E-Book, Deutsch, 317 Seiten
Bode / Wilke Private Vorsorge als Illusion
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-593-42497-2
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Rationalitätsprobleme des neuen deutschen Rentenmodells
E-Book, Deutsch, 317 Seiten
ISBN: 978-3-593-42497-2
Verlag: Campus
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Ingo Bode ist Professor für Sozialpolitik am Institut für Sozialwesen der Universität Kassel. Felix Wilke, Dipl.-Soz., ist dort wissenschaftlicher Mitarbeiter.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Inhalt
I. Einleitung9
II. Alterssicherung im Wandel19
1. Die gesetzliche Rentenversicherung auf Sparflamme20
2. Mit der zweiten Säule zu alter Stärke?26
3. Die dritte Säule als Wanderbaustelle33
4. Fazit: Auf dem Pfad der De-Kollektivierung41
III. Ein politisch rationaler Paradigmenwechsel?43
1. Illusion 1: Reformen aus gemeinsamer Einsicht in das Notwendige45
2. Illusion 2: Ein klarer Pfadwechsel auf gerader Strecke61
2.1 Die Rekonstruktion der ›Sinnbasis‹ des neuen Rentenmodells: Unser Analyseansatz65
2.2 Die offizielle ›Sinnbasis‹ des deutschen Reformmodells im Wandel70
2.3 Das neue Rentenmodell als Gegenstand der öffentlichen Debatte84
3. Fazit: Rentenpolitik ohne klares Visier95
IV. Umbau als Gebot der ökonomischen Vernunft?98
1. Illusion 3: Eine Volkswirtschaft kann sparen100
1.1 Sparen durch mehr Wachstum?104
1.2 Sparen mit Hilfe aus dem Ausland?111
2. Illusion 4: Ein Kapitaldeckungsverfahren ist sicher (und dann kam die Finanzkrise)114
3. Fazit: ›Rentenökonomie‹ mit leidigen Nebenwirkungen119
V. Vorsorge als Privatgeschäft? Die soziale Praxis privater Alterssicherung123
1. Der Mainstream in der aktuellen Forschung124
1.1 Deskriptive Studien und die Rolle ökonomischer Anreize126
1.2 Komplexere Erklärungsansätze und deren empirische Grundlage129
2. Individuelle Vorsorge als sozialer Prozess - Der soziologische Blick133
2.1 Die Relevanz sozialer Einbettung134
2.2 Auf der Suche nach Orientierung: Vorliegende Befunde142
3. Illusion 5: Nur das Individuum zählt - Ein Zwischenfazit zum Stand der Forschung153
4. Unsere Studie: Ausgangsposition und Untersuchungsdesign155
4.1 Datengrundlagen und Analysetechniken155
4.2 Auswertungsstrategie im Rahmen eines Mixed-Method-Designs174
5. Qualitative Befunde177
5.1 Der Orientierungsprozess im sozialen Umfeld179
5.2 Orientierung durch Medien?187
5.3 Anbieterberatung im Orientierungsprozess189
5.4 ›Vorsorgertypen‹ - Die Vielfalt im Zusammenspiel203
5.5 Zusammenfassung der qualitativen Befunde212
6. Auf dem Weg zu einer quantitativen Analyse: Elf Hypothesen214
6.1 Hypothesen zum Orientierungsprozess215
6.2 Hypothesen zum Einfluss sozialer Einbettung auf die Vorsorgeentscheidung218
7. Quantitative Befunde220
7.1 Die Verbreitung der Riester-Rente221
7.2 Die Stellung von Planung und Marktsondierung im Vorsorgeprozess235
7.3 Orientierung jenseits des Marktes - Die soziale Einbettung der Vorsorgepraxis240
7.4 Der Zusammenhang zwischen sozialer Orientierung und Vorsorgeumfang266
7.5 Zusammenfassung der quantitativen Befunde269
8. Auf verschlungenen Pfaden zur Vorsorge271
9. Illusion 6: Alles nur eine Frage des Wissens und des Geldes - Ein Fazit zu unserer empirischen Studie281
VI. Private Vorsorge ›ohne Ende‹?284
Abbildungen287
Tabellen289
Literatur290
Anhang313
Variablenbeschreibungen quantitative Auswertungen313
Leitfaden halbstrukturierte Interviews316
Leitfaden Experteninterviews317
I. Einleitung
Das deutsche System der Alterssicherung ist nicht mehr das, was es einmal war. Wie seine Pendants in den meisten anderen westlichen Ländern (Orenstein 2013; Holzmann 2013) durchläuft es seit den 1990er Jahren einen tief greifenden Wandel, der ihm eine neue Geschäftsgrundlage verschafft hat. Die Systemumstellung lässt sich auf einen einfachen gemeinsamen Nenner bringen: Rückbau staatlicher beziehungsweise öffentlich verant-worteter Programme bei gleichzeitiger Verbreit(er)ung individualisierter und marktlicher Organisationsformen. Es ist ein neuer ?welfare mix? entstanden, in dem Programme der Mindestversorgung, Sozialversicherungen, Einrich-tungen der betrieblichen Alterssicherung und verschiedene Spielarten individueller Eigenvorsorge ein komplexes Ensemble heterogener Systemsäulen bilden.
