Voltaire / Bauer | Philosophisches Taschenwörterbuch | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 447 Seiten

Reihe: Reclam Taschenbuch

Voltaire / Bauer Philosophisches Taschenwörterbuch

Reclam Taschenbuch

E-Book, Deutsch, 447 Seiten

Reihe: Reclam Taschenbuch

ISBN: 978-3-15-962214-9
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Voltaires 'Dictionnaire philosophique portatif' ist kein Nachschlagewerk: Es ist eine Abrechnung mit Dummheit, Fanatismus und Intoleranz. In 73 Stichworten kann man lernen, was eine kritische Geisteshaltung ausmacht. Eine kluge Kampfschrift, von der noch heute Impulse ausgehen können. Nach der Erstausgabe von 1764 erstmals vollständig ins Deutsche übersetzt. - Mit einer kompakten Biographie des Autors.   »Es ist eine Großtat des Reclam Verlags und der Voltaire-Stiftung, diesen zentralen Text unverkürzt ins Deutsche gebracht zu haben. Voltaires kämpferischer Witz, seine bei aller Skepsis unerschütterliche Menschenliebe funkeln frisch wie am ersten Tag.« Gustav Seibt, Süddeutsche Zeitung
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ÂME – Seele
Könnte man in seine Seele blicken, so wäre dies eine gute Sache. Erkenne dich selbst ist eine vortreffliche Verhaltensregel, doch Gott allein vermag sie anzuwenden, denn wer außer ihm ist in der Lage, sein eigenes Wesen zu erkennen? Als Seele bezeichnen wir, was beseelt. Weil unser Verstand beschränkt ist, wissen wir davon kaum mehr. Drei Viertel der Menschheit kommen darüber nicht hinaus und scheren sich nicht um das denkende Wesen, das letzte Viertel sucht, doch hat niemand jemals etwas gefunden, noch wird jemals irgendjemand etwas finden. Armer Philosoph, du siehst eine Pflanze wachsen und sagst Wachstum oder sogar vegetative Seele.a Du bemerkst, dass Körper sich bewegen und Bewegung erzeugen, und sagst: Kraft; du siehst, wie dein Jagdhund durch dich zu jagen lernt, und da entfährt dir Instinkt, fühlende Seele; du verbindest Vorstellungen miteinander und du sagst Geist. Aber mit Verlaub, was verstehst du unter den Worten: »Diese Blume wächst«? Aber gibt es ein reales Wesen, das Wachstum heißt? Jener Körper stößt einen anderen an, aber hat er ein von ihm unterschiedenes Wesen in sich, das sich Kraft nennt? Jener Hund bringt dir ein Rebhuhn, aber gibt es ein Wesen namens Instinkt? Würdest du nicht auch über einen Klugschwätzer lachen (und sei er auch der Lehrmeister Alexanders des Großen gewesen), der zu dir sagte: »Alle Tiere leben, also gibt es in ihnen ein Sein, eine substantielle Form, die das Leben ist?« Wenn nun eine Tulpe sprechen könnte und zu dir sagte: »Mein Wachstum und ich, wir sind offensichtlich zwei miteinander verbundene Wesen« – würdest du die Tulpe da nicht auslachen? Sehen wir uns zunächst einmal an, was du weißt und worüber du dir sicher bist: nämlich, dass du mit deinen Füßen gehst, mit deinem Magen verdaust, mit deinem ganzen Körper fühlst und mit deinem Kopf denkst. Dann wollen wir sehen, ob allein dein Verstand dir genügend Einsicht verschafft hat und dich – ohne Rückgriff auf Übernatürliches – zu dem Schluss gelangen lässt, dass du eine Seele besitzt. Die ersten Philosophen, ob es sich nun um Chaldäer oder um Ägypter handelte, sagten: »Es muss in uns etwas geben, das unsere Gedanken hervorbringt, dieses Etwas muss sehr fein sein, es ist ein Hauch, es ist Feuer, es ist Äther, es ist die Essenz von allem, es ist ein flüchtiges Trugbild, es ist eine Entelechieb, es ist eine Zahl, es ist eine Harmonie.