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E-Book

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Albig Moralophobia

Wie die Wut auf das Gute in die Welt kam

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-608-11915-2
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Ein optimistisches Plädoyer für eine moralische ModerneMoral begegnet uns im Alltag, in der Politik, in der Gesellschaft. Doch über Moral wird häufig nur noch geschimpft. Bissig, mitreißend und klug argumentierend hält Jörg-Uwe Albig dagegen. Moralfeinde, die um ihre Privilegien bangen, hat es immer gegeben. In lebhaften Bildern schildert er ihre tragischen, mitunter skurrilen Kämpfe und zeigt, wie die Auflehnung gegen die Moral immer dann zu bremsen versuchte, wenn die Zivilisation einen Schritt nach vorne machte. Ein hochaktuelles, längst überfälliges Plädoyer für die Moral als notwendiger Motor des Fortschritts!In aktuellen Debatten um Klimapolitik, Geflüchtete bis hin zu Corona wird regelmäßig ein Schreckbild beschworen: das Gespenst des Moralismus. Jörg-Uwe Albig zeigt, dass die Klage über Moralisierung der Politik, 'Gutmenschen' und 'Moraldiktatur' nicht neu ist, sondern so alt wie die Jeremiaden über die Technik, die Massen oder die 'Jugend von heute'. Doch ohne die Moralisierung der Politik hätte es keine Abschaffung von Sklaverei oder Folter gegeben, keine Ächtung von Eroberungskriegen oder der Prügelstrafe für Kinder. Der Autor deutet das Unbehagen an der Moral als Protest gegen den Zivilisationsprozess: Anhand historischer Moral-Rebellen von Götz von Berlichingen über Nietzsche bis Trump erzählt er die tragischen Kämpfe dieser Streiter gegen die Idee von Gut und Böse. Ein eindringlicher Appell, die Zukunft nicht jenseits von Moral, sondern nur mit deren Hilfe zu gestalten.
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Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


