E-Book, Deutsch, Band 2, 288 Seiten
Reihe: Ermittlerin Katalina Cavic
Chaplet Doppelte Schuld
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-95530-213-9
Verlag: Edel Elements - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, Band 2, 288 Seiten
Reihe: Ermittlerin Katalina Cavic
ISBN: 978-3-95530-213-9
Verlag: Edel Elements - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Anne Chaplet ist ein Pseudonym von Cora Stephan. Unter diesem Pseudonym veröffentlich die Autorin Kriminalromane.
Autoren/Hrsg.
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Vol de Nuit
1
Kühl war es geworden in den letzten Tagen. Katalina blinzelte in die altersmilde Morgensonne und dachte an Herbst und Abschied. Es wurde Zeit, Blanckenburg zu verlassen. Höchste Zeit.
Sie ließ Zeus von der Leine und folgte ihm in den Schlosspark. Der Hund schnürte im Zickzack über den Weg, die Nase hier und dort im Gestrüpp am Wegesrand, über dem sich die Zweige der Wildrosen unter der Last dunkelroter Hagebutten bogen. Es roch nach feuchtem Waldboden unter dem Blätterdach der verschorften und zerborstenen Baumveteranen. Das würde sie am meisten vermissen: die Spaziergänge morgens und manchmal noch spätabends durch den Park.
Doch sie war nicht wegen der Naturschönheiten geblieben. So lange. So viel länger als üblich.
Zu lange.
Der Weg führte immer tiefer hinein in ein ungeordnetes Stilleben von Baumriesen. Ein Schwarm von Herbstfliegen fiel torkelnd über sie her und drehte wieder ab. Katalina ging langsamer, um den Moment auszukosten: Hinter der Wegbiegung traten die zottigen Giganten unverhofft zurück und der Blick öffnete sich auf eine weite Wiesenfläche, hinter der es in die Tiefe ging. Schloss Blanckenburg und sein Park lagen auf einem Felsen hoch über der Stadt, von hier aus überblickte man die Landschaft bis zum Horizont. Und am Horizont hockte der Harz mit dem sagenumwobenen Brocken, auf dem sich die Hexen zur Walpurgisnacht trafen.
Zeus, der von einer verlockenden Fährte im Park aufgehalten worden war, stürmte heran, an ihr vorbei und hinaus auf das lichte Plateau. Katalina folgte langsamer, setzte die Füße fast liebevoll in die Rasendaunen. Dieser Platz war wie geschaffen für Brockengeister und ihre Tänze. Sie bekreuzigte sich gegen den Zauber dieser ketzerischen Vorstellung. Schließlich hatte es hier nicht immer einfach nur eine ebene Rasenfläche gegeben. Bis kurz nach dem Krieg erhob sich an diesem Ort eine Kirche, die Schlosskirche von Blanckenburg. Jetzt lagen deren zertrümmerte Überreste unter dem Rasen, meterhoch aufgeschichtet über der Krypta und den Sarkophagen mit den Toten.
Katalina zögerte. Noch immer schreckte sie die Vorstellung, über Gräber zu gehen; insbesondere über diese uralte Grabkammer. Sie machte einen Schritt zur Seite. Die Krypta gab es noch und es gab auch einen Weg hinein – man musste ihn nur kennen.
Zeus hielt sich jetzt neben ihr, während sie weiterging. Als im Sommer 1945 die Kirche gesprengt und der Boden planiert wurde, hatte man ein paar uralte Steine vom ehemaligen Friedhof stehengelassen. Wenigstens sie erinnerten noch an eine Vergangenheit, die zurückreichte bis ins 12. Jahrhundert. Fast achthundert Jahre. Unvorstellbar.
Katalina hatte sich angewöhnt, die Worte ihrer Großmutter zu murmeln, wenn sie sich den verwitterten Grabsteinen näherte. Großmutter pflegte beim Anblick eines Grabes stets höheren Schutz anzurufen. Wenn sie noch gelebt hätte, als Jugoslawien auseinanderbrach, beim gegenseitigen Schlachten und Morden, beim Verscharren der Leichen in Massengräbern – wenn sie das noch erlebt hätte, wäre viel zu tun gewesen für die jeweils zuständigen Heiligen.
