E-Book, Deutsch, 301 Seiten
Augstein Strömung
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8412-2963-2
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 301 Seiten
ISBN: 978-3-8412-2963-2
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dass alte Gewissheiten schwinden, dass die Welt sich schneller ändert, als er es für möglich gehalten hätte, wird Misslinger ausgerechnet in den USA klar, dem Ort, der für ihn immer noch für Freiheit und eine bessere Zukunft steht. Hier verschwimmen die Grenzen von Traum und Wirklichkeit, und Misslinger realisiert, dass ihm sein Leben längst entglitten ist.
In seinem grandiosen literarischen Debüt erzählt Jakob Augstein eindringlich von einem Mann unserer Zeit, deren Konturen zwischen politischen Umbrüchen, neuen Ideen und alten Bedrohungen immer schwerer auszumachen sind.
Jakob Augstein, geboren 1967, ist Verleger und Publizist. »Strömung« ist sein erster Roman.
Autoren/Hrsg.
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Kapitel 1
»Lieber Walter, meine Damen und Herren, ich bin Franz Xaver Misslinger, und ich sage immer, bei mir hört das Scheitern mit dem Namen auf. Aber Sie kennen mich. Wir haben viel hinter uns gebracht, um heute hier zu stehen. Wer hätte gedacht, dass wir es so weit bringen? Ich sage es Ihnen: Ich habe es gedacht. Ich habe an Sie geglaubt und an mich selbst. Und woher habe ich diese Sicherheit? Hier sitzt der Mann, der die Antwort ist: Walter! Ich verdanke Dir mehr, als ich sagen kann. Ich verbeuge mich vor Dir. Stellt euch das vor, liebe Freunde: Was einer kann! Was alles möglich ist!«
Misslinger spürt die Begeisterung des Saals schon jetzt, Wochen im Voraus. Er sieht die helle, weite Halle des alten Postbahnhofs vor sich. Die wogenden Köpfe, die fliegenden Hände, das große Tier, das ihm seine Wärme schenkt. Von einem guten Redner sagt man: Der Saal gehört ihm. In Misslingers Fall ist es buchstäblich wahr. Wenn er in Form ist, dann kann er mit den Menschen machen, was er will: Er scherzt, sie lachen, er beschwört, sie sind gebannt, er wirft einen Köder aus, sie greifen gierig danach. Misslinger macht aus einer Rede ein Ritual, einen großen Akt der Vereinigung. Und auf dem Parteitag im November wird er eine große Rede halten. Über die Freiheit. Er wird ein Evangelium des Liberalismus verkünden, eine frohe Botschaft der Leistungsbereitschaft und des Fortschritts. Man wird ihm zujubeln als einem Messias der Eigenverantwortung. Den Text schreibt er jetzt auf, nachher wird er ihn nicht brauchen. Er kann zwei, drei Stunden frei sprechen, klar, verständlich, mitreißend. Das ist sein Talent, und er hat es gut trainiert, so viele Reden hat er gehalten, auf Marktplätzen und in umgebauten Scheunen, die jetzt als Nebenzimmer von Gaststätten dienen, im Landtag und auf den Parteitagen. Die erste Lektion hat er von Walter gelernt: »Das Wichtigste beim Reden sind die Pausen«, hat Walter gesagt, als sie sich kennengelernt haben.
Es ist Montagvormittag, 10. Oktober, der Wagen fährt am Weinbergpark vorbei. Misslinger lehnt den Kopf an die kalte Scheibe. Diese Partei wird sich ihm unterwerfen, sie wird sich ihm hingeben, in der Backsteinindustriearchitektur des alten Postbahnhofs in Berlin. Und Walter wird da sein, auf dem Platz des Ehrenvorsitzenden wie immer, und der Alte wird dem Jüngeren seinen Respekt zollen. Walters Zeit ist abgelaufen, denkt Misslinger.
Er schließt den Rechner, den er gerade erst geöffnet hat, und verstaut ihn in der feinen schwarzen Tasche, die Selma ihm geschenkt hat. Er kann sich gerade nicht gut konzentrieren. Vor einer halben Stunde hat er die Tablette genommen und wartet darauf, dass sie wirkt. Der Wagen hatte ihn um halb zwölf in seiner Wohnung in der Choriner Straße abgeholt. Das Büro hatte ihm einen Fahrer geschickt, den er noch nicht kannte. Während der Fahrt, die wegen erhöhten Verkehrsaufkommens und einer Sperre deutlich länger als die eingeplanten zwölf Minuten dauerte, erfuhr Misslinger den Namen des Mannes, Schwaiger mit »ai«, wie gleich betont wurde, worauf sich eine kurze Unterhaltung über den Ursprung dieses Namens anschloss, die zu der Erkenntnis führte, dass die Familien beider Männer wenigstens väterlicherseits aus dem Süden stammten, Misslingers aus Südtirol, Schwaigers aus Bayern, das Schicksal sie aber beide nach Norden verschlagen hatte, woraus man jetzt eben das Beste machen müsse. Diese Gemeinsamkeit erfüllte das Fahrzeuginnere mit einer heiteren Stimmung, aufseiten des Fahrers, weil er sich etwas davon versprach, dass sein neuer Chef offenbar ein zugänglicher Mann war, aufseiten Misslingers, weil er darauf achtete, im Umgang mit den sogenannten einfachen Leuten einen freundlichen, nie aber einen herablassenden Ton anzuschlagen und sich jedes Mal freute, wenn ihm das gelungen war.