1.  Einleitung »Widernatürliche Vereinbarungen der Menschen«
What’s so funny ’bout peace, love and understanding? Nick Lowe Es gab eine Zeit, da war die Revolte gegen die herrschende Moral eine wilde Sache. Sie sang »Love Me Tender« und ruckte und zuckte dabei so obszön mit den Hüften, dass das Fernsehen sie nur noch von der Taille aufwärts zeigen mochte. Sie trieb widernatürliche Unzucht mit Menschen des gleichen Geschlechts und erntete dafür Haftstrafen, trug lange Haare und bezog dafür Prügel. Später lungerte sie mit Gleichgesinnten und Gitarren in Fußgängerzonen, prostete schon morgens fleißigen Passanten mit Lambrusco zu. Dann wälzte sie sich in Kommunen gruppenweise übereinander, kiffte sich den Mandelkern aus dem Hirn und posierte kollektiv mit nacktem Hintern für die Sensationspresse. Irgendwie sieht der Aufstand gegen die Moral heute anders aus als damals. Er ist nicht leiser geworden, aber grimmiger, grauer, gesetzter. Er trägt Tweedjackett, senffarbene Hosen oder die schwarze Kulturuniform. Er pflegt mit Hingabe seinen Sportwagen oder seinen Schrebergarten, weiß einen guten Barolo zu schätzen oder das hart verdiente Feierabendpils. Er schlägt schon auch mal über die Stränge, wenn es um unvernünftige Investitionen in einen BBQ-Hydra-900-Gartengrill geht oder ein Auto, das eigentlich zu groß ist für die Stadt. Aber im Allgemeinen hält er die Füße still, versteht nur manchmal lauthals die Welt nicht mehr. Sein Protest ist keine Demo, aber auch kein Gesang, kein Tanz und keine Überschreitung. Er zeigt sich, je nach Temperament und Sozialstatus, in einem Naserümpfen, einem Murren, einem Grollen und Grummeln. Er fordert die Moral nicht heraus, sondern beschwert sich über sie – in spitzlippigen Aperçus über »Moralismus« und »Moralisierung«, in missbilligenden Komposita wie »Moralkeule«, »Moralprediger« und »Moralelite«, in der rasch gezeichneten, aber desto unverwüstlicheren Karikatur des »Gutmenschen«. Und in den zahllosen Büchern, die in den vergangenen Jahren – mal rechts, mal grün, mal links grundiert, aber immer in das erbitterte Kopfnicken einverständiger Leser hineingeschrieben – Normalität gegen Moralität ausspielen: »Die Moralfalle«, »Hypermoral«, »Die Diktatur der Moral«, »Erst die Fakten, dann die Moral«, »Kritik der Moralisierung« oder »Das sogenannt Gute. Zur Selbstmoralisierung der Meinungsmacht«. Oder, noch bündiger: »Keine Macht der Moral!« Es sind Politiker genauso wie Taxifahrer, die diesen mürrischen Krieg führen. Es sind Schriftstellerinnen und Philosophen, Studienräte und Vertriebschefs, Rechtspopulistinnen und linke Klassenkämpfer, aber auch Stützen linksgrüner Milieus. Es sind Chefredakteure und deren Leser und Leserinnen, die sich in den Online-Portalen mit Kommentaren zu Wort melden. Es sieht aus, als wäre das Wort »Moral« bei ihnen zum Fluch verkommen, zur Beleidigung, zum five-letter word. Als wäre die Ethik zum Ekelobjekt geworden, etwas, das man nur ungern anfassen möchte, ein Gegenstand des Abscheus oder der Phobien, wie Spinnen oder Clowns. Was ist passiert, das diesen Aufstand gegen die Moral erklären könnte? Hat »die Sitte« das Land wieder im Griff? Kommen neuerdings, wie noch in den 1960er Jahren, wieder Eltern vor Gericht, wenn der Freund der Teenager-Tochter über Nacht bleibt, oder wird die Wirtin bestraft, die ein Paar ohne Trauschein übernachten lässt? Ist wieder der Bikini verboten, wie an den Mittelmeerstränden der 1950er Jahre, oder der Minirock, wie bis in die 1970er Jahre in Schweizer Hotels, Zoos und Kirchen? Werden wieder, wie vor 1974, Abtreibungen umstandslos mit Gefängnis bestraft? Tobt wieder der Bundestag wie noch 1970, als zum ersten Mal eine Frau in Hosen am Rednerpult stand? Hagelt es wieder Mord- und Bombendrohungen wie im selben Jahr, als eine Kandidatin der Spiel-Show »Wünsch dir was« in durchsichtiger Bluse vor die Kamera trat? Ist der Paragraph 175 wieder in Kraft, der bis 1994 »homosexuelle Handlungen« verbot und dessentwegen noch 1990 96 Bundesbürger verurteilt wurden und zehn im Gefängnis saßen? Werden wieder junge Männer gegen ihren Willen in Kasernen gesperrt, wie vor der Aussetzung der Wehrpflicht im Jahr 2011? Ist es wieder verboten, im Fernsehen »ficken« oder »Scheiße« zu sagen oder die Bundesrepublik Deutschland mit »BRD« abzukürzen, dieser »kommunistischen Agitationsformel« (Hans Karl Filbinger), die noch in den 1970er Jahren in Schulaufsätzen als Fehler angestrichen wurde? Wahrscheinlich ist genau das Gegenteil der Fall. Wahrscheinlich war noch nie in Deutschland so viel erlaubt wie heute. Frauen dürfen, anders als in den 1960er Jahren, ohne Zustimmung des Ehemanns einen Beruf