Wustmann | Nichts daran ist witzig | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 247 Seiten

Wustmann Nichts daran ist witzig

Kurzgeschichten
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-96202-631-8
Verlag: Sujet
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Kurzgeschichten

E-Book, Deutsch, 247 Seiten

ISBN: 978-3-96202-631-8
Verlag: Sujet
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein Beamter will überprüfen, ob ein Mensch existiert – und hat Formulare mit fataler Wirkung im Gepäck. Ein Witwer erhält Besuch von seinem toten Vormieter. Ein Hypochonder findet ein Mittel für die ewige Gesundheit – allerdings hat die Sache einen fiesen Haken. Ein kleines Mädchen hat einen neuen imaginären Freund … mit mörderischen Absichten. Ein Mann hört wieder und wieder ein mysteriöses Klopfen, das ihn langsam in den Wahnsinn treibt. Und ein Mordermittler verläuft sich mitten hinein in ein furchtbar schlechtes Krimidrehbuch.

Zehn Geschichten voll tiefschwarzem Humor, bevölkert von Verzweifelten, Verlierern und anderen Gespenstern. In seiner ersten Storysammlung bedient sich Gerrit Wustmann bei sämtlichen Genres und kehrt das Innerste nach außen. Die perfekte Lektüre für lange dunkle Herbstabende. Oder für all jene, die an stillgelegten Strecken auf den Zug warten.

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Zielgruppe


Erwachsene


Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


Herr Gräber kommt zu Besuch
Alles neu!
Was du gibst, was du nimmst
Sei mein Gast
Apartment 217
Morgenumdiesezeit: Eine Geistergeschichte
Alptraum in grell-grau
Bau dir über Nacht ein Haus, am Morgen brenn es nieder
Falsche Fährten
Nichts daran ist witzig!