Sie blieb stehen. Es war nicht gut, an einem Ort zu leben, an dem man auf Schritt und Tritt Vergangenheit atmete. Da mochten sie sagen, was sie wollten: dass man nicht verdrängen dürfe, dass man sich erinnern müsse. Aber sie empfand das anders. Es tat wohl, zu vergessen. Man musste vergessen. Sie wollte vergessen.
Ein weiterer Grund, zu gehen.
Katalina fuhr sich durchs dichte dunkle Haar und setzte sich wieder in Bewegung. Früher war sie stets schon fort, bevor es auch nur anfing, nach Heimat zu riechen, oder sie einen Hauch jener unsichtbaren Netze spürte, die umgarnen, verführen, festhalten. Katalina Cavic hieß: immer auf der Flucht. Seit sie 1982 das erste Mal Glogovac verlassen hatte, ehemals Schutzberg, später eine jugoslawische Kleinstadt, heute bosnisch. Als Tierärztin hatte sie sich angewöhnt, ihre Wirkungsstätte eher früher als später zu wechseln. Umso verdächtiger, dass sie jetzt schon seit fast drei Jahren Beichtmutter aller Haustierbesitzer im romantischen Blanckenburg im Harz war.
Auf den Spitzen der Grashalme wiegten sich glitzernde Tautropfen. Sie sah in die bernsteintreuen Hundeaugen von Zeus und lächelte zurück. Dann hob sie den Blick. Ein Rebhuhn trippelte über die Wiese und stieg knatternd auf. Zeus muckte, blieb aber sitzen. Von der Stadt her klang das Achtuhrläuten von St. Bartholomäus herauf. Vor ihr lag die Wiese im Schatten der Bäume, rechts die Grabsteine, kein Stein vom Morgenlicht berührt. Und daneben...
Jetzt ist es soweit, dachte sie. Du hast Visionen.
Die langen weißen Haare, die eine weiche Brise packte und auffächerte. Das weiße Gewand, eine Tunika über einer Hose. Die feinen Nebelschwaden, die aus der feuchten Wiese wie Weihrauchschleier aufstiegen und die Gestalt umhüllten, die breitbeinig dastand, das eine Bein angewinkelt, das andere gestreckt. Der linke Arm war auf das Knie des angewinkelten Beins gestützt, der rechte streckte sich, mit der Handfläche voraus, der aufgehenden Sonne entgegen.
Zeus hob das Hinterteil und bewegte die Rute, langsam, bedächtig. Katalina verstand seine Sprache, sie beide hatten schnell gelernt, seit sie ihn eines Abends als Hundebaby in einem Karton vor ihrer Haustür gefunden hatte. Er drückte sich so präzise aus wie kein anderer Hund.
Ich bin interessiert und beunruhigt, signalisierte die Rute. Da ist etwas ... es ist fremd ... man sollte es untersuchen ... Seine Schnauze hob sich, die Nasenspitze bewegte sich. Aber es könnte auch – gefährlich sein ... Er senkte die Schnauze wieder.
Dann sah auch sie es, das, was der weißen Gestalt gegenübersaß, aufrecht, aufmerksam und reglos.
Der Schakal. Schwarz, mit spitzer Schnauze und spitzen Ohren. Anubis, Sohn des Osiris, Gott der Toten, der die Fürbitte für sie entgegennimmt. „Heilige Jungfrau von Medjogorje“, flüsterte Katalina und fügte vorsichtshalber noch Sveti Ante hinzu, den heiligen Antonius von Padua, einen Mann für alle Fälle. In ebendieser Sekunde berührten die Strahlen der Morgensonne den Scheitel des größten der Grabsteine und bekränzten Anubis.
