Burnside | Die Spur des Teufels | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 256 Seiten

Burnside Die Spur des Teufels

Roman
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-641-17062-2
Verlag: Knaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 256 Seiten

ISBN: 978-3-641-17062-2
Verlag: Knaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Einer der brillantesten Romanciers unserer Zeit.' Die Weltwoche
Michael Gardiner lebt mit seiner Frau zurückgezogen am Rande des schottischen Küstenortes Coldhaven. Eines Morgens liest er in der Lokalzeitung, dass sich seine Jugendliebe Moira umgebracht und ihre beiden kleinen Söhne mit in den Tod genommen hat - nur ihre Tochter Hazel ließ sie am Leben. Moiras Selbstmord lässt in Michael schlagartig Erinnerungen wach werden, die er lange Zeit verdrängt hat ...

John Burnside (1955-2024), geboren in Schottland, zählt zu den profiliertesten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. Der Lyriker und Romancier wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Corine-Belletristikpreis des ZEIT-Verlags, dem Petrarca-Preis und dem Spycher-Literaturpreis. Mit 'Lügen über meinen Vater' (2006), 'Wie alle anderen' (2010), 'Über Liebe und Magie - I put a spell on you' (2014) und 'What light there is - Über die Schönheit des Moments' (2020) schrieb er mehrere Memoirs, die von Kritikern wie Lesern begeistert gefeiert wurden. Zuletzt erschien sein Erzählband 'So etwas wie Glück: Geschichten über die Liebe'. 2023 wurde er mit dem renommierten David Cohen Prize für sein Lebenswerk ausgezeichnet. John Burnside verstarb am 29. Mai 2024 nach kurzer Krankheit im Alter von 69 Jahren.
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Le Reniement de Saint Pierre

Es war meine Mutter, die mich das Sehen lehrte. An manchen Tagen ging sie durch das Haus und gab vor, die Dinge nicht für das zu halten, was sie waren – die Möbel, die Büsche im Garten, die Mäntel im Flur –, damit sie ihre Schatten besser sehen konnte. Es war ein Spiel, aber eines mit ernstem Hintergrund, denn sie arbeitete mit Schatten: Schatten und Licht, Ergänzungen, nicht Gegensätze. Sie suchte Bilder in den Büchern ihrer Kunstsammlung aus und gab sie mir gelegentlich zum Anschauen, wies auf die Lichtquelle hin und zeigte mir, worauf ich bei den Schatten achten sollte, wie tief und dunkel einige waren, wie blass und unbestimmt andere, und dass sie alle – ein Gemeinplatz, gewiss, aber auch der Quell mancher Freude – ihre eigene, unterschiedliche, oft überraschende Farbe besaßen. Sie gab mir im eigentlichen Sinn keinen Kunstunterricht, machte mich aber auf das ein oder andere aufmerksam, das ich für selbstverständlich hielt, sei es in der realen Welt oder in einem Buch, und ein Schatten wurde sichtbar, ein Aspekt eines Gegenstandes oder einer Person, den ich bis dahin übersehen hatte. Eines ihrer Lieblingsbilder stammte von Georges de la Tour und zeigt den heiligen Josef, dem ein Engel erscheint: Josef ist neben einer brennenden Kerze eingeschlafen, der Kopf ruht in der Rechten, aus der Linken entgleitet ihm gerade ein Buch. Der Engel, der wie eine junge Frau aussieht, steht vor ihm, einen Arm angehoben, sodass er für den Betrachter die Kerze verdeckt, die einzige Lichtquelle, weshalb zwar Haar, Gesicht und die schwarzsilberne Schärpe, die der Engel um die Hüfte trägt, in Licht gebadet sind, wir aber nur die Flammenspitze der Kerze sehen können; und Josef selbst ist nichts als ein Spiel warmer Schatten von goldenen über braunen bis zu fast schwarzen Farbtönen. Auf der gegenüberliegenden Seite war Petrus verleugnet Christus von 1650 zu sehen, ein Bild, das einen furchtsam dreinschauenden, etwas ältlichen Mann in ebenjenem Moment zeigt, in dem sich seine Welt in nichts auflöst – und hier wird der dramatische Effekt dadurch erzielt, dass eine Kerze oder eine Laterne von einem der Soldaten verdeckt wird, die an einem Tisch würfeln und deren Haltung zugleich zwanglos und bedrohlich wirkt, die Mienen grobschlächtig und gierig, Männer, in deren Gesellschaft sich der alte Fischer offensichtlich unwohl fühlt. Der Effekt wird durch eine weitere verdeckte Lichtquelle verdoppelt, durch eine Kerze, die von einer Bediensteten gehalten wird und die, wie die Kerze bei der Erscheinung des heiligen Josefs, fast nicht zu sehen ist. Doch während die verborgene Lichtquelle im ersten der beiden Bilder das verzückte Gesicht des Engels erhellt, dient sie in Petrus verleugnet Christus nur dazu, die Hässlichkeit zu betonen, Petrus’ Angst, entdeckt zu werden, vor allem aber die schiere Brutalität des Soldaten mit der roten Mütze.