Herr Gräber kommt zu Besuch
„Sie existieren nicht“, sagte der unscheinbare Mann, als er sich an meinem Küchentisch niederließ. Und: „Darüber müssen wir sprechen.“
Er reichte mir gerade bis zur Brust und trug einen grauen, nicht allzu gut sitzenden Anzug. Das gestreifte Hemd spannte über seinem Bauch, keine Krawatte. Graue Haare über einem grauen Gesicht. Kleine Augen, Tränensäcke, randlose Brille, die ihm so auf der Nasenspitze saß, dass er stets über sie hinweg blickte. Und zwar blickte er in meine Richtung, aber irgendwie unfokussiert. Als würde er durch mich hindurchsehen. Ich hatte mal von einem Trick gelesen, mit dem man sein Gegenüber angeblich nervös machen kann: Indem man ihm oder ihr nicht direkt in die Augen sieht, sondern immer auf einen Punkt knapp über den Augenbrauen. Das war es wohl, was er tat. Gelangweilt sah er aus, gewann aber im Laufe des Vormittags in meiner Küche an Konzentration. Er spielte Routine vor, während ich merkte, wie sonderbar die Situation auf ihn wirken musste. Als hätte er einen dicken Fang gemacht und glaubte selbst noch nicht so richtig dran. Aber am besten erzähle ich von Anfang an, sonst könnte das alles für dich noch viel verwirrender sein als für mich.  Es war Donnerstag. Mein freier Tag. Genau genommen habe ich jeden Donnerstag und Freitag frei. Von Montag bis Mittwoch arbeite ich jeweils von acht bis vier im Lager eines Möbelhauses, dessen Name nicht weiter wichtig ist. Dort trage ich verstärkte Schuhe, die mein Arbeitgeber stellt, denn wenn mir etwas Schweres auf die Füße krachen sollte, würde das sonst teuer für ihn. Ich glaube, die drohenden Kosten einer Arbeitsschutzklage sind ihm wichtiger als meine Gesundheit, aber das ist ok. Bislang ist ohnehin noch nie etwas passiert. Ich habe nicht viel mit dem Chef zu tun. Er gibt die Anweisungen und weiß, dass er sich auf mich verlassen kann. Im Gegenzug landet jeden Monat pünktlich das Gehalt auf meinem Konto, und es ist genug, um mir alles leisten zu können, was ich brauche. Das ist nicht viel, und genau deshalb habe ich heute Besuch bekommen. Dazu später mehr. An diesem Novemberdonnerstag ist der Himmel grau und es sieht nach Regen aus. Trotzdem wird es nicht regnen, das kann man an der Luft wahrnehmen. Vielleicht morgen, vielleicht gar nicht. Ich mag diese trüben freien Tage, die kühl sind, nicht kalt, gewissermaßen ein unspezifisches Wetter, das die meisten Menschen wohl als schlecht kategorisieren würden, ich hingegen als gut.  Gegen neun Uhr stehe ich auf, trinke einen Kaffee und lese am Küchentisch ein paar Seiten in einem Roman. Meistens lese ich auf meinem Lesesessel im Wohnzimmer, aber den Kaffee trinke ich lieber in der Küche.  Später will ich einen Spaziergang machen und unterwegs das Buch, das ich gestern ausgelesen habe, in den offenen Bücherschrank im Eingangsbereich des Supermarkts um die Ecke stellen. Jeden Samstag findet sich dort gegen elf Uhr eine Runde aus vier alten Damen ein, die blätternd und schnatternd durch die neu hinzugekommenen Bücher stöbern, eine Auswahl unter die Arme klemmen und dann  ein Teilchen oder ein Stück Kuchen essen, das sie bei dem zum Supermarkt gehörenden Bäcker kaufen. Sie haben schon mehrmals Bücher mitgenommen, die ich nur für sie dort hinterlassen habe, und es freut mich, wenn ich ihnen eine Freude machen kann.  Danach einen Schlenker in den Wald. Der ist bei solchem Wetter menschenleer. Man kann die Ruhe genießen, die Stimmen der Vögel, das leise Rauschen des Baches, in dem ich ab und zu einen Frosch entdecke. Einmal sogar einen Aal. Das war letzten Sommer. Ich hatte die Schuhe ausgezogen, watete durch eine flache Stelle in einer Biegung, hinter der der Bach wieder schneller fließt, und sah ein Schimmern, etwas Längliches, das sich nicht bewegte. Ich ging näher, ging in die Hocke. Beobachtete. Nach einigen Sekunden zuckte der Aal und schwamm rasch davon. Er hat mich gesehen, dachte ich, und mich als Gefahr wahrgenommen. Ich bin nicht gefährlich, aber woher sollte der Aal das wissen? Die freien Tage verbringe ich meistens so. Aber heute, heute wurde daraus nichts. Denn gegen elf (laut der Uhr, die in der Küche neben dem Kühlschrank hängt) klingelte es erst an der Tür, und als ich nicht sofort reagierte, klopfte es. Nicht zu fest, aber bestimmt. Es war die Art Klopfen, die eine gewisse Wichtigkeit intonierte, sich aber hütete, bedrohlich zu klingen.  Es klingelt selten bei mir. Dasselbe gilt fürs Klopfen. Und wenn es mal passiert, dann ist es meist ein Paketbote, der mir etwas aufs Auge drückt, das die Nachbarn im Internet bestellt haben. Die Nachbarn bestellen ziemlich viel im Internet.  Ich stelle die halbleere Kaffeetasse, die ich gerade in der Hand habe, auf die Tischplatte, stecke das Lesezeichen zwischen die Seiten 36 und 37, lege das Buch neben die Tasse und gehe zur Tür. Sie hat keinen Spion, also sehe ich nicht, wer es ist, aber die Zeit (wie gesagt, elf Uhr) passt zur Tour der Paketboten. Also öffne ich. Und sehe diesen kleinen grauen Mann dort stehen, eine braune Aktentasche aus rissigem Leder in der linken Hand.  „Hallo“, sagt er. „Hallo“, sage ich.  Er räuspert sich und blickt in den Wohnungsflur statt in mein Gesicht, was man wohl unhöflich finden könnte.  „Bitte entschuldigen Sie die Störung. Haben Sie ein paar Minuten Zeit?“ „Ich...“, sage ich. „Oh“, sagt er, „Verzeihung. Natürlich. Mein Name ist Gräber. Ich komme vom Bürgeramt. Ich habe ein paar Fragen an Sie. Es ist wichtig, dauert nicht lange.“ Er zückt einen Ausweis aus der Innentasche seines Jacketts, auf dem ich das Stadtwappen erkenne, daneben sein Foto und ein paar weitere Angaben. Das sieht offiziell aus, könnte aber auch etwas Selbstgebasteltes sein. Ich habe sonst nie mit Behörden zu tun, daher wäre ich kaum in der Lage, den Unterschied zu erkennen. Aber weil Herr Gräber seriös wirkt und so, wie ich mir jemanden von einem Amt vorstelle und weil es im Fall der Fälle eh nichts bei mir zu holen gibt, bitte ich ihn herein und führe ihn in die Küche. Mir entgeht nicht, dass er auf dem kurzen Weg dorthin Seitenblicke ins Wohnzimmer und ins Badezimmer wirft.   „Bitte“, sage ich und ziehe den zweiten der zwei Stühle unter dem Tisch hervor. Er setzt sich. Er sagt: „Sie existieren nicht. Darüber müssen wir sprechen.“ So, da wären wir also.  Weil ich glaube, er macht einen Scherz, eine Art Beamtenhumor, der sich mir nicht erschließt, lache ich kurz. Aus Höflichkeit. Dann setze ich mich, stehe aber sofort wieder auf und frage: „Kaffee?“ „Sehr gern!“, sagt Herr Gräber. „Mit Zucker, bitte.“ „Das tut mir leid. Ich habe weder Zucker noch Milch, auch keinen Süßstoff. Trotzdem?“ Er sieht aus, als hätte er diese Antwort vorhergesehen. Er nickt.  „Danke“, sagt er, als ich ihm die Tasse hinstelle, aus der es dampft.  „Also, wie kann ich Ihnen helfen, Herr Gräber?“ Er pustet ein paar Mal auf den Kaffee, dann trinkt er schlürfend einen Schluck. „Gut, sehr gut“, sagt er, stellt seine Tasse ab, sagt: „Wie ich sagte. Ich habe den Eindruck, dass Sie nicht existieren. In so einem Fall muss das Bürgeramt prüfen, ob ein Bürger, dem Anfangsverdacht zufolge, tatsächlich nicht existiert, oder ob unsererseits ein Irrtum vorliegt. Das passiert manchmal.“ „Aha“, sage ich. Und glaube inzwischen, dass er nicht scherzt, sondern, dass das bloß Beamtenkauderwelsch ist. So wie Beamte nicht Party sagen, sondern Tanzlustbarkeit. Oder lebende Einfriedung statt Hecke. Ich habe darüber mal ein Buch gelesen, dessen Autor vorrechnete, wie viele Beamtengehälter man einsparen könnte, wenn man all jene feuern würde, die nichts zu tun haben und deshalb ihr ganzes Leben damit verbringen, unsinnige Formulare und eine ganz eigene, nur Beamten zugängliche Sprache zu erfinden.  Ein Bürger, der nicht existiert, ist einer, mutmaße ich, dessen Personalausweis abgelaufen ist. Sowas könnte mir passieren, weil ich mir keine Gedanken über derlei Dinge mache. Oder einer, zu dem einige dieser unsinnigen, qua Amtsordnung aber unabdingbar vorhanden sein müssenden Formulare fehlen.  Ich nehme es mit Humor.  „Wie kommen Sie auf sowas?“, frage ich. „Ich sitze doch hier.“ Herr Gräber schielt wieder ungefähr auf meine rechte Augenbraue, und ich finde diese Taktik fies. Ist er der good cop und sein Blick der bad cop?  „Das wird sich zeigen müssen“, sagt Herr Gräber kryptisch. Er hievt seine Aktentasche auf den Tisch, klackt die Schnalle auf, zieht einige Papiere hervor und fächert sie vor sich. Er studiert sie über seine Brille hinweg. Aus seiner Nasenspitze wächst ein einzelnes Haar, das nur zu sehen ist, wenn er den Kopf so neigt, wie jetzt. Ich nehme mir vor, ihm nicht mehr in die kleinen Augen, sondern nur noch auf dieses Haar zu blicken. Auch dann, wenn er den Kopf wieder hebt und ich es nicht mehr sehen kann, weiß ich ja, dass es da ist. Dass es existiert, wie er wohl feststellen würde.  „Seit wann wohnen Sie hier?“ „Seit fast zwanzig Jahren“, sage ich wahrheitsgemäß.  „Und vorher?“ „Auf der anderen Straßenseite.“ Er guckt wie ein Fragezeichen. „Ich mag es hier“, sage ich. „Die Wohnung hier liegt lichttechnisch etwas besser als die drüben, deshalb bin ich umgezogen.“ „Ah“, sagt er, hakt etwas ab, fragt: „Nette Nachbarn?“ „Keine Ahnung“, sage ich. „Ich sehe sie nicht oft. Bin lieber für mich.“ „Soso“, sagt Herr Gräber und macht eine Notiz. „Und Sie arbeiten bei Möbel...“ „Ja. Im Lager...


Gerrit Wustmann, geboren 1982 in Köln, ist freier Schriftsteller und Journalist. Er schreibt u. a. für Qantara (Deutsche Welle) und 54books über Weltliteratur, seine Beiträge erscheinen außerdem bei WDR, taz, Heise online, Der Freitag und weiteren Medien.
Er hat bislang zehn Bücher veröffentlicht, darunter eine deutsch-türkische Lyrik-Trilogie über Istanbul, die auch in der Türkei erschienen ist. Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, darunter Arabisch, Persisch, Türkisch, Griechisch und Italienisch. Für seine literarische Arbeit erhielt er mehrere Stipendien, außerdem den postpoetry.NRW Lyrikpreis 2012 und den Förderpreis für junge Künstler*innen des Landes NRW 2015.



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