Damit verbunden ist das Ende einer Epoche, die sich durch Tendenzen der kollektiven Durchorganisierung des Alters beziehungsweise dessen 'Verstaatlichung' (Prahl/Schroeter 1996: 54) ausgezeichnet hatte. Die genannten Veränderungstendenzen stehen für einen schrittweise vollzogenen Prozess der De-Kollektivierung - und zwar im internationalen Maßstab. Aus deutscher Sicht kann man auch von einer Teilprivatisierung der Alterssicherung sprechen, denn die Anteile des öffentlich kontrollierten Sicherungssegments sind geschrumpft, während die relative Bedeutung privat organisierter Sicherungsarrangements zunimmt. Entscheidungen, die den Ressourcenzufluss am Lebensabend der Menschen betreffen, sind also weniger stark institutionalisiert und werden in höherem Maße individuell verantwortet - im Übrigen meist auch dort, wo die betriebliche Altersvorsorge in die Bresche springt.
Zumindest für Deutschland kann man also von einem pfadbrechenden Wandel (Lamping/Rüb 2004: 175; Ebbinghaus u.a. 2011) sprechen. Doch war dieser Wandel Ausdruck einer klaren und alle Betroffenen über-zeugenden politischen Marschroute? Ist er eingetreten, weil er aus volkswirtschaftlicher Sicht alternativlos war? Und funktioniert die zu einem tragenden Element gemachte private Vorsorge, die ja das auffälligste Novum im System der Alterssicherung darstellt, in der sozialen Praxis so wie jedes andere Privatgeschäft? All dies ist seit den Umbauten zu Beginn der 2000er Jahre im Mainstream der (ver)öffentlich(t)en Meinung als selbstverständlich betrachtet worden. Es wurde angenommen, dass die neuen Organisationsformen aus ökonomischer Sicht die bessere Wahl sind und eine größere individuelle Kontrolle bzw. Passgenauigkeit der Alterssicherung ermöglichen. Der Systemumbau, so der vorherrschende Diskurs im Mainstream der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, aber auch in Politik und Öffentlichkeit, liege im Mehrheitsinteresse der Bevölkerung, zumal sich nur so die demografischen Herausforderungen der Gegenwartsgesellschaft meistern ließen. Auf dem Weg in eine zukunftsfeste Alterssicherung erschienen die Abschmelzung der umlagefinanzierten Systeme und die gleichzeitige Aufwertung kapitalgedeckter (privater bzw. markt-orientierter betrieblicher) Vorsorge als 'schlichte Notwendigkeit' (Marschallek 2004).
Gewiss gibt es mittlerweile Zweifel an der Leistungsfähigkeit vor allem der individuell arrangierten privaten Vorsorge in Gestalt der sogenannten Riester-Verträge (Hagen 2012). Zudem werden die Folgen, die die Rentenreformen der jüngeren Vergangenheit für sozial schlechter gestellte Teile der Bevölkerung höchstwahrscheinlich haben werden, in der Öffentlichkeit vermehrt diskutiert. Die seit Ende 2013 amtierende Bundesregierung hat Reformen auf den Weg gebracht, die Erwerbsminderungsrisiken besser absichern, unter bestimmten Bedingungen einen vorzeitigen Renteneintritt ermöglichen und verstärkt Kindererziehungszeiten berücksichtigen. Am durch die ?Riester-Reformen? stärker de-kollektivierten Or-ganisationsmodus der Alterssicherung wird gleichwohl festgehalten. Jedenfalls sind in den etablierten Parteien, soweit sie bislang Regierungsverantwortung übernommen haben, kaum durchgreifende Reaktionen auf die durch die Finanzmarktkrise zutage getretenen Schwierigkeiten im Bereich der kapitalgedeckten Vorsorge zu erkennen. Die (vermeintlich) ?gute Mischung? aus verschiedenen Organisationsformen gilt weiterhin als ver-nünftigste Option bei der Ausgestaltung der Alterssicherung.
Mit dieser Einheitsmeinung korrespondiert eine eigentümliche Zurückhaltung bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Realität der ?schönen neuen Rentenwelt?. Zwar finden sich Arbeiten, die explizit oder implizit auf Bruchstellen einer pluralisierten Alterssicherung verweisen. Offensichtlich ist - nachdem nicht wenige Sozialpolitikforscher in der De Kollektivierung der Alterssicherung zunächst eine gewinnbringende Modernisierung des Wohlfahrtsstaats gesehen haben (für viele: Nullmeier 2003) - die Sensibilität für die prekäre Basis des veränderten ?welfare mix? gewachsen. Eine eingehende Auseinandersetzung mit dem neuen deutschen Rentenmodell hat aber bislang noch nicht stattgefunden. Gut ein Jahrzehnt nach dem Einstieg in das 'Mehrsäulenparadigma' (Berner 2009) steht eine umfassende - ökonomische, politische und soziale Dimensionen gleichermaßen einbeziehende - Analyse der neuen Verhältnisse weiterhin aus.