Malcolm Kennedy starb in der Grube. Ich malte mir aus, wie er unterging, wie sich die Lungen mit dem schwarzen, öligen Wasser füllten, und ich fragte mich, ob ich die ganze Zeit schon gewusst hatte, dass es so kommen würde. Ich weiß darauf keine Antwort. Ich musste es gewusst haben, und ich musste es gewollt haben, doch war mir damals nicht klar, dass ich es darauf angelegt hatte. Ich wollte ihn bloß für das bestrafen, was mir von ihm angetan worden war, und als ich am nächsten Montag in der Schule die Neuigkeit hörte, war ich ehrlich überrascht. Zugleich fühlte ich mich völlig unschuldig. Und er tat mir nicht im Geringsten leid. Schließlich bedeutete er mir nichts. Ich hatte nicht einmal Angst, dass man mir auf die Schliche kommen könnte, zumindest nicht seitens der Behörden. Als sich die Nachricht verbreitete, dass er ertrunken war, wurde die Schule von einer merkwürdigen Welle der Erregung gepackt: Jemand, den wir kannten, war tot, und er war unter geheimnisvollen, tragischen oder auch nur ungewohnten Umständen gestorben. Alle fragten sich, was er im Kalkschuppen gesucht hatte, doch niemand fand seine Anwesenheit dort verdächtig. Später behaupteten die Leute, sein Tod sei ein Unglücksfall gewesen, eine Tragödie, und ich griff zum Lexikon und schaute das Wort nach, da ich zwar zu wissen meinte, was es bedeutete, mir aber nicht sicher war.

Tragödie, die; –, -n 1.a) dramatische Gattung, in der Tragik (2) dargestellt wird; b) Tragödie (1 a) als einzelnes Drama. 2. tragisches Geschehen, schrecklicher Vorfall.

Schrecklicher Vorfall. Es war ein Ereignis, das sich im Schatten zugetragen hatte, im hintersten Winkel eines alten Gebäudes, ein Ereignis, für das niemand verantwortlich gemacht werden konnte, denn am Schattenort waren die üblichen Gesetze außer Kraft gesetzt. Das jedenfalls redete ich mir im Laufe der nächsten Monate ein und glaubte es meist auch, ebenso wie ich glaubte, dass es ein bloßer Zufall war, dass ich Moira Kennedy begegnete. Anfangs wusste ich nicht, wer sie war, obwohl es mir bald in einem merkwürdigen Anfall von Abscheu und Erregung klar wurde, und ich ließ mich auf etwas ein, von dem ich wusste, dass es absurd und unschicklich war. Ich ließ mich vielleicht aus einer gewissen Perversität darauf ein oder weil es bereits angefangen hatte, weil der Ball ins Rollen gekommen war und sowieso nichts verhindert werden konnte. Wie bei der Erscheinung des Engels oder im Augenblick des Entsetzens vor dem Hahnenschrei offenbarte ein Lichtflackern, dass wir doch vor allem Geschöpfe des Zufalls sind, weshalb der Teufel, wenn er seinem Werk nachgeht, es stets wie einen Zufall aussehen lässt, jedenfalls zu Anfang, um uns dann tiefer in seine Falle zu locken, sanft protestierend, falls überhaupt, doch willige Komplizen bis zum Schluss.

