Roman
E-Book, Deutsch, 168 Seiten
ISBN: 978-3-942223-83-6
Verlag: Größenwahn Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Monika Carbe lässt die 1990er Jahre wieder aufleben, eine Zeit, als die Grenzen der bekannten Weltordnung neu gezogen wurden und Rechtsradikale sich verstärkt zu Wort meldeten. Ihr Roman ist eine Mahnung an die Gesellschaft und gleichzeitig ein Lobgesang auf das multikulturelle Frankfurt, das auf seinem Haupt-friedhof die eigene Vergangenheit bewahrt, hegt, pflegt und neu bepflanzt.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
ECKENHEIMER LANDSTRASSE
Efeu
Brennnessel
Himmelsschlüssel
Cannabis
Oregano
Distel
Flohkraut
Knöterich
Knallerbsen
GRÜNANLAGEN
Anemonen
Kastanien
Teepflanze
Weizen
Kiefer
Yucca-Palme
Zwiebel
Weihnachtsstern
MAINUFER
Schneeglöckchen
Bambus
Traubenhyazinthen
Löwenzahn
Flieder
Jasmin
Nelken
Ginkgo
Biographisches
ECKENHEIMER LANDSTRASSE
EFEU
Das Lächeln einer fülligen Roma-Matrone, vor deren Foto auch jetzt im Sommer ein Grablicht flackerte, verlockte Alice ebenfalls zu einem Lächeln, wenn auch wehmütig, da die freundliche Abgebildete schon lange nicht mehr unter den Lebenden weilte. In ihrer grünen Kittelschürze ging Alice an der Gräbern entlang und warf einen Blick auf Namen, Fotos und Pflanzen. Rosen blühten zwischen Efeu, verspäteten Stiefmütterchen und Goldlack. Der Verkehrslärm der Eckenheimer Landstraße hinter der Friedhofsmauer war unüberhörbar, Bremsen quietschten, und ab und zu bimmelten Straßenbahnen. Üppig geschmückt waren die Grabstätten der Roma-Familien; ihre Einfriedung bestand meist aus Marmor, und manchmal steckten auch künstliche Rosen an den mit Messing umrahmten Bildern. Was für ein Unterschied zu den schlichten Kreuzen und Inschriften auf den Steinplatten der anderen Ruhestätten! Alice war ohne Vater aufgewachsen und hatte ihn nie vermisst. Geboren ein paar Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, war sie als von der Mutter und den Großeltern geliebtes und verwöhntes Kind groß geworden. Ihr Vater war im April 1945 gefallen, hieß es – und ihre Mutter, die sinnenfreudige Johanna, hatte ihn immer idealisiert und ihrem Kind als Vorbild dargestellt. Als Kind in thüringischen Meiningen, hatte Alice alles geglaubt, was man ihr erzählte. Während sie aber jetzt, mit Ende 40, an den Gräbern der einst verfolgten Sinti und Roma vorüberging, wurde ihr wieder einmal bewusst, an was für entsetzlichen Verbrechen ihr Vater beteiligt war. Sie hatte sich mit der Vergangenheit beschäftigt, den Papieren ihrer Familie gekramt und so davon erfahren. Eigentlich arbeitete Alice lieber im Gewann B oder J, dort, wo man wie abgeschnitten war von der Gegenwart, beschützt vom Grün der Eichen, Buchen und Pappeln, zwischen steinernen Kreuzen, Putten und Statuen. Dort herrschte Stille, wenn die Kollegen nicht mit ihren Pritschenwagen vorbeiratterten, die Laubsäge ansetzten oder die Wege mit ihren automatischen Besen säuberten. Hier war Alice ganz mit sich selbst eins und konnte ihren Erinnerungen nachhängen. Mit ihrem kastanienbraunen Haar wirkte sie jünger; sie war schlank, hatte eine gute Figur, legte jedoch kaum Wert auf ihr Äußeres. Seit ein paar Jahren werkelte und jätete sie auf dem Hauptfriedhof, nachdem sie in ihren früheren Stellen gescheitert war. Sie wollte nicht