Bartels | Vatertage | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 368 Seiten

Bartels Vatertage

Roman
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-641-20910-0
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 368 Seiten

ISBN: 978-3-641-20910-0
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



»Guten Tag, wir sind verwandt!«

Dass er einen Vater hat, wusste Simon eigentlich schon immer. Nur dass er selbst Michael Petersen niemals so genannt hätte: Vater. Wer es fertigbringt, in neununddreißig Jahren nicht ein einziges Wort mit seinem Sohn zu wechseln, ist bestenfalls ein Erzeuger. Deshalb ist Simon auch ziemlich verärgert, als er in einem offiziellen Schreiben aufgefordert wird, monatlich € 697,69 Pflegebeteiligung für Herrn Petersen zu bezahlen. Simon fährt persönlich zum Amt, um Widerspruch einzulegen. Doch was er dort erfährt, stellt sein Leben vollends auf den Kopf. Anscheinend ist sein Vater nicht der einzige, der sich nie blicken ließ ...
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KAPITEL 1

Karla Kolumna

Simon Havlicek hatte mal irgendwo gelesen, dass ein Mensch im Laufe seines Lebens ungefähr vierhundertfünfzig Morddrohungen ausstößt. Das war ein Durchschnittswert, ermittelt von Soziologiestudenten der University of Wisconsin in Green Bay, Wisconsin, USA, aber selbst wenn man das lose nordamerikanische Verhältnis zum Gebrauch von Handfeuerwaffen sowie das handelsübliche Drohgebaren von Kiezgrößen und Mafiosi herausrechnete, dürften auch friedlichste Existenzen öfter mal dem ein oder anderen ein schattiges Plätzchen auf einem Friedhof wünschen. Das wusste Simon aus eigener Erfahrung.

Das hieß noch lange nicht, dass er jemals ernstlich ans mörderische Werk hätte gehen wollen, oh nein. Denn das wiederum erforderte Nerven und Skrupellosigkeit, zwei Dinge, über die er nicht gerade im Übermaß verfügte. Von seiner grundsätzlichen Achtung vor dem Leben an sich wollte er gar nicht erst anfangen. Und weit über neunundneunzig Prozent aller Menschen in der zivilisierten Welt schien es genauso zu gehen, sonst wäre die Mordrate in seiner näheren Umgebung nicht so erstaunlich überschaubar. Aber die Gedanken, so sagt man schließlich nicht ohne Grund, sind frei.

Man konnte ihm also nicht wirklich einen Vorwurf machen, dass er im Sinne des freiheitlichen Gedankenguts nicht besonders alarmiert war, als Jarmila am Telefon zu ihm sagte:

»Ich bringe ihn um.«

Dieser Satz seiner Mutter fiel am 23. April 2008. Das war zunächst in vielerlei Hinsicht ein stinknormaler Mittwoch im Leben des Simon Havlicek.

Er wachte davon auf, dass Anke die Haustür ins Schloss fallen ließ. Simon war für einen Moment desorientiert und sah sich um. Er lag auf dem dicken graubraunen IKEA-Teppich, der ein paar Quadratmeter der teuren Eichenholzdielen zwischen Sofa und Fernseher bedeckte. Lilly kniete ein gutes Stück neben ihm und stapelte bunte Bauklötze aufeinander, die Zunge konzentriert in Richtung ihrer Rotznase geschoben. Lea saß oben am Esstisch und malte etwas, Simon tippte auf Pferde, das war momentan der Renner bei ihr. Ihr kleiner bunter Kassettenrekorder stand vor ihr, gerade sang sie die Titelmelodie von »Bibi Blocksberg« mit, nach seiner Schätzung zum etwa vierzigsten Mal heute.

Er drehte den Kopf zur Verandatür. Da lag, mit geschlossenen Augen, Zottel, ein Mischlingshund, mit dem Simon schon zusammen gewesen war, bevor er an ein gemeinsames Leben mit Anke und Kindern auch nur einen Gedanken verschwendet hatte.

Er seufzte.