« Schließlich, dem göttlichen Platon zufolge,1 ist es die Verbindung des Selbst mit dem Anderen. Es sind die Atome, die in uns denken, hat nach Demokrit auch Epikur gesagt. Aber, mein Freund, wie denkt ein Atom? Gib zu, dass du darüber nichts weißt. Gewiss muss man sich der Ansicht anschließen, dass die Seele ein immaterielles Wesen ist. Doch worin dieses immaterielle Wesen besteht, versteht ihr bestimmt nicht. »Nein«, antworten die Gelehrten, »aber wir wissen, dass es ihrer Natur entspricht, zu denken.« Und woher wisst ihr das? »Wir wissen es, weil sie denkt.«c O ihr Gelehrten! Ich fürchte wohl, ihr seid ebenso unwissend wie Epikur: es entspricht der Natur eines Steins, zu fallen, weil er fällt – aber ich frage euch, was bewirkt, dass er fällt? »Wir wissen«, fahren sie fort, »dass ein Stein keine Seele hat.« Einverstanden, davon bin ich genauso überzeugt wie ihr. »Wir wissen auch, dass eine Negation und eine Affirmation nicht teilbar, also nicht materiell sind.«d Da bin ich ganz eurer Ansicht. Aber die Materie, die uns im Übrigen unbekannt ist, besitzt auch nicht-materielle Eigenschaften, die nicht teilbar sind. So wird sie von der Schwerkraft gegen ein Zentrum hingezogen, das Gott ihr gegeben hat. Nun hat diese Gravitation keine Teile und ist in keiner Weise teilbar. Die Kraft, die Körper bewegt, ist kein aus Teilen zusammengesetztes Wesen. Das Wachstum belebter Körper, ihr Leben, ihr Instinkt, sind ebenfalls keine Einzelwesen, Wesen, die man teilen kann. Das Wachstum einer Rose, das Leben eines Pferdes, den Instinkt eines Hundes könnt ihr ebenso wenig zerteilen wie eine Empfindung, eine Negation, eine Affirmation. Euer schönes Argument, das ihr aus der Unteilbarkeit des Denkens gewinnt, beweist folglich gar nichts. Was also nennt ihr eure Seele? Welche Vorstellung habt ihr davon? Ohne Offenbarung könnt ihr in euch nichts anderes annehmen als eine euch unbekannte Kraft, zu fühlen und zu denken. Und nun sagt mir ehrlich, ob diese Kraft zu fühlen und zu denken dieselbe ist, die euch die Fähigkeit verleiht, zu verdauen und zu gehen? Ihr gebt zu, dass das nicht der Fall ist, denn es wäre vergeblich, wenn euer Verstand zu eurem Magen sagte: verdaue – er würde nichts dergleichen tun, wenn er krank ist; vergebens würde euer immaterielles Wesen den Füßen befehlen, zu gehen – wenn sie die Gicht haben, verharren sie an Ort und Stelle. Den Griechen war sehr wohl bewusst, dass das Denken oftmals nichts mit dem Zusammenwirken unserer Organe zu tun hat. Den Organen haben sie eine animalische Seele zugewiesen und dem Denken eine feinere, subtilere Seele, ein nous.e Doch da ist nun diese denkende Seele, die bei tausend Gelegenheiten über die animalische Seele die Aufsicht führt. Die denkende Seele befiehlt ihren Händen zu greifen, und sie greifen. Doch befiehlt sie ihrem Herzen nicht, zu schlagen, dem Blut nicht, zu fließen, dem Verdauungsbrei nicht, sich zu bilden, all dies geschieht ohne ihre Einwirkung: da wären nun zwei recht verlegene Seelen, die recht wenig Herr im eigenen Hause sind. Diese erste, animalische Seele existiert somit gewiss nicht, denn sie ist nichts anderes als die Bewegung eurer Organe. Gib Acht, o Mensch, denn deine schwache Vernunft liefert dir auch nicht mehr Beweise dafür, dass die andere Seele existiert. Du kannst es allein durch den Glauben wissen. Du wirst