E-Book, Deutsch, 182 Seiten
Bothe Erinnerungen an ein Stück Leben
2. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7526-0343-9
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 182 Seiten
ISBN: 978-3-7526-0343-9
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die vorliegende Publikation besteht aus einundzwanzig short-stories. Sie sind als fiktional-biografische Erzählungen geschrieben. Der größte Teil der Geschichten spielt im Ruhrgebiet der 1960er bis 1970er Jahren; die letzten Kapitel beschäftigen sich mit der schwierigen Annäherung des Autors an seine "alte" Heimat. Die Besonderheit des Textes liegt in einigen Passagen im Gebrauch des regionaltypischen Idioms.
Peter Bothe *in Recklinghausen jetzt wohnhaft in St. Peter-Ording Publikationen: Euterpe-Jahrbuch f. Literatur III Husum-Druck Husum "Im Auge des Dichters" Lyrikanthologie Quintus-Verlag Berlin "Neue Wahrheiten" Märchenanthologie net-verlag Chemnitz "Größe spüren" Musikgedichte Edition kunst & dichtung Leipzig "Musenblätter" Online-Magazin Wuppertal versch. Publikationen bei Verlag Henselowsky&Boschmann Bottrop
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Wir Blagen...
„Wir sindan nomma wech, bein Hemmann, en Pils trinkn, un mach kain Scheiß!“, so oder ähnlich verabschiedeten sich meine Eltern des Öfteren. Ich lag schon meist im Bett und durfte noch lesen. Wenn ich dann die Haustür zuklappen hörte, stand ich auf, ging in ihr Schlafzimmer, das sein Fenster nach Westen zur Straße hatte, setzte mich auf die breite Fensterbank und schaute auf die Fahrbahn. Direkt vor unserer Wohnung stand eine Laterne, die einen zehn Meter-Lichtkegel auf den glänzenden Asphalt warf. Daneben befanden sich gleich die Schienen der Straßenbahn und rund dreihundert Meter entfernt Richtung Westen hörte man die Züge von Münster nach Essen. Das Geräusch der Eisenbahn war unheimlich; erst ein undefinierbares Rauschen, dann der klopfende Rhythmus der Schienenstöße. Bevor der Zug die Brücke zu überqueren hatte, musste Geschwindigkeit gedrosselt werden; die Bremsen quietschten, das Rattern über der Brücke wurde lauter und dann verschwanden Bahn und Geräusch nach Süden. Diese Wahrnehmung aus dem Dunkel erinnerte mich an ein konturloses, gefährliches Wesen, an eine undefinierbare Bedrohung denken, obwohl ich wusste, dass der Zug sie verursacht hatte. Mir lief jedes Mal ein Schauer über den Rücken. Doch neben dem Gruselgefühl gab es ein kribbelndes, nicht unangenehmes Ziehen in der Magengegend; es war ein diffuses Empfinden, das ich nicht einordnen konnte. Erst als ich älter war, wurde mir die Bedeutung klar. Ich war bisher immer nur entweder bis nach Essen oder Münster mit dem Zug unterwegs, wusste aber, dass er bis Paris, München, Berlin oder wer weiß wohin noch fuhr. Einmal drin sitzen und nicht nur über Gelsenkirchen bis Hauptbahnhof Essen! Ich wollte an die Nordsee, an die Alpen und am liebsten alles gleichzeitig, wollte raus aus dieser dunkelgrau verhangenen Stadt, in der nur vom Pütt und Fußball gesprochen wurde, richtige Wellen an den Füßen spüren und nicht bloß das Geplätscher der Kohlekähne auf dem Rhein-Herne-Kanal hören, wollte Schnee auf den Bergen anfassen, der strahlend weiß und nicht schon nach einer Stunde modderige Pampe war. Wenn es hoch kam, sind wir an die Mosel gefahren, aber Weinberge sind nun mal keine Alpen, und die Mosel nicht viel besser als unser