E-Book, Deutsch, 188 Seiten
Reihe: Lenos Polar
Towfik Utopia
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-85787-924-1
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman aus Ägypten
E-Book, Deutsch, 188 Seiten
Reihe: Lenos Polar
ISBN: 978-3-85787-924-1
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ägypten im Jahr 2023. Hinter den hohen Mauern, die die Luxuskolonie Utopia von der Außenwelt abschotten, plagt die Jugendlichen die Langeweile. Nur die »Jagd« verschafft ihnen den ersehnten Nervenkitzel. Dabei dringen sie in die Elendsquartiere jenseits der Grenzen ein, töten einen der Anderen und bringen einen Körperteil als Trophäe zurück. Auch ein junger Mann und seine Freundin wollen diesen Kick erleben. Doch ihr Ausflug in die verwahrlosten Armenviertel Kairos erweist sich als gefährlicher denn erwartet. Enttarnt und verfolgt von hasserfüllten Bewohnern, werden sie ihrerseits zur Beute. Werden sie ihre Haut retten können? In seinem Thriller schildert Ahmed Khaled Towfik eindrucksvoll die Gefühlskälte des Protagonisten, der nur mittels Gewalt seine eigene Existenz zu spüren glaubt. Er skizziert eine Gesellschaft in nicht ferner Zukunft, in der die Spaltung zwischen Arm und Reich buchstäblich zementiert ist: angesichts aktuell zunehmender sozialer Spannungen (nicht nur) in Ägypten ein drängender, beängstigender Weckruf.
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1
Wie das berühmte alte Plakat zum Film Platoon, dachte ich damals. Das Bild hatte ich nämlich über meinem Bett hängen. Willem Dafoe blickt auf zum Himmel – von dem ihn nichts mehr trennt – und hebt wie zu einem letzten Gebet seine Arme. Von Kugeln durchsiebt, ist er auf die Knie gefallen, indes der Tod grösser als das Leben selbst, indes der Tod zu einer Kunstform wird. Es war eine erhabene Szene, vor allem weil sie sich nicht nur auf dem Fernsehbildschirm abspielte. Alles war auf schreckliche, grausame Weise echt … … und faszinierend. Leugne das bitte nicht! Da sah ich ihn stehen, völlig erschöpft. Von Blutarmut und Hunger ausgezehrt, konnte er die Verfolgungsjagd nicht länger durchhalten. Ich beobachtete, wie er sich, nach Luft ringend, vorbeugte und die Hände auf die Knie stützte, dann sah ich ihn nach oben blicken, während der Helikopter ruhig und gemächlich über ihm kreiste. Der hatte Zeit, ein deutlicheres Ziel als einen unbewaffneten Mann im Wüstensand gibt es nicht. Einen vom Laufen erschöpften Mann. Einen vor Hunger erschöpften Mann. Einen vor Verzweiflung erschöpften Mann. Wehr dich doch nicht, du Idiot! Was hättest du von ein paar weiteren Augenblicken bei den Anderen? Was hast du in den letzten zwanzig Jahren versäumt, das du jetzt noch tun möchtest, falls du am Leben bliebest? Wenn du fliehst, ist das nichts weiter, als wenn eine Schabe über die Küchenwand fortkrabbelt oder eine Amöbe unter der Linse des Mikroskops davongleitet. Purer Instinkt. Ein naturgegebener Fluchtimpuls. Du solltest lernen, ihn zu ignorieren, um deine verdiente Ruhe zu finden. Die Maschinengewehre feuerten, und er blickte auf. Ja, für dich sind die Kugeln! Sie zeichnen eine lange Linie in den Sand. Eine Linie, die über dich hinwegläuft. Willem Dafoe auf dem Platoon-Plakat. Wie dumm doch die Filmregisseure sind, ging es mir durch den Kopf, dass sie einen Erschossenen immer gleich zu Boden fallen lassen. Nein, er blickte nach oben, es sah aus, als wolle er etwas sagen, dann erst fiel er mit dem Gesicht in den Sand. Germinal schnappte erschrocken nach Luft, doch in ihren Augen sah ich ein Leuchten: Faszination war es, was da aufblitzte, keine Frage. Ihre Brust hob und senkte sich. Unsere Finger berührten einander, als wir so hinter dem Draht standen und zusahen, wie der Helikopter herabkam und ringsum eine Staubwolke aufwirbelte. Dann sprang ein amerikanischer Wächter heraus, um die Leiche zu untersuchen. Er trat mit der Schuhspitze dagegen und bückte sich, um nach der Halsschlagader zu tasten. »Lovely!