E-Book, Deutsch, 476 Seiten
Ben Larbi / e.V. Einfach Arbeiten
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-347-88988-0
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 476 Seiten
ISBN: 978-3-347-88988-0
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Monia hat eine Passion für gesellschaftliche Transformation und fliegt etwa alle fünf Jahre von einem Thema zum anderen... sie hat u.a. eine Gemeinwesenmeditionsstelle aufgebaut, sich der Humorfoschung gewidmet, Ausbildungen für Politiker:innen aufgesetzt, Schul- und Dorfentwicklung unterstützt, New Work Organisationen gegründet und begleitet. Seit ihrer eigenen Erkrankung 2007 bewegt neben all diesen Themenstellungen sie sowohl wie Arbeiten mit chronischer Erkrankung gehen kann als auch welche kollektive Dimensionen individuelle Erkrankungen haben. Sie betreibt u.a. die Plattform Gesunde Kranke (gesunde-kranke.de), auf der sie Erfolgsgeschichten von chronisch Kranken in der Arbeitswelt aufbereitet.
Autoren/Hrsg.
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KAPITEL 1:
„WIR HABEN GUTE NEUIGKEITEN FÜR SIE. WIR SIND UNS EINIG, DASS WIR IN IHREM FALL EINDEUTIG EINE VERRENTUNG EMPFEHLEN.“
Ich saß im Flur vor einem Raum – neben mir drei andere sehr aufgeregte Patient: innen. Wir warteten auf das große Gespräch und hatten offenbar alle zur selben Zeit einen Termin. Für mich war es das erste Treffen dieser Art. Doch die Aufregung der schon erprobten Menschen neben mir war enorm ansteckend. Ich spürte, wie es unter meiner Haut zu kribbeln begann. Ich wusste, dass ich zu schnell reden und zu viel lachen würde und abends im Bett mich wieder einmal mit meiner Scham konfrontieren müssen würde. So war die Wahrscheinlichkeit wirklich sehr gering, dass ich diesen ruhigen, aufgeräumten, leicht erhabenen Eindruck machen würde, den ich vor meinem inneren Auge schon so klar hatte. Ich hatte mich auf dieses Gespräch wirklich gefreut. Ich war jetzt seit fünf Wochen in der Reha-Klinik und hatte bewusst die Psychosomatik und nicht die Neurologie gewählt, weil ich die Zusammenarbeit zwischen Psycholog: innen und Ärzt: innen rundum überzeugend fand. Dies war nun endlich der Tag, an dem wir, in meiner Vorstellung, alle gemeinsam aus vielen Perspektiven auf mich blicken und gemeinsam überlegen würden, was jetzt wohl die besten nächsten Schritte sein könnten. Doch die erfahrenen Patient: innen neben mir sprachen im Rechtsjargon: Sie erwarteten ein Tribunal, ein Urteil von einem Gericht, das über ihre Zukunft entscheiden würde. Hier wurden die Entscheidungen über Leben und Tod oder doch wenigstens über die Rückkehr in ein Leben, das sich anfühlt wie Sterben, getroffen. Mir schwammen sofort die Felle weg. Ich war auf Denkpartner: innen vorbereitet, nicht auf ein Gericht.
„Das wird doch nie was!“, schoss es mir durch den Kopf.
Menschen, die mich kaum kennen, finden mich immer äußerst sonderbar. Ich bin nicht gut in ersten Eindrücken – auf jeden Fall nicht in ersten durchschnittlich geistig gesunden Eindrücken. Als ich nun die Reaktionen meines Körpers spürte, wusste ich, dass ich dem nicht gewachsen war… mal wieder nicht. Wieder würde ich nicht Zen genug sein, um nicht die gesamte Maschinerie der Diagnostik anzuwerfen. Wieder einmal würde ich diesen geheimnisvollen Test nicht bestehen, der die Pforte zur Augenhöhe öffnet. Ein Teil von mir blieb jedoch – wie immer – cool und zuversichtlich. Nur weil diese Menschen es als Tribunal empfanden, musste das ja nicht stimmen. Ich habe oft eine andere Wahrnehmung auf Systeme. Vielleicht können oder wollen andere Patient: innen nicht selbst die Verantwortung übernehmen und die Therapeut: innen und Ärzt: innen können gar nicht anders, als dann Entscheidungen für sie zu treffen. Ich freute mich seit Wochen auf dieses Treffen, auf die Beratung aus vielen Perspektiven, auf den Moment des gemeinsamen Forschens und Denkens. Zwar übertrugen sich immer die Gefühle aller Anwesenden auf mich, doch da konnte ich mich ja vielleicht hindurch atmen.
Als ich an der Reihe war, zitterte ich trotz bewusstem Atem leicht. Ich betrat ein winziges Zimmer, in dem fünf Menschen saßen, von denen ich drei noch nie gesehen hatte und ich einen nur aus einem Vortrag in der Einführungswoche kannte. Sie alle saßen im Halbkreis auf Sofas und Sesseln. Quer vor ihnen stand ein Holzstuhl: für mich. Während sie scheinbar bequem gemeinsam im Wohnzimmer saßen – Kaffee und Wasser vor sich – fühlte ich mich winzig, obwohl ich theoretisch über ihnen thronte. Meine Therapeutin, die sonst reizend und herzlich war, übernahm sehr professionell und kühl die Moderation. Nichts deutete darauf hin, dass wir uns gut kannten und seit fünf Wochen intensiv zusammenarbeiteten. Sie gab den Anwesenden einen Überblick über ihre Diagnosen und ihre Einschätzung. Sie diskutierten ein wenig darüber, ob sie denn lieber die eine oder andere Diagnose in die Akte aufnehmen sollten. Von beiden Möglichkeiten hatte ich noch nie etwas gehört. Schließlich fragte mich der Mann, in dessen Richtung alle sprachen – in meiner Fantasie der Chefarzt – in perfekt artikulierten Worten nach meiner eigenen Einschätzung. Es war klar, dass sie eine Antwort in Sekunden und nicht Minuten erwarteten.