Kanal. Es klingelte die Straßenbahn; hundert Meter von uns entfernt war die Haltestelle der Linien 5, 8 und 18. Manchmal benutzte ich mein billiges Fernglas von der Kirmes, um zu sehen, wer ein- oder ausstieg; im Dunkeln konnte man aber wegen der beleuchteten Fenster die Leute auch so erkennen. Um diese Zeit kam meist der mickrige Paluch nach Hause; er hatte Mittagsschicht und ging von der Haltestelle immer gleich zu Zappe, der Trinkhalle; ich hab nie verstanden, wieso diese kleine Bude Halle hieß. Aber so hieß sie nun mal. Ich wusste, da trank er drei, vier Underberg und zwei Pullen Bier. Auch Roswitha, meine große Liebe, stieg aus; sie muss so um die Sechzehn gewesen sein, arbeitete als Verkäuferin in der Innenstadt und hatte immer die neuesten Klamotten an. Mit den schwarzen, langen Haaren, den geschminkten Augen und einem tollen Busen war sie meine große Liebe. Ich war viel zu jung, als dass sie mich auch nur angesehen hätte. Dafür poussierte sie gern mit den Halbwüchsigen aus unserer Straße. Aber so richtig hat sie keinen ran gelassen. Heute wurde sie von Alfred abgeholt; Alfred, der sich gerne wie ein richtiger Halbstarker „Ted“ nannte. Auch Frau Strotenkötter, die schwerfällig die hohen Stufen der Bahn hinunterstieg, wohnte in der Nachbarschaft. Sie sah immer irgendwie bekümmert aus mit ihrem Schlottermantel und den dunklen Falten um die Nase. Wir mochten sie eigentlich nicht, weil wir wohl auch ein wenig bange vor ihr waren. Ich kam später ganz gut mit ihr klar; möglicherweise auch, weil sie mir ganz vertraut eine Menge aus ihrer Familie erzählt hat. Als Letzter tappte dann Opa Jendrich aus der Linie 5; er ist sicher in der Stadt gewesen, um in der Tierhandlung irgendwas für seine Bienen zu besorgen. Die Linie 5 war die älteste Bahn der Straßenbahngesellschaft. Sie war ein stumpfnasiger, hoher Kasten, die man schon von weitem an ihrem Geklapper hören konnte. Der Stromabnehmer sprühte bei jeder Gelegenheit Funken. Die Türen ließen sich nur öffnen, wenn man durch einen Daumendruck zunächst die Verriegelung lösen und anschließend die Schiebetür auf zerren musste. Für uns Kinder, die morgens mit der Bahn in die Schulen der Innenstadt fuhren, war das ein ordentlicher Kraftakt. Oft gab es dann Gemecker, wenn es für die dahinter stehende Warteschlange nicht schnell genug ging. Drinnen roch es nach dem feuchten Holz der Sitzbänke und den dicht gedrängt stehenden Menschen. Die Linien 8 und 18 waren moderner, mit sich selbstständig öffnenden und schließenden Türen, Kunststoffpolstern und automatischer Haltestellenanzeige. Die Türautomatik funktionierte nicht immer reibungslos; da kam es schon mal vor, dass Leute eingequetscht wurden. Dann war groß Theater! Auch tagsüber saß ich, wenn es regnete oder überhaupt scheiß Wetter war, gerne auf der Fensterbank. Dann fotografierte ich mit meiner kleinen Agfa-Pocket die vorbei fahrenden Autos; natürlich spielte die Marke eine Rolle. Gogos oder Käfer waren für mich kein Motiv. Es sei denn, die Nummernschilder wiesen darauf hin, dass die Autos von weit her kamen. Obwohl man nachher auf dem Foto das Kennzeichen nicht mehr lesen konnte, wusste ich immer ganz genau, aus welcher Ecke der Bundesrepublik der jeweilige PKW stammte. Meine Star-Fotos waren ein BMW Bertone und ein Maserati. Bald kannte ich fast alle Marken und Modelle, bekam ein extra Fotoalbum und wunderte mich, dass meine