E-Book, Deutsch, 280 Seiten
Ulrich Der unsichtbare Pfad
2. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7519-4042-9
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein junger Mann in dunkler Zeit
E-Book, Deutsch, 280 Seiten
ISBN: 978-3-7519-4042-9
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erwachsen werden in einer Zeit der Verdunkelung, der politischen Bedrückung und Aufrüstung. Es ist die Zeit des Nationalsozialismus. Manuel Paul Schröder (»Mannu«) wächst in Korntal bei Stuttgart auf. Mit seinen Freunden treibt er Sport, macht Wanderungen und träumt von der Freiheit. Seine andere Seite ist nachdenklich und ernst. Mannus Vater war Missionar in Westafrika. Araber und Afrikaner sieht er als seine Brüder. Für alle in der Familie ist das beispielhaft. Nach dem Tod des Vaters und dem Schulabschluss in Korntal geht Mannu für eine Ausbildung als Fotograf nach München. Die Münchner Jahre erlebt er als völligen Kontrast zu seiner Korntaler Jugendzeit. Seiner Mutter schreibt er nach der Reichsprogromnacht auf einer Postkarte: »Dieses Reich wird untergehen.« Der Einberufung zum Kriegsdienst will Mannu nicht Folge leisten. Mutig stellt er sich dagegen und flieht. Einer verrät ihn. Mannu wird von der Gestapo festgenommen und nach kurzem Prozess hingerichtet. Eine Geschichte des stillen und wie selbstverständlichen Widerstands. Sie macht Mut, seinem Gewissen zu folgen und nicht einer falschen Ideologie.
Matthias Ulrich ist 1950 in Braunschweig als Sohn deutsch-österreichischer Eltern geboren und wuchs in Stuttgart auf. Nach dem Abitur Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Geographie in Freiburg und Paris. Mehrere Preise und Stipendien, darunter der Wiener Werkstattpreis 1999. Mitarbeit bei Literaturzeitschriften (Hören, ndl, Literatur und Kritik) und Zeitungen (Stuttgarter Zeitung, Eßlinger Zeitung, Die ZEIT). Erzählbände (»Der Belgier«, »Neckarblue«, »Patagonien Passage«), Romane (»Die Verzögerung«, »Feuerreiter«, »Der Himmel über Chiloé«, »Die Kinder in Srevina« i. V.). Herausgeber von N-O-X-I-A-N-A (Zeitschrift für Literatur und Zeichnung). Essayistische Arbeiten über Peter Hamm, Hermann Lenz, Oskar Loerke, Alain Fournier und Roberto Juarroz. Seit 1971 umfangreiches zeichnerisches und malerisches Werk mit Ausstellungen im In- und Ausland. Lebt in Remseck am Neckar und in St. Stefan ob Stainz in der Steiermark.
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1
An einem himmelblauen Junitag beginnt meine Geschichte. Ich war spät dran und rannte in Richtung Schule. Ich wollte nicht der Letzte sein, der zum Spiel kam. Denn es war etwas Neues für uns. Ein Handballspiel zweier Mannschaften, und ich sollte der Spielführer der einen Mannschaft sein. Es war das erste Mal, dass wir Jungen der Höheren Knabenschule in Korntal in zwei Mannschaften Handball spielen durften. An dieses Spiel kann ich mich gut erinnern. Zehn Schüler zwischen zwölf und dreizehn Jahren waren wir, und unser späteres Schicksal kam aus der Tiefe der Zeit. Einige fielen im Krieg, einige kehrten zurück, einige hatten ihren Glauben verloren, auch den an Deutschland, und den zuerst. Sie zeigten es nicht und gruben sich ein in Schweigen und Bitterkeit, einige verschwanden ganz, man weiß nicht, was aus ihnen wurde. Aber einige kehrten auch zurück und dankten Gott für die Bewahrung. Sie dachten vielleicht noch zurück an jenen Tag und das unbekümmerte Spiel, das sie das erste Mal gespielt hatten. Und dass einer der Ihren fast zu spät gekommen war. Ich – ihr Spielführer: Manuel Paul Schröder, genannt Mannu. Mein Weg war anders. Und wo ich schreibe, bin ich fern, sehr fern, durchsichtig wie die Luft an einem Frühlingstag. Auf Weisung der Nationalsozialisten bin ich als Kriegsgegner von einem Kriegsgericht zum Tode verurteilt worden. Mein Weg, so hoffe ich, war nicht vergeblich. Und das ist meine Geschichte. Rösle sah zu mir hin und winkte mit den Armen. »Da bist du ja!