E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Reihe: Reihe Hanser
Wegmann Die besten Freunde der Welt
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-423-41444-9
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Fritz und Ben
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Reihe: Reihe Hanser
ISBN: 978-3-423-41444-9
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ute Wegmann studierte Romanistik und Germanistik in Köln und arbeitet als Autorin, Moderatorin, Literaturkritikerin und als freie Redakteurin für den Deutschlandfunk.
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Warten finde ich doof
Sieben.
Acht.
Neun.
Ich sitze auf der Treppe vor dem Haus und zähle silberne Autos. Damit ich mich nicht langweile.
Silber ist gerade irgendwie modern. Ich wundere mich, wie viele vorbeifahren.
Ich warte auf Ben. Warten find ich doof.
Wir wollen zum Tennis. Ben kann gar kein Tennis, aber ich hab versprochen, es ihm beizubringen. Schließlich ist er mein bester Freund. Der beste Freund von Fritz. Und Fritz, das bin ich.
Fritz klingt klug, sagt meine Oma.
Kurz und knackig, sagt meine Mutter.
Wie Brause mit Zitronengeschmack, sagt Opa.
Der alte Fritz, das ist eine historische Person, sagt mein Vater.
Fritzi Flitzi mit dem kleinen Pitzi, ruft meine blöde Cousine Pia.
Die wird sich noch wundern.
Alles braucht seine Zeit! Ich mag Opas Lieblingsspruch.
Zeit klingt wie ein Zauberwort.
Zeit hab ich nie. Bin immer unterwegs. Meistens schnell. Am schnellsten mit meinem Roller. Deshalb hab ich den Spitznamen Flitz. Klingt wie Fritz auf Chinesisch.
Die Chinesen können kein R sprechen, sagt Ben. Er weiß solche Sachen.
Er kennt fast alle Länder der Erde, die Sprachen, die Flaggen, die Tiere, die dort leben. Das interessiert ihn.
Schon wieder ein silbernes Auto.
»Mensch, Ben!«, rufe ich zur geschlossenen Tür und schaue auf meine Uhr: Es ist Viertel vor drei.
In Vorgärten auf Treppen rumsitzen macht mich nervös. Besonders wenn mich Zwerge beobachten. Ich sehe vier zwischen den Blumen, und einer versteckt sich unter dem Baum.
Jetzt warte ich schon fünfzehn Minuten auf meinen Freund.
Meine Füße trampeln von einer Stufe auf die andere, rauf und runter. Von ganz alleine.
Ich gähne. Seit halb acht bin ich wach. Enorm viele Stunden.
Jeden Tag das gleiche Frühaufstehen. Anstrengend. Besonders für meine Mutter. Meinem Vater macht das nichts aus. Egal, wann der aufsteht, der ist immer gut gelaunt.
Warum kann die Schule nicht um zehn Uhr anfangen? Das fragen wir uns jeden Tag, meine Mutter und ich. Denn jeden Morgen weckt sie mich mit dem gleichen Ich-will-lieber-wieder-ins-Bett-Gesicht.
In der Küche bestelle ich mir mein Frühstück. Extra höflich, damit es klingt wie im Café: »Eine Tasse Kakao, bitte!«
Wenn meine Mutter ausgeschlafen ist, spielt sie mit und bedient mich wie eine nette Kellnerin, die Kinder mag. Essen kann ich nach dem Wachwerden nichts. Mein Magen schläft um diese Uhrzeit noch. Wie meine Mutter. Wir reden deshalb morgens nicht so viel. Nur das Wichtigste.
»Morning!«
»Morning!«
Ich puste in die dampfende Tasse.
Sie schmiert Butter auf eine Brotscheibe.
»Cheese or salami?«
»Schmierkäse!«, antworte ich.
Sie verdreht die Augen und geht zum Kühlschrank.
Auch noch Extrawürste, denkt sie.
Ich weiß, was sie denkt. Manchmal rutscht ihr das nämlich raus.
