E-Book, Deutsch, 205 Seiten
Bachmann lebenslänglich
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-85787-933-3
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Jugend
E-Book, Deutsch, 205 Seiten
ISBN: 978-3-85787-933-3
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
»Ich bin kein Schweizer.« Mit diesem Satz beginnt Guido Bachmann seinen autobiographischen Bericht, der ein Heranwachsen in der Schweiz von 1940 bis 1959 dokumentiert. Der Sohn eines Schweizer Vaters und einer italienischen Mutter beleuchtet in diesem schnörkellosen Protokoll einer Jugend die Kehrseite der kriegsverschonten Schweiz. Mit »lebenslänglich« gibt der Autor nebst dem Einblick in seine persönliche Geschichte und einer bitteren, aber nie verbitterten Zeitkritik auch einen Schlüssel zum präziseren Verständnis seines bisherigen Werks.
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Etwa drei Wochen vor dem Stelldichein vorm Spiegelschrank und dem unfreiwilligen Verbleib meines Vater- und Oberhauptes im Rotkraut gingen wir auf eine zweitägige Schulreise. Übernachtet werden sollte in einem oberländischen Militärlager. Mir graute vor der Massenunterkunft in einem grossen Zelt; aber der Klassenlehrer, hier sein richtiger Name, Hugo Keller, genannt Stift, derjenige mit dem grossen Adamsapfel und dem verwaschenen Knabengesicht, wahrhaftig keine Sportgrösse, sondern von seiner Frau, einer geborenen von May, gutes Geschlecht, eher zum Musischen angehalten, also nicht etwa Dr. Hieronymus Dürr, obschon dieser Name, mit dem ich ihn in der Trilogie veredelte, besser zu ihm gepasst hätte, schien sich ungemein auf dieses Zelt zu freuen, nicht weil er etwa einen Hang zur Päderastie gehabt hätte, sondern meines Motzens wegen. Ganz abgesehen davon, dass er nicht in diesem Zelt schlief, wo nachts ein Wispern war, ein Tuscheln und kehliges Kichern, untermischt mit Wortfetzen, die ich als „mehr drücken“, „reib schneller“ oder „mir kommt’s“ mitbekam, wonach mir in der Dunkelheit auf stinkendem Stroh endlich das Licht aufging, mit dem ich mir schon tags danach heim ins Reich leuchten sollte. Peter lag hautnah neben mir. Wir rührten uns nicht, wir berührten uns nicht. Ansonsten zogen die Unkeuschen brav durchs Schweizerland. Am Morgen waren alle verlegen gewesen voreinander, und männiglich tat schrecklich verschämt, als es ums Anziehen ging – ganz so, als wäre nachts die Scham aufrecht erhalten worden. Ich zog eine halblange, bis zu den Waden reichende khakifarbene Hose meiner Schwester an, die sie zu Hause gelassen und kaum getragen hatte, weil das Modell, ziemlich kühn für damals, obzwar von Audrey Hepburn modebildend und filmisch vorgeführt, unsere Mutter so in Rage versetzte, dass sie ihrer Tochter das Tragen dieses unschicklichen Beinkleides, in welches ich infolge enger Röhrchen ziemlich ungeschickt schlüpfte, platterdings verbot. Tags zuvor hatte ich diese Hose noch nicht getragen. Sie war im Rucksack verstaut gewesen, und nun wollte ich hoch angeben mit und in ihr. Zuerst starrte mich der Stift an, er starrte auf eine bestimmte Stelle, und seinem strengen Blick wurde gefolgt. Betretenes Beiseiteschauen. Und dann Kichern. Als der Stift davonstiefelte, brachte Bohnenblust hervor: Und wie willst du eigentlich schiffen? Es war entsetzlich. Ich hätte weinen können vor Wut und Scham. Die Hosenbeine waren zwar seitlich schick geschlitzt über den Waden, aber die ganze gottverdammte Hose hatte keinen Hosenschlitz. Sie war an der rechten Seite mit einem Reissverschluss versehen. Wie konnte ich diese Weiberhose nur