Ahne | Wie ich einmal lebte | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 270 Seiten

Ahne Wie ich einmal lebte


1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-86391-383-0
Verlag: Verlag Voland & Quist
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection

E-Book, Deutsch, 270 Seiten

ISBN: 978-3-86391-383-0
Verlag: Verlag Voland & Quist
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Dass Ahne noch lebt, ist gut. Sonst gäbe es dieses Buch nicht. Dass er noch lebt, ist nicht selbstverständlich. Und das Leben an sich auch nicht. Schließlich lebt er fast von Geburt an in zwei Welten gleichzeitig. In Ostberlin und auf einem Kontinent, der nach ihm benannt ist, weil er ihn entdeckt hat. Sein Vater verlässt die Familie, und Ahne fühlt sich plötzlich wie ein Erwachsener. Dabei will sich sein Körper so gar nicht entwickeln. Als er den Höhepunkt seiner geistigen Leistungsfähigkeit erreicht, ist Ahne 14 Jahre alt, schwul und fürs Leben untauglich. Glaubt er jedenfalls. Aber es geht doch irgendwie weiter. Mit Lehre und Armeezeit, Punk und Pogo, Skiflug-WM und der Abschaffung des Kapitalismus. Und das mit der Liebe könnte man ja auch noch wagen. Zum Sterben ist es nämlich nie zu spät.
Nun hat Ahne das alles auch noch aufgeschrieben, lückenlos und unverfälscht, fast jedenfalls, und wundert sich, dass er es bis heute geschafft hat.
Ein autobiografischer Roman über das Aufwachsen in der DDR, die Kraft imaginärer Gegenwelten und das holprige Dasein, das schon auch ein bisschen Spaß macht.

