Thuswaldner Das Jubiläum
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-7013-6203-5
Verlag: Otto Müller Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 288 Seiten
ISBN: 978-3-7013-6203-5
Verlag: Otto Müller Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zunächst scheint Georg Langenbucher mit seiner penetranten Ehr- und Titelsucht recht gut zu fahren. Mit Hilfe seines Sekretärs, des Ich-Erzählers, gelingt es ihm, eine Scheinakademie aufzuziehen. Sie vergibt hochtrabende Schwindel-Ehrungen, und Rektor Langenbucher emp-fängt umgekehrt echte, solide Ehrungen von Universitäten und seriösen Institutionen. Im Übrigen kümmert sich die 'Akademie' um ein weltbekanntes Lied, das bald ein rundes Jubiläum feiern wird. Leider steht fast zeitgleich auch in Deutschland ein bedeutendes Jubiläum bevor: Luthers Thesenanschlag vor 500 Jahren. Die Akademie unternimmt groteske, skurrile An-strengungen, um in einer Art "Parallelaktion" zwischen Österreich und Deutschland (ähnlich einer, die Robert Musil im "Mann ohne Eigenschaften" beschrieben hat), die Feierlichkeiten in Thüringen zu übertrumpfen. Hier liegt ein höchst amüsanter Roman vor, der ein Feuerwerk an Absurditäten abzubrennen scheint, sich mit seiner Schilderung von Eitelkeit, Verblendung, Wahnsinn und Lächerlichkeit aber tragisch nah an der Grenze österreichischer Wirklichkeit bewegt. Er kann als Zukunftsroman, Zeitroman und Kriminalroman gelesen werden. Vor allem aber ist es ein Schelmenroman.
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Seine Tour mit den Ehrenurkunden machte Langenbucher mit Rita und dem Fotografen Buzek. Er klapperte alle Orte ab, in die einst Gruber und Mohr einen Fuß gesetzt hatten. Auch die neuen Verantwortlichen dort bekamen eine Ehrenurkunde, wenn auch eine etwas kleinere als jene, die schon seit Jahren in den Haupt-Gedenkorten diese Funktion innehatten. Zugleich führte Langenbucher Gespräche mit Bürgermeistern über das Anbringen von Gedenktafeln. Er redete zu ihnen von der Belebung des Steinmetzgewerbes und veranlasste sie dazu, jeweils das nächste Dorffest als Benefizaktion aufzuziehen, um das nötige Geld zu akquirieren. Rita brachte mir kurze Berichte von diesen Aktionen samt den Fotos, die Buzek gemacht hatte. Ich sollte möglichst viele davon in den nächsten Mitteilungsblättern unterbringen. Ein einziges Foto ist in einer Lokalzeitung erschienen. Langenbucher ließ sich seine Enttäuschung darüber nicht anmerken und hatte schon den nächsten Plan: Bei jeder Enthüllung einer neuen Gedenktafel wollte er samt Fotograf Buzek dabei sein. „Es geht ja auch um die Dorfchroniken, die der Reihe nach geschrieben werden. Dafür werden immer wieder attraktive Fotos gebraucht, und die haben dann Jahrzehnte lang Bestand, im Unterschied zu den Fotos in den Zeitungen. In den Zeitungen hilft nur permanente Präsenz.“ Nein, auf dieser Ebene wollte ich nicht mehr weitermachen. War das Lied nun ein Weltlied oder war es keines? Also musste Weltformat her. Ich dachte nach, es fiel mir etwas ein. Aber mit wem konnte ich darüber reden? Um Langenbucher aus seiner provinziellen Selbstzufriedenheit herauszureißen, musste ich ihn über die Bande anspielen, das war mir klar. Über meinen Vorschlag wollte ich zunächst behutsam mit Dora sprechen. Auf sie verließ ich mich inzwischen vollkommen. Wir waren längst zum vertraulicheren Du gewechselt. Doch bevor ich sie um Rat fragen konnte, musste ich mein Versprechen, Stockklausner zu besuchen, einlösen. Ich hatte ein düsteres, altdeutsches