loswerden? Ich hätte mein Gesicht verloren, wenn ich sie einfach in der Militärlatrine gleich neben der Militärfeldküche gegen die kurze Manchesterpfadfinderhose getauscht hätte. Und mir war gar nicht nach Scheissen zumute. Des Frühstücks wegen achtete im Augenblick niemand auf die Hose, die ich unterm langen Lattentisch verstecken konnte, der im Freien gleich neben der Feldküche und der Latrine auf lehmig feuchtem und weichem Boden stand. Es ward Kakao gereicht. Ein scheussliches Getränk. Kakao, allerdings nicht puren Kakao, sollte ich zwei Jahre später aus einer Schnabeltasse trinken. Kakao ist das scheusslichste aller Getränke, die reinste Beleidigung für Frühstückende. Kakao taugt höchstens fürs Militär. Kakao, dachte ich, gibt Kakaoflecken; aber der verfluchte Kakao war siedend heiss. Und so wartete ich geduldig. Es bildete sich schon eine runzlige Haut an der Oberfläche, was so widerlich war, dass ich hätte Kakao kotzen können, ohne Kakao gesoffen zu haben, als ich den Blechnapf mit dem Kakao darin nahm und den ganzen Kakao über die khakifarbene Audrey-Hepburn-Kreation goss. Ich konnte mich mit Fug und Recht und gutem Grund, ohne das Gesicht zu verlieren, der Unaussprechlichen entledigen und wurde, als ich die Latrine neben der Feldküche aufsuchte, kaum beachtet, weil sich die andern am säuerlich schmeckenden Bauernbrot festgebissen hatten. Nach der Kakaoorgie schritten wir weiter und mussten „Ich bin ein Schweizerknabe und hab die Heimat lieb“ singen. Ein schauerlicher Gesang; denn fast alle hatten nun den Stimmbruch. Mir aber schrillte die kleine Nachtmusik von der grossen Lust im Mittelohr. Die Verbalunterweisung musste gleich nach der Heimkehr in Praxis umgesetzt werden. In einem Hochwald, bevor wir rasteten, nahm ich die kakaobekleckerte Khakihose aus dem Rucksack und schleuderte sie von mir, mitten in reife Walderdbeeren hinein. Du sollst nicht die Hose deiner Schwester tragen. Der Stift schwärmte von der Schweiz: Ihr könnt euch alle etwas darauf einbilden, Schweizer zu sein, sagte er. Ich bin kein Schweizer, rief ich. Das sollte ich zwei Jahre später, in einem fremden Bett liegend, es war in Wien, abermals sagen. Ich bin kein Schweizer. Alle lachten. Das sagst du nur aus Trotz, tadelte der Stift, und wir alle, die wir auf dem Schilthorn standen, glotzten benommen hinüber auf Eiger, Mönch und Jungfrau. Es stieg hoch, und ich ging zur Seite, so dass der Stift annehmen mochte, auch das geschehe aus Trotz – es stieg hoch, und ich weinte. Ich stand bewegungslos und weinte ohne Laut. Peter neben mir. Ich weinte und war sexuell erregt dabei. Einige Stunden zuvor, während der Rast, als die Rucksäcke geöffnet wurden, deren Gestankskomposition aus Schweisssocken, Mettwurst, Kakao, faulen Eiern, Käse und Corned Beef sich in der Lichtung ausbreitete und gen Himmel stieg, wollte der Stift über die Eidgenossenschaft sprechen, was ihm aber, weil wir’s vermasselten, misslang. Er konnte nur noch deren Alter preisen: Wenn ihr, die ihr ja den Jahrgang vierzig habt, 1991 einundfünfzig Jahre alt sein werdet, ist das ein Nichts gegen siebenhundert Jahre Eidgenossenschaft! Ausgerechnet 1991 begegnete ich dem Stift vor dem Basler Münster. Eigentlich sah er gleich aus wie siebenunddreissig Jahre zuvor: das Gesicht zwar nicht mehr verwaschen, sondern zerknittert, ein runzliges Knabengesicht, die Haare weiss und der Adamsapfel bedeutend. Er sei nun dreiundachtzig, sagte er. Ich musste ihm nicht sagen, wer ich war. Zum Beweis, dass er sich gut erinnerte, schnurrte er alle Geschlechtsnamen der Schüler