War mal wieder ein langer Tag gewesen mit den Mädchen. Er hatte Lea gegen elf aus der Kita abholen müssen, sie hatte angeblich Bauchweh. Davon war seltsamerweise nicht mehr die Rede, sobald sie in ihrem Kindersitz auf der Rückbank des Zafira Platz genommen hatte. Stattdessen hatte sie in ihrer plapperigen frisch erworbenen Fünfjährigkeit darüber geschimpft, wie bescheuert Rebecca und Greta waren, weil die immer mit ihrer Baby-Born-Puppe …

Alles klar, Entwarnung, bloß der tägliche Minizickenterror, hatte Simon gedacht, froh, dass er ihr nicht ernsthaft mit Fencheltee und Zwieback würde kommen müssen. Dann hatte er abgeschaltet und immer mal wieder Sachen wie »nein, wirklich?« und »die sind ja blöd!« nach hinten gerufen, das musste an väterlicher Aufmerksamkeit für den Moment reichen, waren eh immer dieselben Themen, und das waren definitiv nicht seine. Und Lilly war ja auch noch als Ansprechpartnerin für Lea da. Außerdem musste er sich darauf konzentrieren, die Augen offen zu halten und nicht in den Gegenverkehr zu schlingern.

Er war saumüde. Und hatte gehofft, später, während Lillys Mittagsschlaf, Lea vor den Fernseher setzen und selbst ein paar Minuten Augenpflege betreiben zu können, die Nacht war kurz gewesen, wie immer, so ist das mit Kindern von knapp über eineinhalb. Wenigstens halten normale Kinder zur Entschädigung Mittagsschlaf.

Lilly aber war in dieser Hinsicht nicht normal. Sie hatte ihn nur ausgelacht. Mittagsschlaf war nicht so ihr Ding. Ein Jahr und ein bisschen noch, dachte Simon, als er es wieder mal aufgab, ihr die Bauklötze hinstellte und sich einen Kaffee kochen ging, dann wäre Lea in der Schule mit Ganztagsbetreuung und Lilly im Kindergarten, und zwar anders als Lea täglich bis Betriebsschluss, das hatte er sich schon oft geschworen.

Er hatte es ja so gewollt. Neuer Vater und so, er fand das reizvoll. Anke war nach der Geburt von Lea zu Hause geblieben, er hatte übernommen, als Lilly abgestillt war. Das war noch kein Jahr her. Damals hatten ihm alle auf die Schultern geklopft. Auf dem Spielplatz im Fischers Park war er zwar nicht der einzige Vater, das war hier schließlich Ottensen, da war man gendermäßig deutlich weiter als anderswo im Land. Aber Simon war irgendwie der coolste. Er sah nämlich ganz gut aus, vor allem aber machte die lässige Selbstverständlichkeit, mit der er von der Spitze der Karriereleiter in die Niederungen der Sandkästen von Hamburg-Ottensen herabgestiegen war, Eindruck auf alle, die davon wussten. Und auf dem Fischi wusste jeder davon.

Simon war vor der Elternzeit Chefdisponent Deutschland bei Cineplexx gewesen, der zweitgrößten Kinokette des Landes, einunddreißig Lichtspielhäuser in sechsundzwanzig Städten mit insgesamt einhundertzweiundachtzig Leinwänden – mit ein bisschen gutem Willen könnte man behaupten, er sei der Herrscher über die Kinocharts gewesen. Jetzt machte seine Frau diesen Job, während er mit müdem Kopf versuchte, zwei Mädchen von eins und fünf und einen sehr viel älteren Hund in Schach zu halten.

Er ließ den Kopf wieder auf den Teppich sinken und schloss die Augen. Er hörte, wie Anke ihre Pumps abstreifte und sie in der Diele auf den Holzboden fallen ließ. Hörte ihre nackten Füße auf dem Boden näher kommen. Hörte, wie Lea grußlos zu einer »Du, Mama, weißt du, was Greta und Rebecca heute gemacht haben?«-Tirade anhob, hörte Zottel semiinteressiert brummen, spürte den Boden sanft beben, als Lilly unartikuliert krähend mit kleinen, energischen Schritten auf ihre Mutter zustampfte. Und dann spürte er, wie Anke sich breitbeinig auf ihn setzte. Er öffnete grunzend die Augen.

»Muss wohl eingenickt sein«, murmelte er entschuldigend.