mehr darüber nachdenken, wie es dazu gekommen war, denn die Umstände, unter denen ihr immer wieder von heute auf morgen der Stuhl vor die Tür gesetzt worden war, ließen nur trübsinnige Gedanken aufkommen. Die Erinnerung daran tat zu weh. Lieber gab sie sich zwischen Buchsbaumhecken und steinernen Zeugen der Vergangenheit anderen Erinnerungen hin, an ihre Kindheit, in der alles seinen Sinn gehabt hatte, als bestünde die Welt aus einer riesigen Wiese von Himmelschlüsseln zwischen Linden, Kirsch- und Apfelbäumen und den Tabakpflanzen, die ihr Großvater angebaut hatte. Damals in Meiningen, am Steinernen Berg. Dann der Bruch, als sie, knapp sieben, mit der unternehmungslustigen Johanna die Großeltern verließ und über West-Berlin nach Hannover flog. Es war eine Flucht erster Klasse aus der DDR, und sie landeten weich, hatte Johannas Bruder doch auf einem Bauernhof in Ostwestfalen für ihre Unterkunft gesorgt. Auch dort hätte sich alles sinnvoll zusammen gefügt, wäre nicht ihre extrem schwierige Pubertät gekommen. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. Auch daran dachte sie ungern, an ihre Zeit als junges Mädchen, als sie sich zum ersten Mal – unglücklich – verliebte und in die Nervenklinik kam, dort in einen langen Schlaf versetzt wurde und danach viel Zeit brauchte, um wieder zu sich zu kommen. Das Abitur schaffte sie trotzdem und lernte dann im Studium in Marburg an der Lahn ein neues Leben kennen, das so gar keine Ähnlichkeit mehr mit den strengen Konventionen der westfälischen Kleinstadt hatte, in der sie aufs Gymnasium gegangen war. Literaturwissenschaften studierte sie, lernte Althochdeutsch und Mittelhochdeutsch, schrieb Seminararbeiten über Heinrich Heine, Gottfried Benn und Heinrich von Kleist, verliebte sich und wurde wieder geliebt, und alles funktionierte hervorragend bis zur Trennung von ihrem Freund und der Stadt, in der sie alle denkbaren Freiheiten gekostet hatte. Anfang der 1970er Jahre kam sie in die Großstadt, nach Frankfurt am Main. Die Regenwolken hatten sich verzogen, und der Erdgeruch wurde vom Duft der Rosen und Jasminbüsche überlagert. An diesem schwülen Sommertag kletterte das Thermometer fast bis dreißig Grad, und die alten Damen, die wie immer am frühen Nachmittag unterwegs waren, stöhnten über die Hitze. In der einen Hand trugen sie Beutel, aus denen die Pflanzen der Saison hervorquollen, mit der anderen pressten sie ihre Handtaschen fest gegen die Brust, da man nirgendwo vor Überfällen sicher sein konnte. Gemessenen Schrittes gingen die Frauen an ihr vorbei und strebten, ganz in ihre Gedanken versunken, ihrem Ziel zu, dem Grab ihres verstorbenen Ehemanns oder eines Verwandten. Grußlos schob Alice ihre Schubkarre an ihnen vorbei; für die Trauernden gehörte sie zum Inventar des Friedhofs, und da wurde weder ein »Hallo!