in alphabetischer Reihenfolge runter: Aebischer, Amsler, Bachmann, Badertscher, Boehringer, Bohnenblust, Fiechter, Hanggartner – und wenn Sie es genau wissen wollen: Ich entsinne mich genau, dass Sie während einer Schulreise gesagt haben: Ich bin kein Schweizer. Plötzlich erinnerte auch ich mich daran. Ich hatte es vergessen. Ich wünschte ihm einen schönen Abend im Konzert. O, er singe mit, sagte er: Ich singe mit. Irgendein Berner Chor, der im Basler Münster gastierte. Hugo Keller-von May, genannt Stift, für drei Jahre mein Klassenlehrer, hatte mir ein Stichwort gegeben. Daran zweifelte ich nicht, als ich den Rheinsprung hinunterging. Mir fiel der Name Amelie Ignatjewna Stubengeruch-Ossipowna ein. Mir fiel der Name René E. Mueller ein. Unten beim Rhein fiel mir ausserdem ein, warum ich auf der Schulreise geweint hatte; nicht nur das in flere voluptas est fiel mir ein, sondern die Berge sah ich vor mir, die mich erschüttert hatten. Es war eine Vision gewesen. Es war die Vision des Lichtberges und seiner mystischen Ersteigung gewesen. Die Vision des Abschieds. Eigentlich weinte ich meine Vergangenheit aus mir heraus. Mein Knabendasein verströmte mit den Tränen, und ich war definitiv kein Kind mehr. Unten am Rheinufer blickte ich in die gleiche Richtung wie die Skulptur „Helvetia“ und kehrte Basel den Rücken. Möglich, dass ich mich fragte: Wer ist überhaupt Schweizer (männlich, versteht sich) – oder: Was bedeutet es, ein guter Schweizer zu sein? Kein guter Schweizer ist kein Schweizer. Ich bin kein guter Schweizer: Ich bin kein Schweizer. Ich kenne keine Bürgertugend à la Keller (Gottfried, nicht Hugo). Ich vertrete keinen republikanischen Patriotismus. Ich mache hier keine polis aus. Ich bin kein citoyen. Ich halte nichts von Familie. Ich halte nichts vom Staat. Ich bin kein Mitglied des Souveräns. Ich trage zum Ganzen nichts bei. Ich mache keine Kompromisse. Ich bin kein Politiker. Ich kenne keine Gemeinwohlinteressen. Ich gehe nicht wählen. Ich habe nichts zu fördern hier und nichts zu verhindern. Ich neige nicht zum Partikularen. Ich entziehe mich kategorisch einem schweizerischen Zusammengehörigkeitsgefühl. Ich bin kein Schweizer. Immerhin: das klang im Ohr nach. Kellers Ohrwurm (Hugo, nicht Gottfried): Ich bin kein Schweizer. Aber zu 1991: noch in jenem Jahr wäre es unmöglich gewesen, die Zehnernote mit Le Corbusier, die Zwanziger mit Arthur Honegger, die Fünfziger mit Sophie Taeuber-Arp und die Hunderter mit Alberto Giacometti zu schmücken. Heute schmückt die Schweiz ihre Banknoten mit den Unerwünschten: die Fünfzigernote mit der weisen Sophie ist schon grün glitzernd in Umlauf. Noch 1989 hätten die Schnüffler und Schnorrer der Bundespolizei, wenn jemand vorgeschlagen hätte, Banknoten mit Porträts der erwähnten Kunstschaffenden zu versehen, dicke Denunzianteneinträge in die Fichen gemacht. War Giacometti Schweizer? War Honegger Schweizer? War Sophie Taeuber-Arp Schweizerin? War Le Corbusier Schweizer? Sie wollten alle vier nichts von der Schweiz wissen, weil die Schweiz nichts von ihnen wissen wollte, weil sie gar nicht wissen konnte, wer denn diese vier waren. Sie lebten nicht in der Schweiz. Hier wären sie verkümmert. Hier hätte man sie gar nicht wahrgenommen oder dann hätten sie, wage ich zu behaupten, als entartet gegolten. Ja, auch hierzulande. Jetzt sind sie plötzlich Schweizer. Jetzt werden sie vereinnahmt und als Banknoten verausgabt. Mein Geld, mein Geld, warum hast du mich verlassen. Die Macht ist aussermoralisch, zugegeben. Und ich will hier nichts verbessern:...