«, rief sie. »Nach vorn! Nach vorn!« Und Dorothee guckte zu ihr, als sei Rösle nicht ganz bei Trost. Aber ja doch! Sie wollte mich anfeuern, ich rang nach Atem. Aber ich hatte ja den Ball und sprang um zwei Spieler herum. »Vor! Vor!« Ja, ich hörte es! Umkurvte den großen Pieter, behielt den Ball, prallte ihn am Boden ab und brachte ihn ins Tor. Rösle war begeistert, Dorothee klatschte Beifall, Bruno tanzte wie ein Indianer um die Bänke. Schwer atmend blieb ich stehen, und die Anderen aus meiner Mannschaft klopften mir auf die Schulter. Pieter knurrte: »Glück gehabt! Obwohl du zu spät gekommen bist.« »Ja, Glück – aber gib zu, dass ich schneller war.« Breitner, der Sportlehrer, pfiff ab. »Keine Streitereien! Das Spiel geht – weiter!« In der Mitte wurde der kleine dunkle Lederball hochgeworfen und ging weiter von Hand zu Hand. Er flog durch die Luft, und ich folgte ihm mit den Augen hoch ins Blaue und wie er eine vollendete Kurve in den Himmel schrieb. Heute war ein schöner Tag und das Himmelsblau tief und von ganz wenigen weißen fedrigen Wolken durchzogen. »He!«, rief Breitner. Ja, ja, ich sollte nicht gucken, nicht Zeit schinden, ich sollte weiterspielen, bekam den Ball gerade noch zu fassen, ließ ihn am Boden abprallen und gab ihn an Georg weiter. Kurz sah ich zu Rösle hinüber, sie winkte mir zu. Dann war der Ball wieder bei mir und ging weiter an Roman. Roman griff daneben und so kam der Ball Gottfried von der anderen Mannschaft in die Hände, der ihn gleich an Pieter weitergab. Pieter lachte, als wollte er sagen: Siehste! Sein Wurf mit der rechten Hand – unhaltbar ins Tor. Breitner: »Ausgleich!« Jetzt jubelten die Anderen. »Das ist Handball!« Breitner klatschte in die Hände. Ihm gefiel das Tempo des Spiels. Und er rief: »Weiter! Weiter!« Pieter dachte wohl, die Mädchen und der Himmel lenkten ab, Quatsch. Ich griff den Ball, prallte ihn zwei-, dreimal am Boden ab und hob ihn mit einem schönen Wurf ins Tor, dass Mark nur noch das ausgebeulte Tornetz sah. Dort hing der Ball, als gehörte er genau dort hin. »Führung!« Meine Jungen trumpften auf. Prompt kam die Strafe. Der große Pieter umzirkelte uns und zack! Der nächste Ball im Tor. Ausgleich. »Ach, Pieter!«, rief Dorothee. Pieter lachte. Der Schweiß lief ihm über die Stirn und in die Augen. Er blinzelte und rempelte mich an, hob aber gleichzeitig beide Hände und murmelte »Entschuldigung!« Breitner pfiff ab. »Den Ball noch!« Ich bekam ihn, verfehlte aber das Tor, ich hatte Seitenstechen. Aber das sollte niemand merken. Wieder flog der Ball, und ich gab ihn gleich weiter. Roman versuchte noch, an Markus vorbeizukommen, aber der wehrte den Ball ab. Breitner trat vom Spielfeldrand auf das Feld, fing den Ball auf und sagte: »Genug für heute!« Das Ergebnis? Weder Pieter noch ich waren stolz darauf, kein Punkt mehr, aber das ging durch. Pieter schwitzte stark, ich hatte Seitenstechen. Bruno sagte zu mir: »Dein Hemd ist ganz nass.« Die Schweißtropfen perlten mir den Rücken hinab wie aus dem Sprudelglas. Also ab in die Umkleidekabinen. Das Handballspiel hatten wir Schüler der Klasse acht sofort kapiert, Schnelligkeit und gute Hände. Breitner hatte uns den Ball gezeigt und schmunzelnd gefragt: »Wisst Ihr, was man damit machen kann?