geboren, du lebst, du handelst, du denkst, du wachst, du schläfst, ohne zu wissen, warum. Gott hat dir die Fähigkeit zu denken gegeben, wie er dir auch alles Übrige gab, und wäre er nicht gekommen, dich zu der Zeit, die er vorherbestimmt hatte, zu lehren, dass du eine immaterielle und unsterbliche Seele besitzt, so hättest du keinen einzigen Beweis dafür. Lasst uns nun die großartigen Systeme betrachten, die deine Philosophie über diese Seelen verfertigt hat. Das eine besagt, dass die menschliche Seele Teil des göttlichen Wesens selbst ist,2 das andere, dass sie ein Teil des großen Ganzen ist,3 ein Drittes, dass sie seit eh und je erschaffen ist,4 ein Viertes, dass sie gemacht und nicht erschaffen ist.5 Andere wiederum versichern, dass Gott die Seelen in dem Maße anfertigt, wie man es benötigt, und dass sie zum Zeitpunkt der Begattung eintreten.6 »Sie lassen sich in den Samentierchen nieder«, ruft dieser. – »Nein«, sagt jener, »sie bewohnen den Eileiter.« – »Ihr habt alle unrecht«, meint einer, der zufällig dazukommt, »die Seele wartet sechs Wochen, bis sich der Fötus herausgebildet hat, dann besetzt sie die Zirbeldrüse, stößt sie aber auf eine Fehlgeburt, zieht sie sich zurück und wartet auf eine bessere Gelegenheit.« Die letzte Meinung ist, dass das Corpus callosumf ihre Behausung ist, dies ist der Ort, den ihr La Peyronie zuweist; man musste Erster Chirurg des Königs von Frankreich sein, um solcherart über den Aufenthalt der Seele bestimmen zu können. Jedoch war seinem Corpus callosum nicht die gleiche Karriere beschieden wie dem Chirurgen selbst. Der heilige Thomas sagt in der 75. und den folgenden seiner Quaestiones, dass die Seele eine für sich selbst existierende Form ist, dass sie das Ganze selbst ist, dass sich ihr Wesen von ihrer Kraft unterscheidet; dass es drei vegetative Seelen gibt, nämlich die ernährende, die vermehrende, die erzeugende; dass die Erinnerung an geistige Dinge geistig ist, die an körperliche körperlich; dass die vernünftige Seele ein Gebilde ist immateriell hinsichtlich der Handlungen und materiell hinsichtlich des Seins. Der heilige Thomas hat mit solcher Kraft und Deutlichkeit 2000 Seiten geschrieben, und deshalb ist er auch der Engel der Scholastik.7 Nicht weniger Systeme hat man über die Art gemacht, wie diese Seele fühlt, wenn sie ihren Körper, mit dem sie fühlte, verlassen hat; wie sie hört ohne Ohren, riecht ohne Nase und berührt ohne Hand; welchen Leib sie dann wieder annehmen wird, ob es derjenige ist, den sie im Alter von zwei, oder jener, den sie im Alter von achtzig Jahren hatte; wie das Ich, die Identität der Person, überdauern wird. Wie die Seele eines Mannes, der mit fünfzehn Jahren schwachsinnig wurde und im Alter von siebzig Jahren schwachsinnig starb, an die Gedanken anknüpfen wird, die sie hatte, als er in der Pubertät war. Durch welchen geschickten Kniff findet eine Seele, deren Bein in Europa abgetrennt wurde und die einen Arm in Amerika verlor, dieses Bein und diesen Arm wieder, welche, da sie sich unterdessen in Gemüse verwandelt haben, ins Blut irgendeines anderen Tieres übergegangen sind? Man würde nie ein Ende finden, wollte man von all den Narrheiten berichten, die sich die arme Menschenseele über sich selbst eingebildet hat. Was allerdings sehr bemerkenswert ist: In den Gesetzen des auserwählten Volkes wird nicht ein einziges Wort...


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