Eltern für die zig Autobilder das Geld ausgaben. Als ich zehn oder elf Jahre alt war, wurde ich ernsthaft krank; ich hatte heftige Bauchschmerzen, einen heißen Kopf und war schlapp. Ich musste ins Bett und unser Hausarzt wurde gerufen. Dr. Schädel hieß nicht nur so, sondern hatte tatsächlich einen riesigen Kopf und eine dröhnende Bassstimme. „Der Junge hat Blinddarm, der gehört ins Krankenhaus“. Nun bin ich noch nie in einem Krankenhaus gewesen und auch nie operiert worden. So hatte ich schon ziemlich Bammel! Alles war mir fremd, das Hemd, das nur im Nacken geknotet wurde, aber sonst hinten alles offen ließ, das Essen, die Menschen. Vor der Operation hatte ich eigentlich keine Angst, sondern war höchstens aufgeregt. Nachdem ich eine Spritze bekam, von der ich nichts spürte, versank alles im Dunkel; als ich wieder aufwachte, spürte ich nur ein dickes Pflaster am Unterbauch. Neben mir lag ein Kerl mit eingegipsten Bein, so um die Zwanzig. „Na, du Stippi, haste endlich ausjepennt?“ Ich verstand nur die Hälfte, bis ich rauskriegte, dass er aus Berlin kam. Wenn abzusehen war, dass demnächst kein Arzt oder keine Schwester auftauchen würden, musste ich ihm beim Aufstehen helfen, damit er ans Fenster gehen und eine durchziehen konnte. Da hab ich auch zum ersten Mal geraucht. Sonst hat der nur von Berlin, seinen tausend Frauen, die er gehabt hat, und von legendären Schlägereien gedröhnt. Als dann bei einer Visite mir ein Arzt das Hemd hochschob, um sich die Operationsnarbe anzusehen, wurde ich puterrot, weil alle, auch die jungen Schwesternschülerinnen, meinen kleinen Pimmel sehen konnten. Der Berliner darauf, als alle gegangen waren: „Hey, Kleener, haste schon mal jepimpert?“ Dann zog er sein Krankenhaushemd hoch und meinte: „Haste de Haare am Sack, kannste auch pimpern. Kommt schon noch!“ Ich träumte nachts von Haaren am Sack. Wieder zu Hause zeigte mir Mami - wir sagten Mami zu unserer Mutter - einen Brief unseres Gymnasiums, in dem mitgeteilt wurde, dass ich zur Aufnahmeprüfung zugelassen worden bin. Ein großes Hallo in der Familie! Alle beteiligten sich an Zukunftsplänen für mich: Oma wollte, dass ich Priester werde, meine Mami dann auch, weil sie nicht widersprechen wollte, mein Vater sagte nichts. Ich musste drei Tage vormittags in diesem Riesenklotz von Schule Prüfungen in verschiedenen Fächern ablegen. Dann sollte es noch ungefähr eine Woche dauern, bis man Bescheid bekäme. Die Schule war eine reine Jungenschule, dazu früher noch Klosterschule. Die Religionslehrer waren natürlich Priester, und die Schüler mussten jeden Mittwochmorgen vor der Schule in die schuleigene Klosterkirche zur Messe. Der Priesterwunsch von Oma und Mami war hier also bestens aufgehoben! Doch es sollte alles anders kommen… Am ersten Tag hatte ich Herzklopfen und schweißige Hände, als ich die Schule betrat, über irre lange, glänzend polierte Flure den Klassenraum erreichte, in dem unsere erste Prüfung stattfinden sollte. Die Tür stand offen, und es saßen schon einige Jungs in meinem Alter in den Bänken. Natürlich wurde ich beäugt und inspiziert und wollte eigentlich gleich wieder umdrehen; ich sah sofort, ich gehörte nicht zu ihnen. Schicke Hosen und Pullover, blank geputzte Schuhe, manche sogar mit Hemd und Schlips. Die Haare nach der neusten Mode. Ich wollte nur weg. Aber da stand schon der Lehrer in dunkelgrauem Anzug mit blauer Fliege an der...