Interieur erwartet, aber das Wohnzimmer war hell, sparsam eingerichtet, sachlich und zeitgemäß. An zwei Wänden standen volle Bücherregale, und es gab einige Bilder, die ein Kunstkenner angeschafft hatte. Es roch nach Zigarre. Dora war sehr zerstreut. Ich merkte, dass sie völlig auf den kranken Stockklausner konzentriert war. Er lag im Wohnzimmer auf einer Polsterbank, eigentlich saß er fast, so viele Kissen stützten seinen Rücken ab. Er wollte, als ich eintrat, den Eindruck erwecken, als sei alles wie sonst, und er habe bloß für eine halbe Stunde höchstens einen kleinen Mittagsschlaf gehalten. Dora glaubte fest daran, dass sich sein Zustand bessern werde. Er selbst auch. Langenbucher an der Spitze der Gesellschaft nahm er hin, ohne damit einverstanden zu sein. Er betrachtete den Zustand als Provisorium, das nur von kurzer Dauer sein werde. „Es ist wieder einmal ganz typisch“, sagte er stockend, „sie nehmen einen, der von der Sache nicht die geringste Ahnung hat. Und die Zeit, sich einzuarbeiten, wird er nicht haben, weil ich nicht vorhabe, lang zu pausieren.“ Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Er kam mir stark verändert vor, so, als hätte jemand einen Großteil der Kraft, von der er zuvor erfüllt gewesen war, aus ihm herausgesogen und eine schlaffe Hülle zurückgelassen. Die Augen wirkten viel größer als sonst, die Haut spannte sich über die Backenknochen, er schaute, als hätte ihm gerade jemand ein Schreckensbild gezeigt. Dora bestärkte ihn in seiner Gutgläubigkeit: „Langenbucher gibt sich Mühe, aber er dient bloß als Notnagel. Er weiß es selbst ganz genau.“ Als sie mich zur Tür begleitete, sagte sie: „Wir dürfen nicht vergessen, das nächste Mal behutsam auf die Biografie zu sprechen zu kommen. Ich weiß, dass ihn der Gedanke daran beleben wird. In dem Punkt zähle ich auf dich.“ Bis zum nächsten Mal dauerte es mehr als zwei Wochen, und ich raffte mich erst auf, nachdem Dora mich dringend darum gebeten hatte. Stockklausner saß diesmal bei Tisch. Mein erster Eindruck war: Der Mann war nicht bloß gewöhnlich krank, der verfiel. Der Unterschied zu meinem ersten Besuch war allzu deutlich. Stockklausner erkannte mich zunächst nicht. Die Gesichtshaut sah aus wie Pergament Er hatte die Augen aufgerissen, aber der Blick war so starr wie der einer Kunstfigur. Dora erinnerte ihn mehrmals daran, wer ich sei. „Dein treuer Sekretär“, sagte sie mehrmals, und er blickte ins Leere. Dora sagte, dass sie täglich auf ein paar helle Momente warte, die er zum Glück immer noch habe. Sie servierte ihm einen Bratapfel, in kleine Teile zerlegt. Es war September und eigentlich nicht die Jahreszeit für Bratäpfel. Dora erklärte: „Ich habe alles ausprobiert. Er schaut mich verwundert an, wenn ich ihm etwas hinstelle. Außer Bratäpfeln akzeptiert er kaum etwas. Bratäpfel mit Zwieback.“ Ich saß einige Zeit nur da, und es wurde kein Wort geredet. Vor drei Monaten war er für mich noch eine Autorität gewesen, von deren Wohlwollen viel abhing. Die Rollen hatten sich schlagartig verändert. Es war mir unangenehm, ohne die geringste gesundheitliche Beschwerde zu sein. Jetzt konnte ich ihn mir nur mit Mühe eine Virginia rauchend vorstellen. Die Unverlässlichkeit der Verhältnisse gab mir zu denken. Nichts blieb, wie es war. Die Redeweise, wonach Veränderungen, die einen völlig unerwartet treffen konnten, nötig seien, damit einer in Schwung blieb, hielt ich für zynischen Unsinn. Dann fing Stockklausner auf einmal stockend an zu erzählen. „Ich wollte nicht