« Ein paar Regeln an der Tafel, dann hatte er zwei Mannschaften bestimmt und je fünf Spieler aufgeschrieben: Roman, Georg, Karl, Martin und Mannu. Auf der Gegenseite: Pieter, Gottfried, Markus, Karl und Eduard. Spielführer in der einen Gruppe der große Pieter; ich, Mannu, in der anderen. Breitner wollte vom Fußball nichts wissen. »Fußball, das spielen sie jetzt auf dem Wasen, das machen alle, aber wir, wir sind die Korntaler Handballer.« Damit traf er den Nagel auf den Kopf. Wir – die Handballer! »Zum Spiel pünktlich sein!«, rief Breitner. Meiner Mutter hatte ich noch geholfen, die Nähmaschine in Gang zu setzen. Der Treibriemen war gerissen und ein neuer musste aufgezogen werden. Na ja und darum … Ich war aber nicht der Junge, der sich dafür entschuldigte. Das Handballfeld lag neben der Schule quasi bereit, als hätten die Bauherren das so gewollt. Handball statt Fußball. Die Umkleidekabinen neben dem Platz waren eng und dunkel. Es roch nach Schweiß und Schweißfüßen, Gottfried rief: »Zehn Pfund Stinkekaas!« Wir lachten. Gottfried wischte sich das Gesicht mit einem Waschlappen ab. Ich spritzte mir das Wasser auf die Haut und an den Hals. Den Rücken trocknete ich mit einem Handtuch. Gedränge um Wasserhahn und um zwei Sitzbänke. Die Netze der Kleiderbügel waren mit den Hemden und Hosen vollgestopft. Roman hielt seinen Kopf unter den Wasserhahn, Pieter zog sein Sporthemd aus und ließ seine Muskeln sehen; unter den Achseln sprossen schon blonde Härchen. Als ich mich draußen an die Hauswand lehnte und meine Haare kämmte, kam Pieter heraus. Er sah zu mir und zog die Augenbrauen hoch. Er hob die Fäuste, als ginge es nun so weiter – , dann lachte er und umarmte mich, was mir gut tat, denn ich wollte nicht, dass wir wie Gegner standen. Spiel ist Spiel. Pieter war einer wie ich, und auch wenn er stärker war und andere Sachen mochte, hatten wir außer im Handball fast nichts zum Streiten. Pieter hatte von seinem Onkel eine Hantel aus Holland bekommen. »5 kg« stand in schwarzen Lettern auf der Hantel. Liegestützen machte Pieter übrigens auch, jeden Tag zwanzig. Und Klimmzüge an Ästen. Rösle stand daneben und sagte: »Lass mich mal!« Drei Züge. Pieter: »Rösle, du Äffle!« Mir war’s zum Schmunzeln, weil Pieter eben die Mädchen für schwach hielt. Tja, Irrtum mein Lieber, dachte ich. Auf dem Heimweg waren dann Rösle und Dorothee neben mir. Rösle sagte: »Du bist so rasch gesprungen!« Und Dorothee: »Noch ein, zwei Würfe – und es wäre nicht mehr eins zu eins gewesen.« Meine Haare waren nass. Ich glättete sie sorgsam mit dem Kamm. Alle Welt hatte ja gesagt, ich wäre in letzter Zeit stark gewachsen und dem Gesicht meiner Mutter ähnlicher geworden als dem des Vaters. Ich konnte das nicht erkennen. Breitner hatte jeden von uns gemessen, einsneunundsiebzig bei mir; für den Handball könnte ich noch zulegen, meinte Breitner. Den Vater hatte ich bereits überholt. Dorothee sagte: »Bild dir bloß nichts ein.« Das Zimmer zu Hause teilte ich mir mit Stefan, meinem älteren Bruder. Der wusste schon das Ergebnis und wischte mit der Hand durch die Luft. Sein Kommentar: »Unentschieden ist eigentlich – na ja. Aber eh besser als verloren.« Er hätte das Spiel sehen sollen, dann wär’s ein Wort gewesen, aber so? Stefan gab sich gern souverän, ich sollt’s nicht so ernst nehmen. Mit meinen vier Jahren weniger war ich halt noch »das Kind«. Stefan war der »Große«, obwohl ich nicht mehr weit davon entfernt war, ihn einzuholen. Größenmäßig. Ich glaube, er nahm das schon wahr. Er war der ruhigere von uns beiden, der gemächlichere, er ließ sich Zeit, während mich oft ein Unruhegefühl packte. Das Ball-Abprallen war sehr gut dagegen. Mir ging so viel durch den Kopf, wie ein Schwarm Glühwürmchen. Halt an, halt an – Stefan brauchte...