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1
Es soll Eintopf gegeben haben
Am 5. Februar 1968 wurde ich in einem Krankenhaus in Berlin-Buch geboren. Meine Mutti war eine Frau und mein Vati ein Mann. Sie hießen Seidel, wie die Bierkrüge in Bayern. Zuerst hieß nur mein Vati Seidel, weil seine Eltern Seidel hießen, dann nannte sich auch meine Mutti so. Das war kein Zufall. Sie hatten geheiratet, in einem hübsch restaurierten Rathaus, in Wernigerode im Harz. Es soll Eintopf gegeben haben nach der Hochzeit. Ich war ein spätes Kind. Ich wollte nicht so richtig herauskommen. Ich wartete wohl auf irgendetwas. Meine Mutti war mit ihren Nerven am Ende. Das macht einen sicher fertig, wenn man in einem Krankenhaus liegt, ein Kind gebären will, von dem man sogar schon weiß, es wird ein Junge, und dann kommt der blöde Kerl einfach nicht. Draußen scheint die Sonne, der Prager Frühling steht vor der Tür, und es will und will nicht klappen. Die Ärzte bereiteten sich schon vor, einzugreifen, Zangengeburt, da kam ich dann doch noch. Von selbst. Ich plumpste auf einen Tisch, wo mich die Krankenschwester anguckte – und Vati. Oder ein anderer Mensch. Ich wusste ja noch nicht, wer Vati ist. Ich konnte nicht mal Männer und Frauen auseinanderhalten. Irgendein Wesen schnitt die Nabelschnur durch. Von nun an war ich völlig auf mich allein gestellt. Etwas übertrieben vielleicht, aber ein Körnchen Wahrheit steckt drin. Wie in jeder Lüge. Ich bekam alles, was ein kleiner Mensch so braucht. Einen Klaps auf den Po, eine Windel, einen Namen. Sie nannten mich Arne. Mutti und Vati hatten schnell wieder vergessen, warum sie mich so genannt hatten. Arne war ein seltener Name, der aus dem skandinavischen Raum stammt. Die Krankenschwester hielt ihn für einen Mädchennamen und missbilligte, dem Stirnrunzeln nach zu urteilen, die Entscheidung meiner Eltern. Der Schnee schmolz Anfang Februar auf dem Rasen im Innenhofpark des Krankenhauses. Meine Eltern machten sich keine Sorgen. Sie schienen glücklich zu sein. Die DDR war ein Sozialstaat, es ging unaufhörlich aufwärts, hin zu einer sorglosen Zukunft, in welcher der Mensch den Menschen nimmermehr ausbeuten würde. Mutti hatte Lehrerin studiert und war es auch geworden. Kunstgeschichte und Musik. Eigentlich hatte sie vorgehabt, Sportlehrerin zu werden, doch dann brach sie sich beim Basketballspielen den kleinen Finger ihrer linken Hand. Es hatte nicht mal richtig wehgetan. Er wurde dick und sah komisch aus. Mit Beule und Knick. Sportlehrerin war mit so einer Verkrüppelung nicht mehr zu machen. Wir bewohnten zu dritt ein halbes Zimmer, in Pankow, bei einer blinden Frau, die gerne Fernsehen guckte. Gegenüber wohnten Liliputaner, kleinwüchsige Menschen. Mein Vater trug keinen Bart. Er kämmte seine Haare nach hinten, wie ein Rock ’n’ Roller. Er war aber kein Rock ’n’ Roller, sondern Ingenieur. Vati musste außerhalb schlafen, in einer Männerpension. Zu dritt passten wir nachts nicht in das Zimmer. Dort stand noch ein Schrank drin und ein Bett. Wollte man die Tür aufmachen, das ging praktisch gar nicht. Da musste man, um hineinzukommen, sich so durchschlängeln. Wir hätten die Tür ganz herausnehmen können, dann hätte noch jemand mit reingepasst. Der hätte dann mit seinen Beinen zum Flur raus liegen müssen. Wir wohnten im vierten Stock. Der Putz bröckelte von den Wänden, und das Klo stand auf dem Hof. Nachts hätte man vier Stockwerke runtergemusst, falls man gemusst hätte. Alle hätten das gemusst, bis auf die blinde Frau und bis auf mich. Ich hatte meine Windeln, und die blinde Frau nahm eine Schüssel. Mein Vater war ständig auf Dienstreise und deshalb oft weg. Mutti half der blinden Frau beim Fernsehen, erzählte ihr, was auf dem Bildschirm zu sehen war. Oft schlief die blinde Frau darüber ein. Es schien nicht besonders zu sein, das Fernsehprogramm. Immer nur Kulenkampff. Und für Politik interessierte sich die blinde Frau nicht. Dabei war es eine politisch interessante Zeit. Im Westen, vereinzelt sogar im Osten, ließen sich Männer aus Protest lange Haare wachsen. Die US-Amerikaner mordeten in Vietnam, sowjetische Truppen besetzten die Tschechoslowakei. Auf den Straßen wurde »Ho-Ho-Ho-Chi-Minh« oder »Dubcek, Dubcek« gerufen. Die blinde Frau aber schlief im Fernsehsessel bei »Einer wird gewinnen«. Wenige Monate später ließ sich mein Vater einen Bart stehen. Er ging von einem Ohr zum anderen, unten entlang, war krauselig und dick, ohne über der Oberlippe unter der Nase zu wuchern. Er nannte das Seemannsbart. Meine Mutter nannte das scheußlich. Mir war es egal. Ich stand auf Brüste. Mutti trug einen Haarschnitt, den man praktisch nennen konnte. Die Haare waren