothesen unter bestimmten gesellschaftlichen Umständen in Fakten verwandeln konnten. Für die meisten Studenten war dies nichts als ein kleines philosophisches Gedankenspiel, doch für Brit bedeutete es mehr – die Hoffnung darauf, dass...