Der Fahrer setzt ihn am nördlichen Eingang des Bahnhofs ab, fährt ein Stück vor und wartet. Die beiden Männer einigen sich noch schnell darauf, wie unsinnig es sei, einen neuen Bahnhof so zu bauen, dass man beinahe gar nicht mit dem Auto heranfahren kann: »Typisch Berlin«, sagt der Fahrer. »Wählen Sie uns«, sagt Misslinger, »freie Fahrt für freie Bürger!« Er hängt sich die schwarze Tasche um, die er nie zurücklässt, und geht ein paar Schritte auf die großen Drehtüren zu, macht kehrt, läuft hin und her. Es wäre jetzt an der Zeit, denkt er, dass die Tablette wirkt. Vor ihm taucht eine junge Frau mit flachsblondem Haar auf. Noch bevor er ihr Gesicht sieht, bemerkt er die schlanke Figur, den engen braunen Rollkragenpullover, den langen, hellen Mantel. Mit der dunklen, mit großen Blumen übersäten Schlaghose und dem braunen Lederbeutel, der ihr über der Schulter hängt, sieht sie aus wie eine Hippie-Studentin, findet Misslinger und erkennt dann seine Tochter.
Luise hatte schon eine Viertelstunde gewartet, allerdings auf der anderen, dem Kanzleramt zugewandten Seite des Hauptbahnhofes, bis sie ihren Irrtum bemerkte. Sie war am frühen Morgen in ihrem im idyllischen Ostholstein gelegenen Internat aufgebrochen, um mit ihrem Vater über Zürich nach New York zu reisen, wo sie um kurz nach acht Uhr abends Ortszeit landen würden.
»Hey, Misslinger!«, ruft sie. Er nimmt sie in den Arm und hält sie fest, dann drückt er sie von sich weg, lässt die Hände noch auf ihren Schultern und blickt direkt in ihre klugen, fröhlichen, grauen Augen. Das Kluge kommt von Selma, das Fröhliche von mir, denkt Misslinger. Alle nennen ihn so. »Sie können gerne Papa zu mir sagen«, sagt er zu seiner Tochter. Luise antwortet: »Und Sie können gerne Du zu mir sagen, Papa!« Er nimmt ihren Koffer in die linke Hand, legt den rechten Arm um ihre Schulter und geht mit ihr zum Wagen.
Luise ist erst 16, aber sie ist schon größer als er, erst recht mit ihren hohen Stiefeln. Sein Vater, seine Mutter, seine Frau, seine Tochter, alle sind größer als er. Dabei ist er gar nicht klein, die anderen sind nur so groß. Sie ist beinahe erwachsen, denkt Misslinger. Und dass nichts Ängstliches mehr an ihr ist. Ihr Haar, wenn sie es offen trägt, reicht bis zu den Hüften; jetzt hat sie es hochgeknotet, ein blonder Rossschwanz, der beim Gehen pendelt. Die Haare seiner Tochter kommen Misslinger im Licht der Herbstsonne jetzt honigfarben vor.
Er erinnert sich an seine Tochter als ein ängstliches Kind. Damals war er seit ein, zwei Jahren im Bundestag und selten zu Hause. Dann wurde Selma krank. Sie begann zu bluten und wusste nicht, warum. Die Ärzte in der Kieler Klinik entfernten den Krebs zusammen mit der Gebärmutter. In dieser Zeit konnte sich Selma nicht um Luise kümmern. Also verbrachte Misslinger mehr Zeit zu Hause. Er wechselte seiner Tochter die Windeln. Er brachte sie in den Kindergarten, und wenn sie ihn nicht gehen lassen wollte und sich an sein Bein klammerte, dann blieb er im Vorraum sitzen und wartete, bis sie ihn im Spiel vergessen hatte. In diesen Monaten kannte Luise nur die Zärtlichkeit ihres Vaters, seine Stimme, seine Liebe, und beinahe wäre zwischen Vater und Tochter eine Verbindung entstanden, die nichts auf der Welt mehr hätte lösen können. Aber Selma wurde wieder gesund und Misslinger wurde finanzpolitischer Sprecher seiner Fraktion und verbrachte mehr Zeit in Berlin als zu Hause.
Während sie zu dem großen schwarzen Wagen gehen, spürt er die Wirkung der Tablette. Der Koffer in seiner Hand hat gar kein Gewicht mehr. Er ist jetzt sehr glücklich, dass er Luise gefragt hat, ob sie mit ihm diese Reise machen will. Er ist sehr glücklich, dass sie zugesagt hat. Dieses Mal soll sie noch sein Kind sein. Und Selma soll sehen, dass er sich interessiert. Er kann es gar nicht erwarten, dass sie endlich wegkommen. Und er ist Luise dankbar, dass sie ihn nicht allein gelassen hat.
»Bist Du glücklich, Papa?«, fragt Luise, als sie nebeneinander im Fond des Wagens sitzen, der sie zum Flughafen bringt. Die Frage verwirrt Misslinger: »Es gibt verschiedene Arten von Glück und verschiedene Momente dafür, oder?«, sagt er. Luise reagiert nicht. Also redet er weiter: »Ich freue mich auf unsere Reise.« Sie antwortet immer noch nicht. »Glück als Lebensgefühl oder Glück in einem Moment? Immer noch...