werden, was ich geworden bin. Mein Vater sammelte Landkarten. Er kannte sich überall auf der Welt aus. Nach der Arbeit saß er am Abend tief über die Karten gebeugt, schrieb die Namen von Orten heraus in ein dickes Heft und fuhr mit dem Zeigefinger dem Verlauf von Staatsgrenzen, Gebirgsketten und Flüssen nach. Wenn er aus dem Haus war, holte ich die eine oder andere Karte aus dem Schrank und ahmte ihn nach. Ich schrieb auch Namen von Orten heraus. Mein Berufsziel war klar: Ich wollte reisen… Das kann man wahrscheinlich keinen Beruf nennen. Aber das wollte ich. Mein Vater lachte mich aus. Er hielt das Reisen für rein überflüssig und ordinär, weil er den Karten den höchsten Stellenwert gab. Mir warf er vor, dass ich misstrauisch sei, weil ich alles überprüfen wollte, was auf den Karten verzeichnet war. Er dagegen schätzte die Abstraktion.“ Stockklausner redete mit brüchiger Stimme und machte zwischen den Sätzen lange Pausen. Ich hörte angestrengt zu, denn er neigte dazu, die Endsilben zu verschleifen. Eine dicke Fliege versuchte unentwegt, durch eines der geschlossenen Fenster nach draußen zu kommen, indem sie ihren Flugapparat auf höchste Touren hochjagte, damit aber nicht mehr erreichte, als auf der Scheibe auf und ab zu gleiten. Stockklausners Augen waren wässrig, und dann kam der Punkt, da konnte ich ihn beim besten Willen nicht mehr verstehen, weil er artikulierte wie ein neun Monate altes Kind, das Lautübungen machte. Schließlich hörte er auch damit auf und sah nur noch müde aus. Sollte das eine vorübergehende Schwäche sein? Ob Stockklausner jemals seine frühere Vitalität zurückgewinnen würde? Dora traute ich einiges zu. Sie verstand sich auf alternative Heilmethoden und richtete gewiss mehr aus als der Arzt, der Stockklausner regelmäßig besuchte. Dora half ihm, nachdem er vergeblich versucht hatte, vom Sessel hochzukommen, und führte ihn zu einer Liegebank. Er schlurfte mehr als er ging. „Es strengt ihn an“, sagte sie, nahm mich zur Seite und trug mir dringend auf, alles aufzuschreiben. Sie habe ihm gesagt, dass ich ihm beim Verfassen seiner Biografie behilflich sein werde. „Darüber hat er sich sehr gefreut. Alles was du aufschreibst, werde ich ihm vorlesen, immer wieder, denn er vergisst es von einem zum anderen Mal. Du musst mit ihm Geduld haben. Es besucht ihn keiner mehr. Er ist von der Liste seiner früheren Bekannten gestrichen. Deshalb bist du wichtig. Du erinnerst ihn an seine frühere Welt.“ „Dora, du kannst auf mich zählen“, sagte ich, hatte aber kein gutes Gefühl dabei. Im Gegenzug verlangte ich von ihr, dass sie mir einen Moment lang zuhöre. Ich sagte ihr, wie unglücklich ich sei, weil Langenbucher in der Gesellschaft einen derart provinziellen Kurs fahre. Davon wolle ich unbedingt wegkommen. Sie könne mir dabei helfen. Ich erklärte ihr, wie. „Nein, wir brauchen keinen Putsch, aber wir müssen Langenbucher auf eine andere Spur lenken. Du brauchst in der nächsten Sitzung nur das Stichwort ‚Jubiläum‘ fallen zu lassen. Er wird fragen, was es mit dem Jubiläum auf sich habe, und dann werde ich einen kleinen Bericht geben, der so klingen soll, als habe ohnehin er, Langenbucher, das Stichwort ,Jubiläum‘ als Devise ausgegeben, auf die sich sämtliche Kräfte der Gesellschaft in der Zukunft konzentrieren müssten. Du kannst dich darauf verlassen, dass es funktioniert.“ Was ich vorhatte, war nicht ungefährlich, das war mir bewusst. Ich folgte einer spielerischen Lust und war drauf und dran, die Realität hinter mir zu lassen. Je tiefer ich...