E-Book, Deutsch, 220 Seiten
Woelk Nacht ohne Engel
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-423-43179-8
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 220 Seiten
ISBN: 978-3-423-43179-8
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ulrich Woelk, 1960 geboren, in Köln aufgewachsen, studierte in Tübingen Physik und promovierte 1991 an der TU Berlin, wo er bis 1994 als Astrophysiker tätig war. Literarische Arbeiten seit den 1980er Jahren; »Aspekte«-Literaturpreis für das Debüt >Freigang< (1990). Seither erschienen Romane, Erzählungen, Theaterstücke. Der Roman >Die letzte Vorstellung< wurde mit Heino Ferch und Nadja Uhl für das ZDF verfilmt (>Mord am Meer<). Ulrich Woelk lebt in Berlin.
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EINS
EIGENTLICH WÜRDE VINCENT bei einer Fahrt vom südlichen Stadtrand in die Innenstadt mehr verdienen, aber er mag das alte Tegeler Terminal mit seiner Siebzigerjahre-Architektur und den Schleiern aus verwaschenem Grau auf dem Beton. Das Aufheulen der Triebwerke einer startenden Maschine dringt gedämpft ins Wageninnere, als er an den nummerierten Eingängen zu den Gates vorbeifährt. Ursprünglich sollte der Flugbetrieb hier schon eingestellt sein, aber die Fertigstellung des neuen Berliner Flughafens in Schönefeld zieht sich aufgrund von Problemen, von denen es immer wieder heißt, man habe sie im Griff, seit Jahren hin. Offenbar ist es doch nicht so leicht, das Alte so mir nichts, dir nichts durch etwas Neues zu ersetzen. Zugegebenermaßen, auch wenn ihn das manchmal nachdenklich stimmt, weil er befürchtet, es könnte mit seinem eigenen Alter zusammenhängen – er wird in ein paar Monaten fünfzig –, freut ihn das in diesem Fall.
Vincent lässt den Wagen am Taxistand an den Bordstein rollen und schaltet den Motor ab. Es ist acht Uhr morgens, seine übliche Zeit. Die Zahl der Reisenden, die aus dem Hauptgebäude kommen, schwankt im Rhythmus der landenden Maschinen. Als er einen Blick auf den nächstgelegenen Ausgang wirft, verlässt dort eine Frau das Gebäude. Ihre Augen brauchen ein paar Momente, um sich an die Helligkeit im Freien zu gewöhnen. In der kühlen und klaren Märzluft sind alle Farben sehr satt. Die Frau muss sich kurz orientieren, dann überquert sie die Straße und geht auf den Stand mit den wartenden Taxis zu. Dort verteilen sich die Ankommenden auf die Wagen, oder sie gehen weiter zu den privaten Parkplätzen im Zentrum des Terminals.
Mit den Jahren entwickelt man ein Gespür dafür, ob jemand ein Fahrgast ist oder nicht, und schließlich weiß Vincent, dass die Frau, die auf seinen Wagen zukommt, bei ihm einsteigen wird, da die Reihe nun an ihm ist. Er öffnet die Tür und steigt aus, um den Kofferraum zu öffnen. Die Sonne schwebt knapp über dem Beton des Hauptgebäudes. Ihre Strahlen hinterlassen auf der Haut, der Stirn und den Händen den Eindruck einer ersten leichten Wärme, eine Spur von Frühling.
Die Frau ist schlank und trägt eine sandfarbene, sehr gut geschnittene Wolljacke mit großem Kragen und großen marmorierten Knöpfen. Sie ist beruflich in Berlin, das weiß Vincent sofort. Sie zieht einen kleinen Trolley hinter sich her, und neben ihrer Handtasche hängt eine schmale schwarze Tasche im Format eines Netbooks von ihrer Schulter. Als sie ein paar Meter entfernt ist, nickt sie ihm zu.