Manchmal fehlen ihr auch Wörter, denn sie kommt aus einem anderen Land. Sie lebt nicht so lange in Deutschland wie die Mütter meiner Freunde. Die sind alle schon immer hier.
Mum, das sagen englische Kinder zu ihren Müttern, wurde in England geboren. Vor 29 Jahren. Sie hat nur Englisch gesprochen, Englisch gehört, Englisch gelesen, Englisch gegessen, Englisch geträumt… bis sie meinen Dad kennenlernte.
ZOSCH! erwischte sie ein Liebespfeil.
Zosch, ein Auto zischt vorbei. Elf silberne sind bisjetzt meine Ausbeute, aber das vorbeigezoschte war diesmal gelb. Wie meine Tennisbälle. Ob wir heute noch zum Tennisplatz kommen?
Vor Langeweile fange ich an zu jonglieren. Mit drei Bällen, das ist einfach. Ich nehme den vierten dazu.
Ben, was machst du bloß?, denke ich und spüre, wie ich vor Müdigkeit kaum die Bälle auffangen kann.
Ich denke an meinen langen Schultag. Der Schulweg ist das Beste. Manchmal holt Ben mich ab, oft geh ich allein.
Gleich neben unserem Haus gibt es eine Bäckerei. Durch die Seitenfenster kann ich in die Backstube gucken. Bäcker Zimmermann arbeitet in einem weißen T-Shirt und blau-weiß karierter Hose. Sogar sein Gesicht und seine Hände sind weiß von all dem Mehl.
Wenn er mich sieht, winkt er mich herein und schenkt mir ein warmes Schokocroissant. Ich halte es unter meine Nase. Oh, herrlicher Schokoladenduft. Jedes Mal überwältigt mich ganz plötzlich ein riesengroßer Hunger. Der taucht so schnell auf wie eine Wespe beim Limotrinken. Kaum zurück auf dem Bürgersteig muss ich sofort in das Croissant beißen. Die warme Schokolade läuft dickflüssig über meine Zunge und an meinem Gaumen vorbei. Lecker! Ich bleibe stehen und schließe die Augen. So kann ich den Geschmack richtig genießen.
Auf der anderen Straßenseite hat der Gemüsehändler schon seine Regale aufgebaut. Er steht bestimmt noch früher auf als ich. Meine Mum sagt, er fährt morgens zum Großmarkt, um das beste Obst einzukaufen.
Ich glaube, der mag mich auch.
»Günaydin, Fritz, schöner Arbeitstag«, ruft er mir jeden Morgen zu, und dann wirft er mir einen Apfel oder eine Apfelsine quer über die Straße bis auf meine Seite. Der kann super werfen. Er sagt, er hat früher Handball im Wasser gespielt. Das nennt man dann wohl Wasserball. Als er ein Junge war, wohnte er am Schwarzen Meer und konnte das jeden Tag üben.
»Danke, Herr Özgul«, rufe ich ihm zu. »An apple a day keeps the doctor away.« Das ist so ein Spruch von meiner Mum.
»Jawoll!«, sagt er lachend. »Çok bulu?!«
Keine Ahnung, was das bedeutet. Ich verstehe kein Türkisch, und er versteht kein Englisch. Wir lachen uns an. Ich winke ihm und gehe zur Schule.
So ist das jeden Tag.
Warum beeilt Ben sich nicht?, denke ich und stoße mit dem Fuß ganz leicht gegen den Zwerg an der Schubkarre. Der Doofi-Zwerg steht zwischen den Blumen, bewegt sich keinen Millimeter und glotzt. Ich glotze zurück.
Eigentlich wünsche ich mir mehr Zeit für Ben. Aber ich bin immer ausgebucht. Meine Woche ist rappelvoll. Von Montag bis Sonntag ist bei mir ganz schön was los. Jeden Tag Schule. Jeden Tag Termine. Termine nach den Terminen. Termine vor den Terminen.
Willst du Manager werden?, hat Oma mich gefragt.
Ich werde Man in Black, Oma!, habe ich geantwortet.