»Schon klar«, sagte Anke. Lilly hockte auf ihrem Schoss und busselte sie ab. »Ist ja auch schon spät am Tag.«

»Wie spät?«

»Gleich halb sieben. Abendbrot fertig?«

»Fuck. Nee. Siehst du doch. Bin ich noch nicht zu gekommen.«

»Aha.«

Der Vorwurf in diesem »aha« war ein leiser. Sie hatte sich daran gewöhnt, dass sie beide die Angelegenheiten des Alltags in unterschiedlichen Geschwindigkeiten erledigten. Manchmal feierte sie Simon spöttisch dafür, dass er in Sachen Langsamkeit in ganz neue, bisher unentdeckte Dimensionen vorstieß. Aber sie hatte sich abgewöhnt, ihn anzutreiben, solange immer genug zu essen im Kühlschrank und ausreichend Bier im Keller war. Und sie hatte gelernt, Dinge einfach liegen zu lassen und darauf zu vertrauen, dass er den Kram schon erledigte, wenn es ihm in den Kram passte.

Sie drehte sich um in Richtung Esstisch. »Immerhin seid ihr zum Mittagessen gekommen. Das steht ja alles noch auf dem Tisch.« Kleine Spitzen konnte sie sich dann doch nicht verkneifen. Simon war ganz froh, dass sie auf ihm zu tief saß, um in die offene Küche zu schauen, wie sie mittlerweile obligatorisch war in diesen neuen Stadthäusern. Dort wartete das Frühstücksgeschirr immer noch darauf, in den Geschirrspüler einsortiert zu werden.

»Ja, sorry, ich weiß. War irgendwie anstrengend heute. Erst musste ich …«

»Erzähl mir das später, ich mach mir gleich ins Höschen. Ich muss so was von pullern.« Sie erhob sich ächzend, das Kleinkind auf dem Arm. »Ach ja, zum Briefkasten bist du anscheinend auch nicht gekommen.«

»Briefkasten?«

»Du weißt schon, dieses graue Dings neben der Haustür. Ist ganz praktisch, wenn einem jemand was schicken will. Hier, deine Post.«

Sie warf ihm ein paar Umschläge und zwei Karten auf die Brust, bevor sie Richtung Klo verschwand.

Zweimal Werbung. Eine verspätete Glückwunschkarte zu seinem Geburtstag vor zwei Tagen. Ein Abholschein für ein Paket – er fluchte leise, jetzt musste er schon wieder zu diesem beschissenen Kaltenkircher Platz, kilometerweit weg, und dann standen die Leute immer bis zur Straße, um ihr Scheiß-eBay-Zeugs abzuholen oder zurückzuschicken, da ging mal wieder mindestens eine Stunde Scheiß-Lebenszeit verloren.

Und dann sah er das Hamburger Stadtwappen.

»Sozialamt Hamburg-Eimsbüttel«, las er halblaut und war verwirrt.

Wieso Sozialamt?

Wieso Eimsbüttel?

Alle ihre zuständigen Behörden hatten doch mit dem Bezirk Altona zu tun.

Und wieso Sozialamt, verdammt noch mal?

Simon setzte sich umständlich auf, erhob sich und ging zu Lea an den Esstisch. Er roch an ihrem Haar und küsste es, bevor er sich neben sie setzte. Er riss den Behördenumschlag auf. Das erste Wort, das ihm ins Auge fiel, lautete »Zahlungsbescheid«.

»Hä?«, stieß er hervor und runzelte die Stirn.

»Was is, Papa?«, fragte Lea, offensichtlich multitaskingfähig, denn sie malte weiter an der Flanke eines Ponys, und Bibi Blocksberg hexte immer noch vor ihnen herum.

»Weiß ich noch nicht, Süße«, sagte er und kitzelte sie leicht am Hals. Die Bedeutung des Wortes »Zahlungsbescheid« hatte sein Hirn noch nicht ganz erreicht. Lea giggelte. Sie liebte das. Und er auch.

Dann las er weiter.

Sehr geehrter Herr Havlicek,

für die Pflege von Angehörigen, die sich in öffentlichen Pflegeeinrichtungen befinden, ist die Behörde...


Bartels, Stephan
Stephan Bartels, geboren 1967, freier Journalist, hat sich mit Texten für Stern, Die Zeit, Brigitte und Barbara einen Namen gemacht. Er ist Vater eines erwachsenen Sohnes und lebt in Hamburg.



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