Er erwidert den Gruß und nimmt ihren Koffer entgegen. Aus der Nähe sieht er noch einmal deutlich, dass sie stilsicher gekleidet ist – eine Geschäftsreisende. Ihr dunkelblauer, gerade geschnittener Rock reicht über die Knie bis zum Schaft ihrer Stiefel. Der Trolley ist leicht, Gepäck für eine Nacht, schätzt Vincent. Er hebt den Koffer in den Wagen und schließt die Heckklappe. Die Frau ist schon eingestiegen, hinten rechts, wie nahezu alle einzelnen Fahrgäste.
Vincent zieht die Wagentür zu und sieht in den Rückspiegel. Die Frau nennt ihm die Adresse, ein gehobenes Hotel in der Nähe des Bahnhofs Friedrichstraße. Das ist eine passable Fahrt. Wie alle Taxifahrer hat Vincent es nach einer Stunde Wartezeit schon erlebt, dass Kunden nicht weiter als zwei oder drei Kilometer gefahren werden wollen. Eine Fahrt wegen zu geringer Länge abzulehnen widerspricht den Statuten der Taxiinnung, und auch wenn es manchmal ärgerlich ist, hat er sich bisher immer daran gehalten.
Er reiht sich in den Verkehr auf dem Innenring ein. Dabei fällt sein Blick im Rückspiegel noch einmal auf das Gesicht der Frau. Er betrachtet sie etwas länger als üblich. Sie ist in Gedanken, sie bekommt nicht mit, dass er sie ansieht. Er schätzt ihr Alter auf Mitte vierzig, ein wenig jünger als er, wenn auch unerheblich. Ihr Lippenstift ist dezent, fast die natürliche Lippenfarbe. Sie ist leicht geschminkt, sie bewegt sich nicht, und für einen Moment wirkt sie im Rückspiegel wie eine Werbefotografie für ein edles kosmetisches Produkt.
Sie sieht aus dem Seitenfenster. Die Dinge ziehen an ihr vorüber, ohne ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Vincent hat Erfahrung darin einzuschätzen, ob seine Fahrgäste in der Stimmung für eine Unterhaltung sind oder eher den Wunsch haben, in Ruhe gelassen zu werden. Die Frau in seinem Wagen ist mit ihren Gedanken bei dem, was vor ihr liegt, was auch immer das sein mag: eine Konferenz, ein Meeting, eine Präsentation. Ihre Augenbrauen sind etwas dunkler als ihre Haare, die, das nimmt er an, gefärbt oder zumindest getönt sind. Ihre Augenfarbe kann er von der Seite nicht erkennen, aber auf einmal denkt er, dass sie braun sind, ein mittleres Braun, das Braun von Laub – und dann wird ihm etwas bewusst: Er glaubt, diese Frau zu kennen.
Er weiß nicht, woher dieser Eindruck stammt. Tag für Tag sitzen Menschen in seinem Wagen, die er nicht kennt. Manche Fahrgäste sehen einem Freund oder Bekannten ähnlich, es gibt verblüffende Übereinstimmungen sowohl im Aussehen als auch im Verhalten bis hin zu einzelnen Gesten. Aber ebenso gibt es immer auch Unterschiede, Individuelles, das den Einzelnen von allen anderen unterscheidet.
Das Gefühl, einen Fahrgast zu kennen, ihm in irgendeinem Zusammenhang schon einmal begegnet zu sein, wie er es jetzt hat, ist neu und ungewohnt. Er weiß nicht, ob er diesem Eindruck, den er nicht recht einschätzen kann, nachgehen soll. Dazu müsste er die Frau genauer ansehen, sich zum Beispiel an einer Ampel zu ihr umdrehen, was man üblicherweise nicht tut. Oder vielleicht wäre es bei einer Unterhaltung möglich herauszufinden, ob sie sich tatsächlich schon einmal begegnet sind oder ob sie ihn nur an jemanden erinnert und an wen.
Er steuert den Wagen vom Flughafengelände auf die Brücke hinter dem Rollbahntunnel, biegt an der folgenden Ampel links ab und fährt an der schnurgeraden ruhigen Wasserstraße des Spandauer Kanals entlang. Die Wasseroberfläche war vor etwas mehr als einem Monat noch gefroren und bedeckt mit silbergrauen Eisschollen, deren Bruchkanten sich wie Schuppen übereinanderschoben.