Die weiße Gestalt stand noch im Schatten. Wie eine Skulptur. Ein Götzenbild. Eine altägyptische Hohepriesterin. Wie etwas Uraltes, aufgestiegen aus der Krypta unter ihren Füßen. Und dann drehte sie sich, wandte Katalina langsam das Gesicht zu, ein Gesicht mit dunklen Tälern und scharfen Kanten unter den weißen Haaren, darin Spuren von Schönheit und Ebenmaß. Ein Gesicht, dessen Augen geschlossen zu sein schienen. Katalina hielt die Luft an.
Im nächsten Moment war die Vision vorbei. Anubis verwandelte sich in einen schwarzen Schäferhund, der sich niedersinken ließ und den Kopf auf die Vorderpfoten legte. Er trug ein weißgelbes Ledergeschirr, das Katalina vertraut war. Ein Hund, der so etwas trug, war etwas Besonderes. Anubis, der Gott der Toten, begegnete dem Reich der Lebenden als Blindenhund. Und die Gestalt, die sich in einer fließenden Bewegung wieder von Katalina abgewandt hatte, konnte nicht sehen.
Sie trat ein paar Schritte zurück. Selbst der sonst so neugierige Zeus schien die Magie der Szene zu spüren und folgte ihr bereitwillig, fort von der Wiese, die jetzt im frischen Sonnenlicht schimmerte. Katalina fröstelte. Was für ein starker Zauber. Die weiße Frau übte ihren Kult ausgerechnet über der Stelle aus, unter der die Krypta lag. Und der schwarze Hund hatte direkt vor dem größten und ältesten der Grabsteine gesessen. Natürlich ein Zufall, alles andere wäre Aberglauben.
Natürlich, tönte ein spöttisches Echo in ihrem Inneren.
Auf dem Rückweg gingen sie am Schloss vorbei. Die Sonne stand inzwischen hoch genug, um hier und da das Blätterdach der alten Bäume zu durchdringen, das sie so eifersüchtig zusammenhielten. Zeus trabte ebenso entschlossen nach Hause, wie er vorhin nach dem allmorgendlichen Spaziergang verlangt hatte. Nur Katalina zögerte, sie kämpfte mit dem Gefühl, auf Watte zu gehen. Oder auf Scherben. Die weiße Gestalt beunruhigte sie. Sie kam ihr vor wie ein Bote mit schlechten Nachrichten.
Das Zeichen an der Wand.
Zeus hob das Bein am großen Wegstein vor dem Traiteurshaus, das war ein feststehendes Ritual. Das Traiteurshaus lag direkt an der Schlossmauer, vor dem Tor zum Hof; hier wohnte einst der Koch, der, wenn man nach Pracht und Größe des Hauses ging, etwas dargestellt haben musste im gräflichen Haushalt. Katalina schaute hoch zu den Fenstern im ersten Stock und bildete sich ein, das weiße Licht des Computerbildschirms zu sehen. Sie klingelte nicht. Früher wäre Moritz längst heruntergekommen, um Zeus und sie beim Morgenspaziergang zu begleiten. Früher. Aber seit Wochen schon saß er von morgens bis abends vor dem Computer und forschte in den Weiten des Netzes nach seiner seit Jahrzehnten verschollenen Mutter. Als ob ein Mann in den besten Jahren nicht auch noch anderes im Kopf haben sollte.
Mich, zum Beispiel, dachte sie. Aber vielleicht hatte er längst genug von der Beziehung zu einer Tierärztin mit Neigung zu Schwermut?
Zeit zu gehen. Neue Stadt, neues Glück. Sie war schon viel zu lange hier und auch noch aus dem falschen Grund: ein Mann.
Katalina folgte Zeus durch das große Tor in den Schlosshof. Neben Bergen von Sand und Kies blitzte die neue orangefarbene Mischmaschine. Der rechte Flügel des hufeisenförmig angelegten Barockbaus, der Gartentrakt, leuchtete frisch verputzt in warmen...