„Das kann ich noch nicht“, wollte ich sagen. „Ich habe noch keine fertigen Worte. Die wollte ich mit Ihnen gemeinsam suchen.“
Mein Mund brabbelte allerdings etwas ganz anderes und versuchte, der Situation zu gehorchen. Ich schien seine Meinung bestätigt zu haben. Danach durfte ich wieder gehen. Aus irgendwelchen Gründen bedankte ich mich noch und lächelte freundlich zum Abschied – ein Lächeln, das jedoch niemand erwiderte.
Vor der Tür saßen schon wieder neue Patient: innen und warteten und ich verließ schnell das Gebäude, bevor ich sie mit meiner Übererregung anstecken konnte. Schon auf dem Weg in mein Zimmer spürte ich den Anfall in mir hochsteigen. Ich schaffte es noch bis zum Klo und übergab mich so lange, bis ich auf dem Badezimmerboden einschlief. Später saß ich dann bibbernd mit dem Rücken an den knallheißen Heizkörper gelehnt und wartete, bis die Zuckungen meiner Muskeln wieder abebbten. Wie gut, dass ich mich hier so heimisch fühlte und einen eigenen Ort hatte, an dem mir das nicht peinlich sein musste.
Tatsächlich mochte ich die Reha. Meine Therapeutin war – wenn nicht gerade gefangen in einer professionellen Rolle – herzlich, mitfühlend, streng und ehrlich. Außerdem war sie hübsch, was aus irgendwelchen Gründen guttat. Sie hatte sehr schnell verstanden, was ich konnte und was nicht. Ich hatte sehr wenige Termine und nur solche, die wenig Kommunikation erforderten. Ich ging still in der Gruppe im Wald spazieren und guckte mir Blätter und Pilze an. Das Klinikgelände war riesig und im Spätherbst wunderschön. Ich malte und bastelte, nahm aber nur selten an den Auswertungen in der Gruppe teil. Zweimal in der Woche hatte ich einen Termin bei meiner Therapeutin und zweimal ging ich zu einer reizenden Physiotherapeutin, die mir tolle Dinge beibrachte, die wirklich ein wenig halfen. Ich tanzte. Das wirkliche Geschenk für mich war, dass ich dreimal am Tag ernährt wurde. Die Menschen an meinem Tisch waren meistens nett und die Essenszeiten waren genau das Maß an Kommunikation, das ich vertragen konnte, ohne Anfälle zu kriegen. So war ich nicht einsam, aber gerne allein. An den Wochenenden war meine Tochter Chloë bei mir und wir gingen schwimmen oder in die Stadt. Meine Abende verbrachte ich in der offenen Werkstatt und malte, töpferte, gestaltete und modellierte mich durch verschiedenste Techniken hindurch. Die Anerkennung, die ich für meinen einmaligen Umgang mit den Materialien erhielt, tat gut. Ich fühlte mich insgesamt gut aufgeräumt. Nur Ärzt: innen hatte ich – bis auf die Eingangsuntersuchung – noch keine getroffen. Aber die Wahrheit war, dass ich mich mit Therapeut: innen eh wohler fühlte, denn sie hatten Zeit, mich kennenzulernen. Ich verbrachte viel Zeit damit, darüber nachzudenken, was ich konnte und was nicht. Zudem versuchte ich Worte für meine Symptome zu finden, damit andere Menschen einen Zugang finden und mit mir denken könnten. Alles war gut. Sogar für meine Anfälle, die noch keinen Namen hatten, hatte ich einen sicheren Raum.
Am nächsten Tag erfuhr ich dann von meiner Therapeutin, was die Runde nach meinem Weggang ohne mich beschlossen hatte. Sie war stolz. Sie hatte dafür gekämpft, dass ich eine Somatisierungsstörung und keine Konversionsstörung hatte, was offenbar hieß, dass meine Symptome echt und nicht erfunden oder übertrieben seien. Trotz starker Widerstände der Ärzt: innen hatte sie sich nicht beirren lassen und darauf bestanden, dass sie mich als Einzige wirklich kennen würde. Ich merkte, dass das, was sie für mich getan hatte, sehr anerkennenswert war. Ich hatte keine Ahnung, was ich jetzt davon haben sollte, sagte aber brav Danke. Sie meinten zudem, dass ich eine histrionische Persönlichkeitsstörung habe, was aber aus ihrer Sicht ganz normal sei, da ich ja tunesische Anteile habe.
„Die Deutschen reagieren auf traumatische Ereignisse in der Regel mit Angststörungen, die Südländer eher hysterisch“, erklärte sie.
Nun kam die eigentlich gute Neuigkeit. Sie strahlte förmlich. Sie hatte sich durchgesetzt. Die anderen hatten ihr geglaubt, dass es mir wirklich so schlecht ging: Sie waren sich alle einig, dass ich auf keinen Fall arbeitsfähig, ja nicht einmal kontaktfähig war.
„Wir haben gute Neuigkeiten für Sie. Wir sind uns einig, dass wir in Ihrem Fall eindeutig eine Verrentung empfehlen.“
Jackpot. Ich hatte den heiligen Gral der Reha geschenkt bekommen. Doch ich konnte sie jetzt leider nur enttäuschen.
Ich lächelte vorsichtig: „Das ist sehr lieb von Ihnen und ich schätze Ihr Engagement sehr, aber ich werde auf gar keinen Fall mit Anfang Dreißig in Rente gehen. Aber danke...