mehrere Zentimeter über den Augenbrauen abgeschnitten, fielen also nicht ins Gesicht. Hinten glitten sie etwas länger hinunter, wärmten den Nacken. Mutti fiel mit dem Haarschnitt nicht weiter auf. Die Leute riefen ihr keine Schimpfwörter hinterher. Die blinde Frau sowieso nicht, die war ja blind. Mutti konnte Noten schreiben und Noten lesen und Flöte spielen und Geige spielen und singen und Klavier spielen. Vati war eher unmusikalisch. Sein Lieblingslied hieß »Winter in Canada«. Das sang er gern in der Badewanne. Da es in Pankow keine Badewanne gab, sang er es zu Hause nie. Für mich war vieles neu. Ein Senfglas beispielsweise oder rote Fahnen, welche die Leute zum 1. Mai aus ihren Fenstern hängten. Ich schlief oft in einem Kinderwagen, den wir ausgeliehen hatten von Verwandten aus Dessau. Dort träumte ich von einer Welt voller Brüste und ohne Väter mit scheußlichen Bärten, deren Haare kitzelten. Auf meinem Kopf wuchsen kaum Haare. Die Menschen dachten, ich hätte eine Glatze. Ich war allgemein nicht das, was man einen Augenschmaus nennt. Ärmchen und Beinchen dünn wie Nadeln, was der Körper durch einen dicken Blähbauch auszugleichen versuchte. Immerhin galt ich als pflegeleicht. Ein stilles Bürschchen. Ich ruckte und rührte mich wenig. Mutti dachte, das käme daher, dass ich zufrieden war. War aber nicht so. Ich konnte nur nicht sprechen, und zum Schreien fehlte mir die Kraft. Mutti musste wieder arbeiten, vielleicht wollte sie es sogar. Ich kam tagsüber zu einer Pflegemutti. Einer dicken Frau, die sich um mich kümmerte. Um mich und um andere Kinder. Ein anderes Kind, zwei andere Kinder, drei andere Kinder? Ich verhielt mich ruhig. Es gab keinen Grund für Beschwerden. Nur essen wollte ich kaum etwas. Als wir nach Nordend umzogen, in eine Wohnung mit zwei Zimmern, wo endlich auch Vati zu Hause schlafen durfte, besuchte ich einen Kindergarten. Wir hatten dort ein Schiff aus Holz. Zum Spielen. Es stand im Sandkasten. Ich spielte aber nicht viel. Ich war es nicht gewohnt zu spielen. Zu Hause saß ich immer in der Mitte des Laufgitters und guckte mir die Tapete an. Ich stellte mir andere Sachen vor. Andere Tapeten mit anderen Mustern. Laufen lernte ich später als andere Kinder, sprechen eher oder normal. Ich sagte zuerst: »Heisss«, oder: »Da!« »Mama« und »Papa« jedenfalls nicht. Denn »Mama« und »Papa« hieß es bei uns nicht. Bei uns hieß es »Mutti« und »Vati«. Großmutti und Großvati gab es auch noch. Und einen Opi. Der war in Kriegsgefangenschaft gewesen und schikanierte danach meine Omi. Bei Opi durfte ich immer auf dem Fuß sitzen. Er schaukelte mich mit seinem Fuß. Omi lächelte, wenn sie dabei zusah. Manchmal weinte sie auch. Ich entwickelte eine Leidenschaft für Müllautos. Wenn die Müllmänner kamen, konnte ich sie von meinem Platz aus durch das Fenster beobachten. Wie sie mit sicherem Griff die Mülltonnen packten und durch den Hof rollten, zu den Müllautos hin. Dort kamen sie in eine Verankerung, und dann zischte es, polterte, und der Müll verschwand im Inneren des Lasters. Besonders angetan hatte es mir die Asche, die im Winter einen Gutteil der Mülltonnen füllte. Sie staubte so herrlich. Stundenlang stand ich am Fenster, starrte auf staubende, manchmal auch auf brennende Mülltonnen. Wie alle Altbaubewohner besaßen wir Ofenheizung. Eines grauen Tages bekam ich ein Müllauto geschenkt. Es war kleiner als richtige Müllautos und aus Holz. Es konnte nicht selber fahren, aber es ließ sich befüllen, genau wie ein echtes. Als ich alleine zu Hause war, musste ich die Gelegenheit nutzen, mit meinem hölzernen Müllauto zu spielen. Ich füllte die Asche aus dem Ofen mit einem Löffelchen hinten in das Müllauto hinein. Dann fuhr ich in der Wohnung umher und kippte an verschiedenen Stellen die Asche wieder ab. Häufchen für Häufchen entstand. Das sah schön aus. Das qualmte wie bei echten Mülltonnen. Und es roch so gut. Als Mutti zurückkehrte, verbot sie mir, weiterhin mit dem Müllauto zu spielen. Brandlöcher im Teppich blieben als Erinnerung. Als ich drei Jahre alt war, bekam ich ein Schwesterlein. Ich wollte das nicht. Sie sah niedlich aus, aber das Geschrei störte. Deshalb zog ich ihr eine Decke...


Ahne, 1968 in Berlin-Buch geboren, ist gelernter Offset-Drucker. Die Wende war für ihn ein Glücksfall: Er wurde arbeitslos und Hausbesetzer. Ahne war etliche Jahre bei den Surfpoeten aktiv und liest jeden Sonntag bei der Berliner Reformbühne Heim & Welt. Insgesamt sind von ihm vier Bände seiner "Zwiegespräche mit Gott", fünf Bücher mit Kurzgeschichten sowie ein Lyrikband erschienen. Ahne ist einer der bekanntesten Lesebühnenautoren der Welt.



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