ergreifen und Verträge unterschreiben. In der Gastronomie gibt es, anders als vor nicht allzu langer Zeit, keine nächtlichen Sperrstunden mehr. Seit 1995 dürfen Jugendliche in Niedersachsen bei Kommunalwahlen wählen, seit einigen Jahren in Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein auch bei Landtagswahlen, und bald sollen auch bundesweit 16-jährige an die Urnen gelassen werden. Seit 2017 dürfen alle erwachsenen Deutschen frei ihre Ehepartner wählen, unabhängig von deren Geschlecht, und seit Dezember 2018 auch ihre eigene sexuelle Identität. Sogar die Legalisierung von Cannabis steht unmittelbar bevor. Eigentlich sieht es aus, als läge der Gipfel der Freiheit nur noch ein paar Serpentinen entfernt. Und ausgerechnet jetzt wittern gerade die, denen diese Bergtour zum Mount Selbstbestimmung immer eher zu schnell als zu langsam vorangegangen ist, überall nur noch »Verbotskultur«. Denn wer heute gegen die »Diktatur der Moral« in den verdrossenen Widerstand geht, fordert in der Regel nicht mehr (einvernehmlichen) Sex, Drogen oder Rock’n’Roll. Er verlangt auch nicht, dass das Tanzverbot an Karfreitag fällt oder das Verbot, weggeworfene Lebensmittel aus Abfallcontainern zu klauben. Meistens wünscht er sich nur zurück, was er zu wünschen gelernt hat. Er verteidigt lieb gewordene Privilegien – die er dann gar nicht unbedingt selbst wahrnehmen muss: Es genügt, dass sie Leuten wie ihm im Prinzip zustehen. Etwa das Recht, Frauen gegen deren Willen anzufassen (»Sex nur noch mit Zustimmung?«, fragte erschrocken die »Neue Zürcher Zeitung« noch im Mai 2021 auf ihrer Titelseite), mit »1000 ganz legalen Steuertricks« den Staat abzuzocken, öffentliche Erholungsfläche unter hässlichen Eigenheimen zu begraben, mit 250 und Lichthupe über die Autobahn zu brettern oder tonnenweise Kerosin in die Luft zu blasen. Der Moral-Rebell des 21. Jahrhunderts sorgt sich um die Freiheit, Minderheiten zu verunglimpfen, Mitmenschen im Mittelmeer ertrinken zu lassen oder mit einem bösen Virus anzustecken und, wenn man ihm auch diesen letzten Spaß noch nehmen will, mit Fackeln und Trommeln vor dem Fachwerkhaus einer Gesundheitsministerin aufzumarschieren. Natürlich ist das ein Hohn auf die klassische Definition der Freiheit, wie sie die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 formuliert: »Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet.« Es ist eine geizige, eine kleinliche, eine missgünstige Freiheit, die nur für den Empörer selbst gelten soll. Eine Schrumpfform der Freiheit, die den einzigen kargen Genuss verfolgt, das Tafelsilber gewohnter Vorrechte zusammenzuhalten. In diesem Zerrspiegel-Kabinett von Freiheit kann jeder sein eigener Diktator sein – der sich wie ein kleiner Putin, Erdogan oder Orbán die »Einmischung« in seine »inneren Angelegenheiten« verbittet, wenn die Weltgemeinschaft einmal ganz unverbindlich die Menschenrechte aus dem Diplomatenkoffer kramt. Nur selten geht es in den neuen Kulturkämpfen noch um das, was einmal »Selbstverwirklichung« hieß. Es geht nicht mehr um Rocklängen, Berufs- und Partnerwahl oder sexuelle Vorlieben. Niemand kritisiert Menschen für ihre Sehnsucht, sich zu erotischen Zwecken mit Scheiblettenkäse zu belegen. Niemanden geht das etwas an als diese Enthusiasten selbst, und deshalb würde ihnen auch der strammste Moralist nicht in diese Form der Freizeitgestaltung hineinreden. Es geht vielmehr um Selbstbehauptung – gegen den Rest der Welt. Nicht um die Freiheit, über das eigene Leben frei zu verfügen – sondern um die Gewalt über das Leben anderer Leute, die unter dieser Freiheit dann zu leiden haben. Es geht nicht um das liberale Projekt, möglichst viele Rechte für möglichst viele Menschen zu garantieren, sondern um den libertären Narzissmus,...


Albig, Jörg-Uwe
Jörg-Uwe Albig, geboren 1960 in Bremen, studierte Kunst und Musik in Kassel, war Redakteur beim Stern und lebte zwei Jahre als Korrespondent einer deutschen Kunstzeitschrift in Paris. Seit 1993 arbeitet er als freier Autor in Berlin. 1999 wurde sein Romandebüt 'Velo' veröffentlicht. Es folgten die Romane 'Land voller Liebe', 'Berlin Palace', 'Ueberdog', 'Zornfried' und zuletzt das Sachbuch 'Moralophobia'.

Jörg-Uwe Albig, geboren 1960 in Bremen, studierte Kunst und Musik in Kassel, war Redakteur beim Stern und lebte zwei Jahre als Korrespondent einer deutschen Kunstzeitschrift in Paris. Seit 1993 arbeitet er als freier Autor in Berlin. 1999 wurde sein Romandebüt 'Velo' veröffentlicht. Es folgten die Romane 'Land voller Liebe', 'Berlin Palace', 'Ueberdog', 'Zornfried' und zuletzt das Sachbuch 'Moralophobia'.


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