«, rief er mit emporgerecktem Zeigefinger. Er rannte zum Helikopter zurück, und Sekunden später hob sich das Fabeltier in die Lüfte. Seine Aufgabe war erfüllt, die Jagd beendet. Diese Wächter sind alle Marines, die – warum, weiss ich auch nicht – aus der Armee ausgeschieden sind. An körperlicher Tauglichkeit jedenfalls fehlt es ihnen nicht. Erschrocken schnappte Germinal nach Luft. Entzückt schnappte Germinal nach Luft. Der Tod – das grosse Spiel, das wir noch nicht probiert hatten. Ich stehe vor dem Spiegel. Ich vergewissere mich, dass mein Haar den berühmten Irokesenschnitt hat: beide Kopfseiten kahlrasiert, nur in der Mitte ein hochstehender violetter Kamm wie bei einem rebellischen Hahn. Mein Oberkörper ist nackt, bis auf ein paar lange, dicke Halsketten auf der Brust. Totenschädel und Voodoosymbole. Ich bin kein Teufelsanbeter. Eigentlich glaube ich an gar nichts, aber sie sehen so schön provozierend aus. Auch die Tätowierung ist ungewöhnlich. Sie gefällt den Mädchen hier. Die Hosen sind extra so geschnitten, dass man möglichst männlich darin aussieht, sie lassen die Waden frei. Manchmal laufe ich barfuss, heute aber nicht. Ich stecke mir das neue Piercing in den Nasenflügel und das andere in die Augenbraue. Den Zungenschmuck trage ich heute nicht. Dann male ich mir sorgfältig die Zähne an. Die Eckzähne rot, die Schneidezähne gelb, die Backenzähne blau. Diese Farbe ist super, sie geht nicht so schnell ab und ist angeblich ungiftig. Aber wen interessiert das schon? Soll sie ruhig giftig sein! Ich setze die neuen Kontaktlinsen ein, durch die man weisse Pupillen kriegt. Es törnt die Mädchen an, wenn man sie mit weiss gefärbten Augen ansieht, als wäre man der Tod persönlich. Das haut sie total um. Ich überprüfe, ob die Wunde an meiner Stirn klafft. Mit grösster Sorgfalt bearbeite ich die Ränder, damit sie blutig aussehen. Wunden sind echt krass. Sie liegen seit zwei Jahren im Trend, und es gibt Spezialisten dafür. Die Wunde muss möglichst schlimm aussehen, zugleich aber auch unecht, damit sich niemand ekelt. Das ist eine richtige Kunst! Diese Wunde hat mir ein israelischer Arzt gemacht, der sich auf solche Dinge spezialisiert hat. Er sagte, er habe das in New York gelernt. Er hiess Eli. Feiner Typ. Sein Vater hatte 1973 im Krieg mit den Ägyptern eine ähnliche Verletzung abbekommen, erzählte er und fragte mich, ob ich über dieses Thema im Bilde sei. Ich erwähnte, dass ein Onkel von mir in diesem Krieg gestorben sei, aber Genaueres wisse ich nicht. Diese Sachen sind fünfzig Jahre her. Keine Ahnung, warum die Ägypter die Israelis – irgendwann mal – gehasst haben. Aber ich lege auch keinen Wert darauf, so was zu verstehen. Wenn man es von mir verlangte, zöge ich vielleicht in den Krieg, nur um die Routine des Lebens zu durchbrechen. Wäre doch toll, durch eine Wüste zu marschieren, wo einem die Kugeln um die Ohren fliegen und überall Leichen liegen! In Utopia … Wo sich der Tod hinter Stacheldraht versteckt und nur noch ein Spiel ist, von dem die Jugendlichen träumen. Utopia … Sechzehn Jahre bist du alt und hast immer nur zu Utopia gehört. Du Bürger Utopias bist verweichlicht von Luxusleben und Langeweile und kannst Amerikaner, Ägypter und Israelis nicht mehr auseinanderhalten. Nicht einmal dich selbst kannst du noch von den anderen unterscheiden. Und gäbe es nicht noch Reste von Lust in deinem Körper, wüsstest du nicht mal, wer Männchen und wer Weibchen ist. Wer ich bin? Lassen wir die Namen! Was bringen Namen, wenn man sich sowieso von niemandem unterscheidet? Sâlim Bey hat mal zu mir gesagt: »Du liest so viel. Du bist verrückt!