Burnside | Glister | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Burnside Glister

Roman
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-641-03419-1
Verlag: Knaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

ISBN: 978-3-641-03419-1
Verlag: Knaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Ein magisch geheimnisvolles Buch, das in abgründigen Bildern eine Parabel unserer Zeit erzählt.' Hamburger Abendblatt
In einer trostlosen englischen Kleinstadt verschwinden immer wieder Jungen spurlos. Die Polizei behauptet, dass es sich bei den Kindern nur um verantwortungslose Ausreißer handelt. Nur der Polizist Morrison hat etwas Schreckliches gesehen - doch er schweigt. Aber der 15-jährige Leonhard will unbedingt herausfinden, was mit seinen Freunden passiert ist, und macht sich auf die Suche nach der Wahrheit ...

John Burnside (1955-2024), geboren in Schottland, zählt zu den profiliertesten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. Der Lyriker und Romancier wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Corine-Belletristikpreis des ZEIT-Verlags, dem Petrarca-Preis und dem Spycher-Literaturpreis. Mit 'Lügen über meinen Vater' (2006), 'Wie alle anderen' (2010), 'Über Liebe und Magie - I put a spell on you' (2014) und 'What light there is - Über die Schönheit des Moments' (2020) schrieb er mehrere Memoirs, die von Kritikern wie Lesern begeistert gefeiert wurden. Zuletzt erschien sein Erzählband 'So etwas wie Glück: Geschichten über die Liebe'. 2023 wurde er mit dem renommierten David Cohen Prize für sein Lebenswerk ausgezeichnet. John Burnside verstarb am 29. Mai 2024 nach kurzer Krankheit im Alter von 69 Jahren.
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" (S. 191-192)

Alice Morrison in der Polizeidienststelle versucht, nicht zu träumen. Sie ist jetzt wach, hat aber gemerkt, dass dies kaum einen großen Unterschied bedeutet, da die Träume selbst dann wiederkehren, wenn sie den Kopf gesenkt hält, die Hände fest an die Wand gepresst, die Augen weit offen. Sie hat stets Angst vor dem gehabt, was jetzt geschieht, Angst davor, dass das Schlottern einmal nach einigen Stunden oder nach ein, zwei Tagen nicht mehr verschwinden, sondern bleiben würde, auf immer, ihr ständiger, wachsamer Begleiter. Jetzt wuchern ihr Gesichter aus dem Boden entgegen, grinsen sie aus der Wand an, tote, höhnische Gesichter, immer höhnisch und verzweifelt zugleich, grässliche, unbekannte Augen und Münder, die ihr entgegenflackern, wo sie sich auch hinwendet.

Noch schlimmer aber sind die Geräusche im Kopf - keine Stimmen, nie mehr nur Stimmen, nur das Geräusch von Möbeln, die verrückt werden, Tischbeine, die über den Boden schleifen, ein Topfdeckel, der scheppernd auf die Fliesen fällt, oder Klaviersaiten, die im Dunkeln nachschwingen, als würde jemand am Instrument ruckeln, immer und immer wieder. Oder sie hört Glocken in der Ferne, eigentlich ein friedliches Geräusch, ein schönes Geräusch, wenn nur die Glocken draußen in der Welt und nicht allein in ihrem Kopf wären. Dann, in den überraschenden, verführerischen Momenten der Stille plötzlich die Laute eines Kindes, stets dasselbe Kind, das irgendwo in einer Ecke verborgen kauert oder kniet, weint und vor sich hin flüstert, Junge oder Mädchen, das weiß sie nicht, und sie kann auch nicht verstehen, was das Kind sagt. Sie kann bloß dieses grauenvolle Flüstern hören. Sie weiß, dass Morrison sich im Haus aufhält. Irgendwo unten.