Ehe wir nach Whitland House zogen, wohnten wir in der Cockburn Street in einem hohen, altmodischen Fischerhaus, das mein Vater vor unserem Umzug nach Coldhaven gekauft hatte. Damals war er noch ein ahnungsloser Zugezogener mit auffälligem Akzent und einer um wenige Jahre jüngeren amerikanischen Frau; außerdem war er ein finanziell unabhängiger, erfolgreicher Fotograf, der sich einem neuen Thema zuwandte und sich deshalb für die Landschaft und das Meer rund um Coldhaven entschied. Das machte ihn bei den Ortsansässigen nicht gerade beliebt, doch glaube ich kaum, dass mein Vater großen Wert darauf legte. Es war das Licht, das ihn lockte: das Wetter, die See, der Himmel, die im Wasser reflektierte Helligkeit. In dieser Gegend erzählt man sich Geschichten von Heringsfischern, die einen Schwarm aufspürten, indem sie seinem Widerschein in den Wolken folgten – und ich bin mir sicher, dass die Geschichten stimmen, denn in der obersten Schicht dieses Doppelspiegels waren die riesigen Fischmengen meilenweit zu sehen, lebendig, glitzernd, stets in Bewegung. Es gab auch noch anderes Licht: das Silber und fahle Gold der Nachtboote, die zu den Fanggründen hinausfuhren; das Rot und Grün der Warnlichter im Hafen von Coldhaven; das gespenstische Aufblitzen des Leuchtturms weit draußen auf der Landzunge. An solchen Eindrücken lag meinem Vater mehr als an den Menschen, denn für sein Wohlbefinden war ihm die Atmosphäre wichtiger als das Wohlwollen seiner Nachbarn. Ich nehme zwar an, dass er es vorgezogen hätte, ein gutes Verhältnis zu den Bewohnern des Städtchens zu haben, nur wäre ihm das keine Mühe wert gewesen. Er und meine Mutter entschieden sich für das Haus in der Cockburn Street, weil es ihren Bedürfnissen genügte: Es war nicht allzu auffällig oder ungewöhnlich, und es schien ihnen die stille Abgeschiedenheit zu bieten, die sie suchten. Alles in allem waren sie letztlich doch nur zwei ruhige, zerstreute, ein wenig vom Leben gebeutelte Seelen, die ihre Arbeit machen wollten. Da ich nun einmal weiß, was ich weiß, muss ich annehmen, dass ihr Motto darauf hinauslief, zu leben und leben zu lassen, die eigene Meinung für sich zu behalten, dem eingeschlagenen Weg zu folgen und sich mit einem geradlinigen, beinahe asketischen Leben abzufinden, in dem sie sich ihrer jeweiligen Kunst widmen konnten, aber auch der subtilen Fähigkeit, all das zu vergessen, was sie hier vergessen wollten. Lange Zeit wusste ich nichts über ihre Vergangenheit, doch ahnte ich, dass die Welt ihnen ein Leid angetan hatte, bevor sie nach Coldhaven kamen, und dies auf eine Weise, die ich nicht einmal im Ansatz verstand. Eigentlich wollten sie nur dem Kaiser geben, was des Kaisers war, und ansonsten in Ruhe gelassen werden, doch das Glück ließ sie im Stich. Keiner von ihnen sollte je herausfinden, was sie getan hatten, um Coldhaven gegen sich aufzubringen, aber anscheinend war es nur eine Frage der Zeit, bis eine kleine Schar Ortsansässiger beschloss, meiner Familie das Leben möglichst schwer zu machen. Manche gingen offen gegen uns vor, andere versteckt, doch wussten sie genau, was sie taten. Damit will ich nicht behaupten, dass sie gemeinsam planten und sich absprachen. Nein, sie verband nur ein unbestimmtes Empfinden, das gemeinsame Wissen, ein mögliches Opfer gefunden zu haben. Es waren nicht viele, nur ein paar übellaunige Mitglieder einiger weniger Familien – die Kings, die Gillespies, die Hutchinsons – sowie deren Werkzeuge, darunter auch der stadtbekannte Säufer Peter Tone, der meine Mutter auf dem Gewissen hat. Ich will nicht behaupten, dass diese Leute gemeinsame Sache machten, da sie sich untereinander ebenso hassten, wie sie meine Eltern hassten, doch die geballte Kraft ihrer Bösartigkeit summierte sich schließlich zu weit mehr als nur einer Vielzahl kleinlicher Beleidigungen.

Der Fehler meiner Eltern bestand natürlich darin, dass sie waren, wie sie waren. Ich glaube, mein Vater hat das früh erkannt, nur fand er es...


Burnside, John
John Burnside (1955-2024), geboren in Schottland, zählt zu den profiliertesten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. Der Lyriker und Romancier wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Corine-Belletristikpreis des ZEIT-Verlags, dem Petrarca-Preis und dem Spycher-Literaturpreis. Mit »Lügen über meinen Vater« (2006), »Wie alle anderen« (2010), »Über Liebe und Magie – I put a spell on you« (2014) und »What light there is – Über die Schönheit des Moments« (2020) schrieb er mehrere Memoirs, die von Kritikern wie Lesern begeistert gefeiert wurden. Zuletzt erschien sein Erzählband »So etwas wie Glück: Geschichten über die Liebe«. 2023 wurde er mit dem renommierten David Cohen Prize für sein Lebenswerk ausgezeichnet. John Burnside verstarb am 29. Mai 2024 nach kurzer Krankheit im Alter von 69 Jahren.

Robben, Bernhard
Bernhard Robben, geboren 1955, ist seit 1992 als Übersetzer tätig. Er übertrug und überträgt u.a. die Werke von Ian McEwan, John Burnside, John Williams und Salman Rushdie ins Deutsche. 2003 wurde er mit dem Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW ausgezeichnet, 2013 mit dem Ledig-Rowohlt-Preis für sein Lebenswerk geehrt. Er lebt in Brunne, Brandenburg.



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