« noch ein kurzer Kommentar über die Hitze erwartet. Alice hatte an der Mauer hinter den Patriziergräbern zu tun; Unkraut wuchs dort aus den Mauervorsprüngen und überwucherte die Grabstätten. Mit Maschinen war diesem Gestrüpp nicht beizukommen, hatte ihr der Meister erklärt, und ob sie vielleicht Hand anlegen könnte, ohne die wertvollen Sträucher zu verletzen. Alice nickte. Die Hitze machte ihr wenig aus. Unter ihrem Kittel trug sie Jeans und ein dünnes T-Shirt, ihre nackten Füße steckten in Sandalen. Am liebsten wäre sie barfuß gegangen, aber das ließen die Vorschriften nicht zu. Von morgens sieben bis halb vier Uhr nachmittags jätete, harkte und werkelte sie, mal in den alten Gewannen, mal weit draußen, im neuen Teil, hinter dem Wirtschaftshof, dort, wo die Gräber in genau abgezirkelten, übersichtlichen Reihen angelegt waren. Alice scheute weder Regenwetter, Blitz noch Donner. Dann zog sie ihr wasserdichtes Cape und holte sich noch nicht mal einen Schnupfen. Bevor sie ihre Leiter an die Mauer lehnte, blieb sie vor Schopenhauers Grab stehen. Vor einigen Jahren hatte man das Geviert erweitert, damit Arthur Hübscher ein Platz an seiner Seite vergönnt war. Die Hecke war wie immer frisch geschnitten, der wuchernde Efeu ließ die beiden Grabplatten mit der schlichten Aufschrift der Namen frei, und wieder lag ein Strauß frischer Nelken auf Schopenhauers Grab. Viel Prominenz war im Gewann A beerdigt, Oberbürgermeister und Stadtverordnete, Pfarrer und Doktoren, Wohltäter und Finanzgenies – klingende Namen, die sich heute noch im Frankfurter Telefonbuch fanden. Die Zeiten, in denen Alice sich ins Grab wünschte, waren vorbei, auch wenn sie manches Mal, wenn sie in ihrer Dachkammer im Westend saß, überlegte, ob sie ihr Fahrrad nehmen und in der Abenddämmerung durch den Rothschildpark mit seiner altertümelnden Ruine zur Alten Oper radeln sollte, dann über die Fressgass’ an den eleganten Flaneuren vorbei bis zur Hauptwache. Auf der Zeil angekommen, würde sie in die Neue Kräme einbiegen, das Rad durch das Gedränge an Bettlern und Obdachlosen vorbeischieben, die Berliner Straße überqueren, zwischen den Cafés am Paulsplatz hindurch zum Römer radeln und einen letzten Blick auf die Justitia werfen, die auf dem Brunnen thronte. Zwischen Historischem Museum und Haus Wertheim würde sie zum Main fahren, das Rad die Stufen zum Eisernen Steg emportragen, und, am Schaumainkai angekommen, ihren Weg zum Goetheturm finden. Der Goetheturm, knapp über vierzig Meter hoch, am Rande des Stadtwalds gelegen, ganz aus Holz gebaut, erinnerte Alice mit seinen Verstrebungen an fernöstliche Pagoden, und hätte sie erst einmal die zahllosen Stufen erklommen und die Aussichtsplattform mit ihrer niedrigen Brüstung erreicht, wäre es ihr ein Leichtes, sich nach einem Blick über die Stadt in das Grün der Bäume zu stürzen. Ein todsicherer Ort für Selbstmörder. Wer diesen Weg wählte, hatte keine Sorgen mehr. Zugegeben, mit dieser Möglichkeit liebäugelte sie. Aber was vor Jahren bitterer Ernst war, war längst Gedankenspiel geworden. Sie stellte die Leiter an die Mauer, kletterte hinauf, riss wucherndes Grün heraus, Vogelmiere und Löwenzahn, und warf es auf den Boden. Eigentlich war sie froh über diese einfachen Tätigkeiten. Nur keine Verantwortung, sagte sie sich, brav auf Anweisung arbeiten und ruhig schlafen. Mehr wollte sie nicht. Wieder wanderten ihre Gedanken zurück. Nach fast zwei Jahren Arbeitslosigkeit, in denen sie sich mühsam über Wasser gehalten hatte, trat sie mit Ende zwanzig die erste Stelle an, die ihrer Ausbildung entsprach. Man erwartete viel von ihr, und sie bemühte sich, diesen Erwartungen gerecht zu werden. Vor lauter Übereifer wurde sie krank – und ihr wurde gekündigt. Inzwischen kannte sie das Arbeitsleben, hatte in den Büroalltag...