Er lässt sie in Ruhe, da es Zeiten gab, in denen sie ihn bat, er möge sie allein lassen, und jetzt lässt er sie allein, überlässt sie sich selbst, und sie hat die Einsamkeit, die sie immer wollte. Nur will sie sie jetzt nicht mehr. Sie hält sie nicht aus. Sie hat sich eingeredet, es würde nicht lange dauern, aber dies ist die Hölle, und sie hat nichts getan, womit sie die Hölle verdient hätte. Smith, Jenner und die Leute von Outertown, die hätten sie eher verdient. Morrison hätte sie verdient. Alice weiß nicht, was er getan hat, weiß nur, er hat irgendwas getan. Keiner, der für Smith arbeitet, ist unschuldig. Doch landen niemals die Schuldigen in der Hölle.

In ihr landen Leute wie die O’Donnells, die nichts Schlimmes getan haben. Das ist ja das Vertrackte an der Hölle, über das im Religionsunterricht nie geredet wird, über die Tatsache nämlich, dass in der Hölle nicht die Schuldigen, sondern die Unschuldigen schmoren. Das erst macht sie zur Hölle. Irgendein Zufallsprinzip durchzieht die Welt, wählt grundlos Leute aus und steckt sie in die Hölle. Kummer wegen eines Kindes, grässliche Krankheiten. Geräusche und Gesichter aus dem Nichts, unterbrochen von Augenblicken entsetzlicher Klarheit, gerade lang genug, um zu begreifen, wo man ist. Und du bist in der Hölle.

Hölle, Hölle, Hölle, Hölle, Hölle. Der Lärm in ihrem Kopf wächst, und in ihren Armen und Beinen spannt sich etwas an - ein Krampf, bloß viel schlimmer -, und sie spürt, dass ihr Körper aufplatzen will, dass Sehnen und Muskeln zerreißen, die Knochen brechen wollen. Sie hat immer schon gewusst, dass es einmal dazu kommt, lange schon stand sie auf der Schwelle, und jetzt ist es soweit. Morrison ist unten, macht sich einen Tee oder liest die Zeitung, beachtet sie nicht.

Sie will ihn nicht, aber sie will irgendwas. Sie will Hilfe.Vielleicht ein Medikament. Es könnte so einfach sein. Man könnte kommen, ihr eine kleine Spritze verpassen, und die Hölle wäre vorbei. Sie bräuchte dafür nur einen Anruf zu machen. Aber sie kann nicht. Sie kann ihn nicht bitten. Ihr ganzer Körper will schreien vor lauter Qual, ihr Verstand will um etwas bitten, das sie befreit, nur bringt sie keinen Laut hervor. Sie ist in der Hölle, und die Hölle dauert ewig."


Burnside, John
John Burnside (1955-2024), geboren in Schottland, zählt zu den profiliertesten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. Der Lyriker und Romancier wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Corine-Belletristikpreis des ZEIT-Verlags, dem Petrarca-Preis und dem Spycher-Literaturpreis. Mit »Lügen über meinen Vater« (2006), »Wie alle anderen« (2010), »Über Liebe und Magie – I put a spell on you« (2014) und »What light there is – Über die Schönheit des Moments« (2020) schrieb er mehrere Memoirs, die von Kritikern wie Lesern begeistert gefeiert wurden. Zuletzt erschien sein Erzählband »So etwas wie Glück: Geschichten über die Liebe«. 2023 wurde er mit dem renommierten David Cohen Prize für sein Lebenswerk ausgezeichnet. John Burnside verstarb am 29. Mai 2024 nach kurzer Krankheit im Alter von 69 Jahren.

Robben, Bernhard
Bernhard Robben, geboren 1955, ist seit 1992 als Übersetzer tätig. Er übertrug und überträgt u.a. die Werke von Ian McEwan, John Burnside, John Williams und Salman Rushdie ins Deutsche. 2003 wurde er mit dem Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW ausgezeichnet, 2013 mit dem Ledig-Rowohlt-Preis für sein Lebenswerk geehrt. Er lebt in Brunne, Brandenburg.



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