Schon wieder weg?, lachte sie daraufhin und drückte mir die Hand zum Abschied. Ich wollte noch gar nicht gehen.
Sie hört wirklich nicht gut.
Mein Opa sagt, meine Oma ist eine taube Nuss, aber er hört noch die Flöhe husten. Dabei lacht er. Er meint das nicht böse.
Ich kann supergut hören. Wie Opa. Aber ich höre immer noch keinen Ben.
Ich sitze schon gefühlte drei Stunden auf der Treppe.
Doofe Autos. Doofes Zählen. Doofes Warten.
Der freie Nachmittag kriecht in die Ritzen zwischen den Pflastersteinen. Ich starre auf den Boden und glaube, dass ich das Gras wachsen sehe.
Ben will doch unbedingt Tennis lernen. Das ist ein Geheimnis. Das ist der Grund für unsere Verabredung.
Ich drehe mich um. Die Tür bleibt zu.
Die Zwerge glotzen.
Die Zeit in meinem Kopf steht fast still und dabei rast sie. Wie kann das sein? Das macht mich alles voll nervös. Meine Füße trampeln von selber auf und nieder. Ich stehe auf und setze mich auf die Mauer. Jetzt schaukeln meine Beine. Hin und her und hin und her.
Ich weiß, dass so ein Nachmittag nicht ewig dauert. Ben muss nämlich immer früh nach Hause. Und– ein freier Nachmittag in meinem Leben ist eine Ausnahme. Heute ist zum Beispiel Mittwoch, und Mittwoch bedeutet Fußballtraining. Und ich habe nur frei, weil mein Trainer Schnupfen und Husten und Fieber hat.
Meine freie Zeit verbringe ich mit Ben. Der sich übrigens jeden Tag mit mir verabreden könnte. Ein Freund, der immer Zeit hat, das ist toll. Der Grund dafür ist nicht toll.
Die Haustür quietscht. Ich fasse es nicht: Da steht er. Endlich!
Ich springe auf vor Freude, aber Ben sieht aus wie schlechte Laune.
»Hi!«, sagt er sehr knapp.
In der Tür erscheint seine Mutter und winkt uns mit einem lauten »Tschööö, Kinder« und dem Überlebenstipp: »Geht nicht so weit weg, und Ben, pass auf, wenn du auf das Klettergerüst steigst und…«
Wir winken zurück und machen dabei viele kleine Schritte, damit sie nicht merkt, wie schnell wir wegwollen. Die Stimme von Bens Mutter wird immer leiser, und der Wind zerfetzt die Sätze und verschluckt die Wörter. Ich denke an Zuckerwatte. Die habe ich auf der Kirmes gegessen. Die löst sich mit Spucke zusammen im Mund auf. Wie Silkes Wörter im Wind.
Als wir nichts mehr hören und die Mutter nur noch ein Rote-Bluse-Punkt im Vorgarten ist, sagt Ben: »Meine Mutter nervt! Ich musste unbedingt ihren neuen Schokokuchen probieren.«
Bei dem Schokokuchenwort läuft mir das Wasser im Mund zusammen und ich denke: Hm, lecker.
»An einem stinknormalen Mittwoch?«, frage ich.
Mein bester Freund nickt. Ich kann es nicht glauben und beneide ihn ein bisschen.
Wie schön, dass deine Mutter immer da ist und Kuchen backt, will ich sagen. Aber dann fällt mir ein, dass das gar nicht schön ist, denn Bens Mutter schwirrt um ihn herum wie eine Fliege um einen frischen, warmen Vanillepudding.
»Wo sind deine Turnschuhe?«, frage ich stattdessen.
Er schaut mich an. »Turnschuhe? Ich hab keine.«
Na, das kann ja lustig werden. Einen zweiten Schläger habe ich eingepackt, und die Bälle schleppe ich sowieso meistens mit. Aber jetzt müssen wir auch noch Sportklamotten in seiner Größe finden. So ist das mit Ben, bei praktischen...