« Ich erwiderte, Lesen sei für mich eine billige Droge. Ich mache es nur, um meinem Bewusstsein zu entfliehen. Früher, man stelle sich das vor, las man, um sich ein Bewusstsein zu bilden! Ich bin kein Kind mehr. Ich bin schon über sechzehn. Ich habe jedes Buch gelesen, das mir in die Hände fiel, bis ich genug davon hatte. Bücher sind hier Mangelware, aber bei Sâlim Bey, diesem Zeitungsherausgeber, der zweihundert Meter entfernt von mir wohnt, bin ich auf einen richtigen Schatz gestossen. Er hat sehr viele Bücher, und um zu provozieren, fing ich an zu lesen. Murâd liest nämlich nicht und Larine ebenso wenig. Es macht Spass, etwas zu tun, was sie nicht mögen. Irgendwie habe ich mich ins Lesen verliebt, ich bin dabei auf magische Welten gestossen, in die ich mich flüchten kann, wann immer ich will. Sâlim Bey sah mich jedes Mal, wenn ich seine Bibliothek aufsuchte, erstaunt an und sagte: »Glaub mir, mein Sohn, nichts an diesen Büchern ist von Interesse. Ich schaffe sie mir an, damit das Büro nach etwas aussieht, aber dein einziger Lehrer ist das Leben.« Ich antwortete nicht, holte mir aber zehn Bücher auf einmal bei ihm und gab ihm dafür ein paar Schachteln Libidafro, die ich meinem Vater geklaut hatte. Sâlim ist verwitwet und hat nicht wieder geheiratet. Ich kann mir also denken, wofür er das Libidafro braucht. Bevor ich sechzehn wurde, hatte ich auf diese Weise schon die meisten philosophischen und religiösen Werke sowie die Romane, die ich gefunden hatte, durch. Aber über Politik habe ich weder gern etwas gelesen noch mich sonst damit beschäftigt, genauso wenig wie mit Geschichte. Auch im Internet las ich viel. Offenbar zu viel, denn jetzt kann ich kein Buch mehr sehen. Aber bestimmt bin ich dadurch kultivierter als meine Altersgenossen. In meinem relativ zarten Alter bin ich schon ziemlich fest davon überzeugt, dass es nichts Neues unter der Sonne und nichts mehr zu lernen gibt. Ein Riss durch die Gesellschaft hat zu dem Zustand geführt, in dem wir uns jetzt befinden, aber dieser Riss muss fortbestehen. Jeder, der eine Reform versucht, riskiert, dass wir alles verlieren. Es ist eine Situation ähnlich dem McCarthyismus des vergangenen Jahrhunderts in den USA, als die Amerikaner das Gefühl hatten, alle linken Tendenzen bekämpfen zu müssen, weil sie ihr Staatswesen dadurch bedroht sahen. So hat Sâlim Bey es mir erklärt. Mit jedem Mädchen, das mir gefiel, habe ich geschlafen und jede Art von Drogen ausprobiert, selbst das neue Phlogistin, das aus Dänemark kommt und nach Zitrone duftet. Es soll extrem teuer sein, aber was heisst das schon, extrem teuer? Wir verwenden diesen Ausdruck, ohne seine Bedeutung zu kennen. Ich weiss, dass man sich nur einen Tropfen Phlogistin auf die Haut am Unterarm träufeln muss, und schon trägt es einen weit weg. Dann sieht man die faszinierenden Flammen, nach denen es benannt ist. Erst Stunden später kommt man zu sich und merkt, dass man mehr braucht. Mit Marihuana hatte ich angefangen. Ganz in Ordnung. Ecstasy habe ich probiert und LSD. Das Problem bei Letzterem ist: Man kann absolut nicht sicher sein, dass man am Leben bleibt, bis man wieder runterkommt. In jeder Gruppe muss es immer einen geben, der nichts nimmt und die anderen im Auge behält. Man nennt ihn den Tripsitter. Es kann nämlich sehr gut passieren, dass sich die Konsumenten aus lauter...