»Vor zwei Tagen ist noch Schnee gefallen«, sagt er.
»Ach ja?«
Sie wendet ihm das Gesicht zu, sodass er sie im Rückspiegel aus einer neuen Perspektive sieht. Ihre Augenfarbe ist wirklich so, wie er sie sich vorgestellt hat, ein mittleres warmes Braun. Das Gefühl, ihr schon einmal begegnet zu sein, intensiviert sich, aber er weiß immer noch nicht, wo und in welchem Zusammenhang das gewesen sein könnte.
»Das ist hier um diese Jahreszeit oft so. Es ist Winter, und dann, über Nacht, wird es warm.«
»Bei uns war der Winter nicht sehr lang«, sagt sie.
»Woher kommen Sie?«
»Aus München.«
Er glaubt nicht, dass er sie daher kennt. Er ist zu selten dort gewesen, drei- oder viermal vielleicht. Eigentlich kennt er nur Berlin. Und die Freunde, die er in München besucht hat, passen nicht zu der Frau in seinem Wagen. Doch das könnte täuschen, wer passt heute schon zu wem?
Den wenigen Worten nach, die sie bisher gewechselt haben, spricht sie Hochdeutsch ohne Einfärbung durch einen Dialekt. … Er fragt sich, ob er ihre Stimme schon einmal gehört hat. Im Gegensatz zum Aussehen, verändern sich Stimmen im Laufe von Jahren nur wenig. Es kann sein, dass er ihre Stimme kennt, aber er ist sich nicht sicher. Das Wort Winter irritiert ihn oder löst irgendetwas in ihm aus, das er aber noch nicht greifen kann.
Am Ende des Saatwinkler Damms hat sich vor der Brücke über die Autobahn eine Schlange gebildet. Das ist um diese Zeit immer so. Die Sonne scheint von vorne in den Wagen. Sie steht so niedrig über dem glänzenden Horizont aus Autodächern, dass er die Frontblende herunterklappen muss. Nach dem Winter ist die Märzhelligkeit jedes Mal eine Überraschung.
»München kenne ich nicht«, sagt er.
»Mir ist wichtig, dass Sie Berlin kennen«, sagt sie.
Aber sie lächelt dabei.
»Berlin ist zu groß, um jeden Winkel zu kennen.«
»Sie denken, in München geht das?«
»Leben Sie dort?«, fragt er.
»Haben Sie Angst, etwas Falsches zu sagen?«
»Könnte ja sein.«
»Ich käme damit klar.«
»Sind Sie häufig hier?«
»Ab und an. Eher selten.«
»Die Stadt verändert sich schnell«, sagt er.
Sie nickt und schweigt dann. Ihm fällt nichts ein, was er hinzufügen könnte. Er will sich nicht aufdrängen, das tut er nie. Er langweilt sich nicht beim Fahren, irgendetwas geht ihm immer durch den Kopf. Manchmal reicht es ihm, beim Warten nach rechts oder links zu sehen. Dann fällt ihm eine ungewöhnlich dicke schwarze Brille in einem zu kleinen hellen Gesicht auf oder eine auf dem Steuerrad liegende Hand mit qualmender Zigarette und einer verblüffenden Last von goldenen Ringen oder ein stummes Figürchen, das als Glücksbringer oder Talisman am Rückspiegel baumelt.
Bei manchen katholischen Taxifahrern sind ihm kleine silberne Plaketten als Spiegel- oder Schlüsselanhänger aufgefallen. Darauf abgebildet war ein alter, zumeist gebeugter Mann, der einen lockigen Knaben auf den Schultern trug. Der Mann, Christophorus, ist für Katholiken, so hat er sich erklären lassen, ein Heiliger – der Schutzheilige der Reisenden. Er hat es sich angehört, aber er glaubt nicht an Heilige oder Schutzengel. Er ist nicht katholisch. Er hat einmal einen Unfall gehabt, doch das war vor seiner Zeit als Taxifahrer und ist mehr als zwanzig Jahre her. Und er glaubt, dass er diesen Unfall auch gehabt hätte,...